# taz.de -- Finanzkrise in den USA: Cooper gegen die Investoren | |
> Marshall Cooper hat in der Finanzkrise sein Haus verloren – wie Millionen | |
> andere. Hat US-Präsident Obama sie im Stich gelassen? | |
Bild: Lässt sich eher erschießen als auszuziehen: Marshall Cooper vor seinem … | |
BOSTON/WASHINGTON taz | Da fuhr also ein Cadillac vor. Am 18. März 2010 war | |
das. Ein großer, glitzernder Cadillac, und heraus stieg eine reiche Lady in | |
High Heels, und sie sah das Haus. „Mein Haus“, sagt Marshall Cooper. Cooper | |
ist 81 Jahre alt, sein Haus ist älter, Jahrgang 1910. Gutes Fundament, | |
klassischer Bostoner Baustil, drei Stockwerke, mit Holzpanelen verkleidet, | |
grüner Hecke, Veranda mit Schaukelstuhl, ein amerikanischer Traum. | |
„Und jetzt hör genau zu, was ich erzähle“, sagt Cooper, der viele Sätze … | |
einleitet, wenn er von seinem Leben redet. Im September 2016 sitzt er im | |
ersten Stock seines Hauses in einem Zimmer mit Standuhr und Familienfotos | |
an der Wand, schummrig ist es, weil die Fenster mit Protestplakaten gegen | |
die Räumung seines Hauses verklebt sind. „Ich geh also zu der Lady und sag | |
ihr: Nehmen Sie ihr Geld und gehen sie heim, kaufen sie ihren Kindern | |
schöne Schuhe. Das ist mein Haus. Und ich geh nirgends hin.“ | |
Die letzten zwei Sätze donnert er nur so heraus wie damals, als er die Lady | |
und andere Investoren vertrieben hat. Sie standen direkt vor seinem Haus | |
auf dem Gehsteig und wollten wettbieten. So läuft das in Boston, wenn | |
Häuser zwangsversteigert werden: Die Bewohner verlieren nicht nur ihr | |
Zuhause, sie müssen auch dabei zusehen, wie es verscherbelt wird. | |
Als Barack Obama 2008 in den Wahlkampf zieht, wütet die Häuserkrise bereits | |
überall im Land. 2,6 Millionen Menschen verlieren ihren Job. Die Wirtschaft | |
der USA bricht 2008 um 8,5 Prozent ein. Dem Land droht ein ökonomisches | |
Chaos, die größte Wirtschaftskrise seit der Großen Depression 1929. Obama | |
inszeniert sich im Wahlkampf als einer, der den Klüngel zwischen | |
Finanzelite und Politik bekämpft, und schimpft über die Zocker an der Wall | |
Street. Er verspricht, die Macht der Großbanken zu brechen. | |
Als er am 20. Januar 2009 am Fuß des Kapitols in Washington die Rede zu | |
seiner Amtseinführung hält, räumt er politische Fehler in Washington ein, | |
die zur Krise geführt hätten. „Häuser und Jobs sind verloren, Firmen | |
verlassen“, sagte er. Es herrsche eine „nagende Angst, dass Amerikas | |
Niedergang unausweichlich ist“. | |
Die Arbeitslosigkeit in den USA hat sich mittlerweile halbiert. Die | |
Wirtschaft wächst um 2,4 Prozent im Jahr. Irgendetwas muss Barack Obama | |
also richtig gemacht haben. Aber irgendwas ist auch verdammt schief | |
gelaufen. Während seiner Amtszeit sind 6,5 Millionen Häuser | |
zwangsversteigert worden. Eine direkte Folge der Krise im Jahr 2008, | |
verursacht durch eine Immobilienblase. Mindestens 20 Millionen Menschen | |
verloren ihr Zuhause. | |
## Obamas historische Chance | |
Im Wahlkampf heute versucht Donald Trump, dieses Trauma auszunutzen. Wenn | |
er Hillary Clinton als Agentin der Wall Street darstellt, dann zielt er auf | |
die Bilder aus der Finanzkrise ab. Auf die Geschichten von Leuten wie | |
