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# taz.de -- Big Data bei den US-Wahlen: Das Silicon Valley weiß, wen du wählst
> Clinton und Trump durchleuchten ihre WählerInnen – mit Algorithmen. Das
> zerstöre die Demokratie, sagt die Mathematikerin Cathy O’Neil.
Bild: „Trump sucks“ twittern, Selfie mit Hillary facebooken – landet alle…
NEW YORK taz | Wer in den Vereinigten Staaten eine Wahl gewinnen will, muss
alles über die Wählerinnen und Wähler des Landes wissen: Wo sie wohnen,
welche Hautfarbe sie haben, ob sie gläubig sind, was sie arbeiten und
welche Jobs sie vorher hatten, welche Bücher sie lesen, welche Filme sie
schauen, ob sie für oder gegen Homoehe sind, Sojaschnitzel oder lieber
frittierte Hühner essen, dick oder dünn sind, Grundbesitz haben oder Miete
zahlen, eine Hypothek oder Löcher in den Zähnen oder Warzen am Arsch haben
… Einfach alles. Über jeden Einzelnen. Und das Gleiche über alle ihr
Freunde, Bekannten, Schulfreunde, Familienmitglieder und Arbeitskollegen.
Egal, ob Hillary Clinton oder Donald Trump: Beide Wahlkämpfer nutzen die
gesamte Macht der Datenberge. Sonst hätten sie keine Chance. Die Konsequenz
ist verheerend: Wer regieren will, muss grundlegende demokratische Ideale
zerstören, etwa die Idee der freien Bürger, die unbeobachtet eine geheime
Wahl treffen. Die Öffentlichkeit ist längst abgestumpft und daran gewöhnt.
Dieser Text ist geprägt von einem Gespräch mit der US-Autorin,
Mathematikerin und Aktivistin Cathy O’Neil in deren Wohnung in der Nähe der
Columbia University in New York. Sie hat eine reale Dystopie über die Macht
der Algorithmen geschrieben – jene in Programmen codierten mathematischen
Modelle, die unsere Facebook-Timeline und Google-Trefferliste bestücken,
unsere Kreditwürdigkeit berechnen oder, vor allem in den USA, die Polizei
in bestimmte Viertel dirigieren, Richtern beim Verhängen des Strafmaßes
beraten, Jobbewerber aussortieren oder Wechselwähler identifizieren.
„Weapons of Math Destruction“ heißt O’Neils Buch. Ein Wortspiel, das in …
deutschen Übersetzung etwas schwerfällig klingt, in etwa
„Mathevernichtungswaffen“ statt Massenvernichtungswaffen. FürO’Neil
verbessern diese Programme die Gesellschaft nicht. Sie verstärken
Rassismus, vertiefen soziale Probleme und höhlen die Demokratie aus. „Die
Leute denken, die Demokratie ist am Leben, nur weil zwei Parteien mit
unterschiedlichen Interessen zur Wahl stehen. Die Annahme ist ziemlicher
Bullshit“, sagt sie in ihrem Wohnzimmer etwas außer Atem – die U-Bahn war
verstopft, trotz Algorithmen, die den Verkehr optimieren sollen.
## Damit die Polizei dort häufiger patrouilliert
O’Neil hat ihre eigene Geschichte mit Algorithmen. Sie hat ihren Doktor in
Mathematik in Harvard gemacht, am MIT geforscht und dann für den Hedgefonds
D. E. Shaw Programme entwickelt, die an den Finanzmärkten
Investmententscheidungen treffen sollten. Den Kollaps der Märkte 2008 haben
weder ihre noch andere Programme erkannt, in keinem der Institute. O’Neil
erkannte das Grundproblem: Algorithmen durchforsten Datenberge nach
Mustern, die sich wiederholen. Sie prognostizierten ständig steigende
Immobilienpreise, weil das die Muster der Vergangenheit waren. Auf eine
Gesellschaft übertragen heißt das, sie kodifizieren die herrschenden
Verhältnisse.
Ein Beispiel ist das in den USA beliebte „predictive policing“ –
vorausschauende Polizeiarbeit. Dabei identifizieren Programme Gegenden mit
hoher Kriminalität, damit die Polizei dort häufiger patrouilliert.
Eigentlich keine schlechte Idee.
Die Folge ist allerdings, dass ein weißer Junge, der mit 16 in einem guten
Viertel einen Joint raucht, einfach nur einen Joint raucht. Raucht ein
gleichaltriger Latino oder Schwarzer in einem ärmeren Viertel einen Joint,
ist die Wahrscheinlichkeit, dabei von der Polizei entdeckt zu werden,
wesentlich höher. Es folgt vielleicht ein Eintrag im Polizeiregister wegen
Drogenbesitzes und Ärger in der Schule. Damit sinkt die Chance auf einen
Job oder ein gutes College. Schließlich sind auch dort Algorithmen im
Einsatz, die Daten sind allgegenwärtig. Der Junge aus schlechtem Viertel
mit Vorstrafe bekommt wahrscheinlich eine schlechtere Bewertung als der aus
gutem Hause. Statt die Welt zu verbessern, zementieren die Algorithmen die
sozialen Verhältnisse. Sie verstärken Rassismus und die Benachteiligung
bestimmter Bevölkerungsschichten.
Seit dem Crash 2008 hat O’Neil über die Algorithmisierung der Welt
nachgedacht. Und stieß auf viel gravierendere Auswüchse als die viel
diskutierten Filterblasen: Soziale Medien zeigen ihren Usern Inhalte an,
die diese mögen – also verstärken sich die immer gleichen Ansichten. Wer
Trump gut findet, bei dem tauchen in der Timeline eben Texte darüber auf,
wie schlimm Clintons E-Mail-Affäre ist. Wer Clinton gut findet, der findet
Texte über Trumps sexuelle Übergriffe. Eine Debatte findet nicht statt.
