| # taz.de -- Literatur und Zensur in Kuba: Anspruch und Wirklichkeit | |
| > In seinem Band „Wölfe in der Nacht“ beschreibt Ángel Santiesteban das | |
| > Verschwinden der Menschlichkeit in einem deformierten System. | |
| Bild: Regimeunterstützer bedrängen die Frauen, deren Angehörige als Dissiden… | |
| „Ich weiß selber, dass ich keine Werte mehr habe, nur so habe ich | |
| überlebt“, gesteht ein Schriftsteller in der Erzählung „Das Lächeln in d… | |
| Leere“ von Ángel Santiesteban. Darin entflieht die Romanfigur dem | |
| Manuskript des Autors, nachdem eine Veröffentlichung abgelehnt wurde. Mit | |
| bitterem, jedoch verhaltenem Humor verhandelt der kubanische Schriftsteller | |
| Wut und Ohnmacht gegenüber der staatlichen Zensur. | |
| Seit 2007 darf der mehrfach ausgezeichnete Autor in seinem Land selbst | |
| nicht mehr veröffentlichen. Spätestens mit dem Erscheinen seines | |
| unliebsamen Blogs „Los hijos que nadie quiso“ (Die Kinder, die niemand | |
| wollte) war der Regimekritiker als Schriftsteller beim kubanischen Staat in | |
| Ungnade gefallen. 2013 wurde Santiesteban auf der Grundlage konstruierter | |
| Beschuldigungen zu fünf Jahren Haft verurteilt. Nach eineinhalb Jahren kam | |
| er vorläufig frei. | |
| Nun ist sein Band „Wölfe in der Nacht“ in deutscher Übersetzung erschienen | |
| und versammelt 16 Geschichten, von denen keine ein gutes Ende nimmt. Einige | |
| der Erzählungen wurden bisher auch im spanischen Original nicht | |
| veröffentlicht, wie beispielsweise „Mandela, sie kommen dich holen“. Darin | |
| schrieb Santiesteban 2013 während seiner Haft über einen politischen | |
| Gefangenen im Hungerstreik. | |
| Dessen Aufrichtigkeit und Standhaftigkeit machen den Mitgefangenen Hoffnung | |
| im Kampf gegen die sadistischen Wärter. Von einem der Häftlinge wird er | |
| deshalb Mandela getauft – von demselben, der ihm später im Auftrag der | |
| Wachen die Klinge in die Brust rammen wird. „ ‚Und der Kampf?‘, frage ich. | |
| ‚Ich hatte Hunger.‘ “ | |
| Auch die Geschichten „Der Mond, ein Toter und ein Stück Brot“, „Die Hün… | |
| oder „Die Sau“ sprechen in schmerzhafter Deutlichkeit von Repression und | |
| Gewalt, Erniedrigung und Prostitution im kubanischen Strafvollzug. | |
| Santiesteban beschreibt ein barbarisches System der Rechtlosigkeit und | |
| Korruption, das auch die unter den Häftlingen errichtete Ordnung | |
| durchzieht. Vergewaltigung wird zum zentralen Mittel männlicher | |
| Unterwerfung. | |
| Ebenfalls literarisches Thema in diesem ganz unheroischen Erzählband über | |
| die Geschichte und die Gegenwart Kubas sind die Erfahrungen | |
| Hunderttausender Soldaten im Angolakrieg 1975 bis 1991, die in der | |
| offiziellen kubanischen Geschichtsschreibung in dieser Form nicht | |
| auftauchen. | |
| So durchkämmt in „Frohe Weihnachten“ eine militärische Einheit auf der | |
| Suche nach einem entführten Kameraden die Hütten der Einheimischen. Bei dem | |
| Einsatz lässt der Erzähler eine Nähmaschine als Geschenk für seine Frau in | |
| Kuba mitgehen und erschießt später den Gefangenen, der ihm auf dem | |
| Rückmarsch das schwere Gerät getragen und sein Leben gerettet hat. | |
| „Die Vergessenen“ erzählt von einer Einheit kubanischer Soldaten, die mit | |
| dem Hubschrauber im angolanischen Feindesland abgesetzt wird. Ohne auf den | |
| Gegner gestoßen zu sein, versinken Hauptmann und Unteroffizier der Kompanie | |
| im Sumpf. Nach einer kräftezehrenden Odyssee kampieren die verbliebenen | |
| Soldaten wie Schiffbrüchige im Wald, und fallen ohne Hoffnung übereinander | |
| her. | |
| Die kubanische Intervention in Angola markiert für Santiesteban einen | |
| Wendepunkt in der Entwicklung des sozialistischen Inselstaates. Danach | |
| driften revolutionärer Anspruch und Wirklichkeit unaufhaltsam auseinander. | |
| Mit der wirtschaftlichen Krise ab 1990 – in Kuba euphemistisch | |
| „Sonderperiode“ genannt, verschwinden humanistische Werte im täglichen | |
| Überlebenskampf und gesellschaftlichen Miteinander. Ganz bewusst ruft | |
| Santiesteban in den drastischen Schilderungen halsbrecherischer Raubzügen | |
| in Zeiten der „Período especial“ animalisch anmutende Bilder von Kadavern, | |
| Exkrementen oder amputierten Gliedmaßen auf. | |
| In „Ölbild mit Frau und Blumen an einer Ecke in Luanda oder Guanabo Beach“ | |
| verschmelzen die Traumata des Angolakrieges mit der Erfahrung des | |
| moralischen Ausverkaufs im Heimatland. „Die Kellnerin kommt mit einem neuen | |
| Angebot: Mädchen in Landeswährung, frisch auf dem Markt, das ist die | |
| Sensation im Haus. | |
| Wenn du es lange nicht gemacht hast und nicht warten kannst, besorge ich | |
| dir eine Ecke irgendwo hier, in der Kabine nehmen sie fünf Dollar, aber | |
| wenn dir das zu teuer ist, geht es auch in der Toilette für die | |
| Angestellten, oder im Lager, für nur ein oder zwei Dollar.“ Der Erzähler, | |
| ein von Depressionen geplagter Kriegsveteran, driftet durch die Nacht. In | |
| einer Diskothek am Strand von Guanabo, in der für Geld alles zu haben ist, | |
| beobachtet er die Menschen. Er wird zu einem von ihnen. | |
| Santiestebans Erzählungen sind zweifellos keine leichte Kost. Er beschreibt | |
| die Menschen, aber bewertet sie nicht. Aus der Perspektive des Dissidenten | |
| zeichnet er das schonungslose Porträt einer Gesellschaft, die, in Schach | |
| gehalten von einem vollkommen rückwärtsgewandten autoritären Regime und im | |
| Überlebenskampf gefangen, alle Werte über Bord geworfen hat. | |
| Doch auch der kubanische Sozialismus muss sich am Ende daran messen lassen, | |
| wie das System mit seinen Kritikern und politischen Gegnern verfährt. „Oder | |
| ist die Geschichte eines Menschen nicht die Geschichte aller Menschen?“, | |
| wie der Autor Abilio Estévez im Nachwort zu Santiestebans Erzählungen | |
| bemerkt. | |
| 15 Dec 2017 | |
| ## AUTOREN | |
| Eva-Christina Meier | |
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| Kuba | |
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