Marshall Cooper in Boston und die Angst anderer Menschen davor, so etwas zu | |
erleben. | |
Die Leute, die ihre Häuser verloren haben, verbrachten Obamas Amtszeit | |
damit, einen Neustart hinzubekommen. Wenn man herausfinden will, wie die | |
vergangenen acht Jahre Amerika verändert haben, kann ein Blick auf sie | |
helfen. Was hat Obama für diese Menschen getan? Und was dafür, dass das, | |
was ihnen passiert ist, nicht noch einmal geschehen kann? | |
Ganz zu Beginn, im Jahr 2009, hat Obama eine historische Chance. Prominente | |
Politiker fordern damals, die Finanzriesen der Wall Street zu zerschlagen. | |
Ed Mierzwinski, der Chef der Verbraucherschutzorganisation Pirg, nutzt das | |
Bild Godzillas. Wie das Filmmonster hätten die Großbanken wie Goldman Sachs | |
oder Citigroup die amerikanische Wirtschaft, die ganze Weltwirtschaft, | |
verwüstet. Damals liegen sie wie angeschossene Godzillas am Boden. Die | |
Großbank Lehman Brothers ist sogar schon tot, zusammengebrochen am 15. | |
September 2008, dem Tag, der als Ausbruch der Krise in die Geschichte | |
eingeht. | |
Obama aber entscheidet sich gegen den Todesstoß. Er will versuchen, den | |
Godzillas einen Käfig zu bauen. So verspricht er es im Januar 2009: | |
„Wir können den Übeltätern der Wall Street nicht mehr erlauben, Lücken in | |
unseren Regeln auszunutzen. Wir können Interessengruppen nicht mehr | |
erlauben, den Daumen über unserer Wirtschaft zu senken. Wir können die | |
skrupellose Kreditvergabe nicht mehr erlauben, die zu zerstörerischen | |
Zyklen aus Blasen und Pleiten führt.“ | |
## Der beste Staat hat wenige Regeln | |
Ende September 2016 gibt es einen Ort, an dem sich Obamas Versprechen | |
prüfen lässt. Die Elite der amerikanischen Finanzindustrie kommt zu ihrer | |
Jahreskonferenz in Washington zusammen. Man trifft sich im Mayflower Hotel, | |
das nicht weit weg vom Weißen Haus ist, was allerdings für ganz Washington | |
gilt, schließlich ist die Stadt nicht allzu groß. | |
Der Name des Hotels steht für die Grundsätze, auf die sich die Finanzelite | |
beruft. Mit der Mayflower segelten einst religiöse Siedler über den | |
Atlantik, um den schändlichen europäischen Monarchen zu entkommen. Ein | |
Haufen der Flüchtlinge verhungerte zwar oder starb an diversen Krankheiten, | |
aber egal. Der Mythos seitdem lautet: Der beste Staat ist der, der so | |
wenige Regeln wie möglich aufstellt. | |
Vor der Krise haben Großbanken unglaublich hohe Renditen ausgewiesen. Bis | |
zu 33 Prozent ihres Eigenkapitals. Das konnte nur eine Blase sein. Im Jahr | |
2016 waren es bei den weltweiten Großbanken nur noch 6,7 Prozent. | |
Im Mayflower Hotel scheint es, als habe Obama geradezu überreagiert. All | |
diese Gesetze auf einmal. Viele hier sagen, man müsse mal einen Schritt | |
zurücktreten. Und vielleicht die eine oder andere Anpassung vornehmen. Nur | |
nicht noch mehr von diesen Regeln. Henry Paulson kreuzt auch auf, unter | |
Georg W. Bush Finanzminister, der ein Jahr vor der Krise sagte, das Problem | |
mit den faulen Krediten sei „weitestgehend eingedämmt“. Heute sagt er: „… | |
USA sind die am besten regulierte Wirtschaft der Welt.“ | |
Hat Obama also alles richtig gemacht? | |