## Die Bürger sind komplett durchleuchtet
Die Wahlkampfteams verstärken das Problem noch zusätzlich. Welches Ausmaß
ihre Datenwut angenommen hat, beschreibt Alexander Nix, Chef des New Yorker
Unternehmens Cambridge Analytica, in einem Interview mit der Zeitschrift
Wirtschaftswoche. Die Firma kauft ganz legal bei Datenanbietern
Informationen aus sozialen Netzwerken, TV-Boxen und öffentlichen Registern
und hat, so freut sich der Chef, Profile von 200 Millionen Amerikanern, die
jeweils 4.000 bis 5.000 Informationen enthalten. Diese Daten verkauft sie
an Trump – nur zum Beispiel, denn bei Clinton sieht das nicht anders aus.
Damit sind die Bürger komplett durchleuchtet. Perfektioniert hat die
Methode das Team von Barack Obama vor der Wahl 2012. Die Tools dazu, so
schreibt O’Neil, entwickelten Computerwissenschaftler, die zuvor
beispielsweise Supermarktkunden anhand von Kaufgewohnheiten eingeteilt
hatten. Sie führten Tausende Interviews mit WählerInnen, um deren Wünsche
und Ängste zu verstehen und sie in Kategorien einzuteilen – linksliberaler
Öko, rechtskonservativer Waffennarr. Jeder hinterlässt spezifische Spuren
im Netz, klickt auf bestimmte Seiten, wohnt in bestimmten Gegenden,
bestellt bestimmte Bücher bei Amazon. Das macht den einen zum potenziellen
Spender, während ein anderer selbst als Wähler nicht mehr interessiert,
weil er ohnehin fest in Händen des politischen Gegners ist.
In den USA hat sich bereits eine ganze Datenindustrie entwickelt. Besonders
wertvoll sind für diese die Profile von Wechselwählern in umkämpften
Staaten wie Florida, Ohio oder Nevada. Wähler, die ohnehin entschieden
sind, sind dagegen wertlos – außer als Spender.
„Wir können uns die Wählerschaft wie die Finanzmärkte vorstellen: Mit
Informationen fallen oder steigen ihre Werte. In diesem neuen Politikmarkt
repräsentiert jeder von uns eine Aktie, deren Wert fluktuiert. Jede
Kampagne muss entscheiden, in wen sie investiert“, schreibt O’Neil. Es
scheint, als entschieden nicht 218 Millionen Amerikaner – sondern nur die
Unentschlossenen, die über knappe Ausgänge etwa in Florida entscheiden.
Grundsätzlich war das früher nicht anders. Aber heute wissen beide Parteien
vor der Wahl, wer unentschlossen ist. Die Wahlschlacht schrumpft auf einen
von Algorithmen vorhergesagten Personenkreis.
## Im Netz präsentiert sich Trump gezielt anders
Damit ändert sich der Wahlkampf und das, was wir unter demokratischer
Öffentlichkeit verstehen – sie fragmentiert und schafft sich ab. So kann
sich ein Kandidat öffentlich zahm und präsidial geben, so wie es Donald
Trump in der letzten Woche vor der Wahl versucht. Gleichzeitig können die
Wahlkampfteams Wechselwählern in sozialen Netzwerken gezielt einen ganz
anderen Kandidaten präsentieren.
Das passiert täglich und das erkläre auch, warum Teile der Wählerschaft
diskutieren, als lebten sie in Paralleluniversen. Laut Umfragen glaubten
noch 2015 43 Prozent der Republikaner, Barack Obama sei ein Muslim. „Wir
wissen schlicht nicht, welche politischen Botschaften unsere Nachbarn
bekommen, also wird es immer schwerer zu verstehen, warum sie glauben, was
sie glauben“, sagtO’Neil.
War es früher nicht genauso? Es gab immer explizit rechte und explizit
linke Publikationen. O’Neil zählt das Argument nicht. Natürlich haben
Medien eine enorme Macht – die auch oft genug angeprangert worden ist. Doch
wenn sie Kandidaten empfehlen oder kaputtschreiben, dann ist das Teil eines
öffentlichen Prozesses. Redakteure müssen sich für ihre Argumentation
verantworten, andere Medien reagieren darauf. Ihre Parteilichkeit ist
offensichtlich.
Dagegen halten die meisten WählerInnen das, was sie auf Facebook sehen oder
was ihnen Google anzeigt, für objektiv. Den wenigsten ist bewusst, dass
dahinter Programme stecken, die von ihren Herstellern gezielt darauf
getrimmt sind, den Usern das zu zeigen, was sie ohnehin denken. Oder dass
die verschiedenen Wahlteams ihre Vorlieben haargenau kennen und ihnen das
präsentieren, was sie sowieso hören wollen.
Also mehr Bildung, mehr Aufklärung? „Wenn ich Sie mit einem entlassen will,
dann damit: Wir können nicht von den Menschen verlangen, dass sie von
selbst aus ihrer Blase rauskommen. Das ist ein systemisches Problem. Es
betrifft arme Leute am meisten, weil sie am wenigsten Zeit haben“, sagt
O’Neil. Sie vergleicht die heutigen Zeitbudgets mit denen zu Beginn der
Industrialisierung. Als vielversprechende neue Technologien zu Ausbeutung
von ArbeiterInnen in Minen und Fabriken führten – bis der Staat Regeln
setzte. „Wir müssen Fairness und Verantwortlichkeit in das Zeitalter der
Daten bringen.“
8 Nov 2016
## AUTOREN
Ingo Arzt
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