Marshall Cooper, der Mann aus Boston, verfolgt 2008, wie Obama als erster | |
Schwarzer die Vorwahlen der Demokraten gewinnt. Der Senator von Illinois | |
könnte Coopers Präsident werden. Aber freuen kann sich Cooper darüber kaum. | |
Das Jahr 2008 ist, offen gesagt, ein ziemlich beschissenes Jahr für ihn. | |
Als sich Hillary Clinton am 7. Juni aus dem Rennen zurückzieht und Obama | |
damit Kandidat wird, sitzt Cooper am Bett seiner schwer kranken Mutter. Er | |
pflegt sie Tag und Nacht, und noch im selben Monat stirbt sie, mittellos. | |
Weil der Hauskredit ihres Sohnes ihr Vermögen aufgefressen hat. | |
## Mit der Axt gegen den Räumungsbescheid | |
Marshall Coopers ganzes Leben ist eingerahmt von Finanzkrisen. Als er 1935 | |
in South Carolina geboren wird, wütet die Große Depression noch immer im | |
Land. Der kleine Cooper ist der Sprössling einer Familie aus | |
Baumwollpflückern, die als Lohnsklaven auf den Ländereien eines | |
Großgrundbesitzers schuften. Marshall trägt Wasser auf die Felder, kaum, | |
dass er laufen gelernt hat. | |
Aber die Zeiten ändern sich. Cooper wächst heran, zieht mit den Großeltern | |
nach Boston, wo er erstmals mit weißen Kindern zur Schule geht. Er studiert | |
– auf einem College ohne Weiße –, heiratet seine große Liebe, zieht mit i… | |
drei Kinder groß, lässt sich scheiden, heiratet erneut, zieht noch mal zwei | |
Kinder groß, spart ein wenig fürs Alter, und als 2008 die nächste große | |
Wirtschaftskrise kommt, da verliert er alles. Sein Erspartes und das seiner | |
Eltern. | |
Es sind genau die Kredite, die Marshall Cooper angedreht wurden, die | |
ursächlich sind für die Finanzkrise. Cooper lässt sich 1997 auf eine | |
Finanzierung für sein Haus ein, die eigentlich nicht aufgehen kann. Aber | |
der Immobilieninvestor versichert ihm, alles sei seriös gerechnet. Cooper | |
leiht sich 163.000 Dollar zu 13 Prozent Zinsen, ein viel zu hoher Wert. Die | |
Monatsrate beträgt 1.210 Dollar. Seine 34.500 Dollar Erspartes aus der | |
Zeit, in der er einen Burgerladen hatte, soll er zum Tilgen einsetzen. | |
Er braucht das Haus, weil seine Eltern krank werden. Sie ziehen aus South | |
Carolina zu ihm. Das bescheidene Vermögen seiner Eltern, für das sie ihr | |
Leben lang hart gearbeitet haben, kommt also mit in den Topf für den | |
Hauskauf. „Jetzt hör mir genau zu, was meine Mutter damals gesagt hat. Sie | |
sagte: Junior, wir haben unsere Ersparnisse. Nimm das Geld, damit wir hier | |
bleiben können“, sagt Cooper. Er ahnt damals noch nicht, dass etwas schief | |
gehen könnte. | |
Cooper wird beim Erzählen ungeduldig, weil er noch seinen Garten zeigen | |
will. Er steht auf und läuft die knarzende Treppe hinab. Unten steht eine | |
Axt neben der Tür. Warum? Cooper grinst. Einmal kam ein Bote mit einem | |
Räumungsbescheid einfach so in sein Haus spaziert, und Cooper dachte, es | |
handle sich um einen Einbrecher. Nun ja, es ist nichts weiter passiert. | |
Aber Cooper erklärte dem Boten, dass es auch durchaus zu einer Verwechslung | |
hätte kommen können und er sich gegen Einbrecher mit der Axt zur Wehr zu | |
setzen pflege. Es kam nie wieder jemand ungefragt ins Haus. | |
Cooper setzt sich auf den Stuhl auf seiner Veranda, von der aus er die | |
Investoren mit erhobenem Gehstock vertrieben hat. Er zeigt auf den Garten, | |
der vollgerümpelt ist mit Protestplakaten und Absperrbändern, mit Bildern | |
des Besitzers der Firma, die ihm den Kredit damals angedreht hat. In den | |
Bäumen hängen Plastikflaschen. So ein Tick von ihm, weil er sich in all den | |
schweren Zeiten so leer wie diese Flaschen fühlte. | |
## Skrupellose Kreditvergabe | |
Heute glaubt Cooper: Die Idee des Typen, der ihm den Kredit aufgeschwatzt | |
hatte, sei von Beginn an gewesen, sein Erspartes und das seiner Eltern zu | |
kassieren und ihn dann in die Insolvenz zu schicken. An Unterlagen lässt | |
sich das heute nicht mehr prüfen – aber es gibt Millionen von Menschen, | |
denen es in den USA so ergangen ist. | |
Das ist es, was Obama skrupellose Kreditvergabe nannte. Dem künftigen | |
Präsidenten spielt die Finanzkrise im September 2008 in die Karten. Nach | |
der Pleite von Lehman Brothers und der ersten Fernsehdebatte rutscht er in | |
den Umfragen nach vorn. Obama wirkt souveräner, seine Worte in der Krise | |
sind klarer. | |
Coopers Finanzen sind damals fast aufgezehrt, doch statt das Haus noch | |
irgendwie zu verkaufen, empfiehlt ihm sein Immobilienberater, einfach | |
umzuschulden. Besser gesagt, er droht ihm: Umschulden oder Pleite. Also | |
zahlt Cooper noch höhere Zinsen, darf aber vorerst das Haus behalten. Die | |
monatliche Rate schnellt auf 1.740 Dollar hoch. | |
Es sind diese Geschäfte, die zur Krise geführt haben: Subprime Loans, | |
Kredite an Menschen mit schlechter Bonität. Menschen mit geringem Einkommen | |
wird ein Immobilienkredit angedreht, den sie nicht zurückzahlen können. Die | |
schlechten Kredite werden dann mit anderen, besseren Hauskrediten vermischt | |
und als Paket weiterverkauft. Oder sie werden mit Kreditkartenschulden, | |
Studentenkrediten, Autohypotheken und gewerblichen Immobilienkrediten | |
gebündelt und weltweit gehandelt. | |
Solange die Immobilienpreise steigen, ist es damals egal, ob die Kredite | |
abbezahlt werden. Es gibt ja immer einen Trottel, der die Pakete für einen | |
noch höheren Preis kauft, ohne sich dafür zu interessieren, was darin | |
steckt – weil der übernächste Trottel noch mehr zahlt. Cooper hat in der | |
Zeit von 2006 bis 2008 ständig mit anderen Banken zu tun, die seine Raten | |
eintreiben wollen. Manchmal bekommt er zwei Rechnungen von zwei Banken für | |
dieselbe Rate, weil die Buchhaltungen der Kredithäuser nicht wissen, dass | |
die Pakete schon weiterverkauft sind. | |
## Solange die Musik spielt, muss man tanzen | |
Vor der Krise wussten eigentlich alle, dass das alles nicht gut gehen kann. | |
Warum trotzdem alle mitmachten, das fasste Chuck Prince, damals Chef der | |
Großbank Citigroup, schon vorher in einem mittlerweile berühmten Satz | |
zusammen: „Wenn die Musik aufhört zu spielen, dann wird es kompliziert. | |
Aber solange die Musik spielt, muss man aufstehen und tanzen.“ | |
Die Musik stoppt mit dem Zusammenbruch von Lehman Brothers am 15. September | |
2008. Obama erbt ein gewaltiges Problem. Lehman droht die anderen Godzillas | |
mit in den Abgrund zu reißen, wenn der Staat sie weiterrandalieren lässt. | |
Lösen soll dieses Problem ein Mann, der heute sagt, in der Zeit von 2008 | |
bis 2010 habe er so hart gearbeitet wie noch nie in seinem Leben. Barney | |
Frank, damals Vorsitzender des Ausschusses für Finanzmarktregulierung im | |
Repräsentantenhaus. | |
Frank lebt mittlerweile mit seinem Lebenspartner in einem gemütlichen | |
Vorort von Boston, wo gelbe Schulbusse die Kinder einsammeln. Ein | |
holzvertäfeltes Haus wie das von Marshall Cooper mit einer gepflegten | |
kleinen Grünfläche davor. Frank sitzt im Wohnzimmer in einem Schaukelstuhl | |
und füllt die Rätselseite der New York Timesaus. Er trägt eine dicke Brille | |
und einen weißen Bart, sofort mahnt seine Assistentin zur Eile: Wahlkampf, | |
Vorträge, Frank sitzt seit 2013 nicht mehr für die Demokraten im Kongress, | |
hat aber einen übervollen Terminkalender. | |
Barney Frank legt die New York Times zur Seite. „Es war eine schreckliche | |
Situation damals“, sagt er. „Wir hätten viel mehr für die Leute tun | |
können.“ Aber das Problem war eben, dass Obama zwar schon gewählt, aber | |
noch nicht im Amt war und sich George W. Bush gedanklich schon in Rente | |
befand. Für Frank eine stressige Zeit. | |
„What the fuck“, schreit er am 24. September 2008 in sein Telefon. Er hat | |
US-Finanzminister Henry Paulson am Apparat. Frank ist gerade dabei, ein in | |
aller Eile zusammengeschustertes Nothilfeprogramm für die Banken durch den | |
Kongress zu boxen. Der Finanzminister hat die Abgeordneten gebeten, | |
unglaubliche 700 Milliarden Dollar dafür zu bewilligen. Sonst werde die | |
US-Wirtschaft zusammenbrechen und damit die zivile Ordnung des Landes | |
kollabieren, argumentiert er. | |
Und jetzt drohen ausgerechnet die Republikaner, deren Finanzminister | |
Paulson die Idee hatte, nicht zuzustimmen. Frank schäumt. Der Mann ist für | |
seine cholerischen Ausbrüche, seine treffenden Bonmots und sein brillantes | |
Verhandlungsgeschick bekannt. Letzteres sollte ihn später zu dem Mann | |
machen, der Obamas wichtigstes Gesetz zur Finanzmarktregulierung | |
durchsetzt. | |
## Den Kapitalismus kontrollieren | |
Obama ist im Jahr 2008 als Senator bereits vor seiner Amtseinführung in | |
alle Entscheidungen eingebunden und hat die Rettungsaktion von Anfang an | |
verteidigt. Nun lässt also Obama, der den Lobbyisten der Wall Street | |
Einhalt gebieten will, 700 Milliarden an die Wall Street verteilen. Kein | |
guter Start. | |
Obama setzt sich daraufhin zwei wirtschaftspolitische Ziele: ein gewaltiges | |
Konjunkturpaket, Milliarden für Bildung, Infrastruktur und Energiewende. | |
Wie damals Franklin D. Roosevelt, als er 1933 den New Deal verkündete. | |
Und ein Gesetz, das den Kapitalismus des 21. Jahrhunderts prägen und | |
kontrollieren soll. Auch wie damals, 1933, als der Kongress unter Roosevelt | |
ein Gesetz verabschiedete, das Geschäfts- und Investmentbanken strikt | |
trennte. Das war eine Lehre aus der Großen Depression. Banken, die das Geld | |
der normalen Bürger und handfester Unternehmen verwalteten, sollten damit | |
nicht an den Finanzmärkten zocken. Erst 1999 schaffte die Regierung Clinton | |
die letzten Reste davon ab und ließ die Wall Street endgültig von der | |
Leine. | |
Im Frühjahr 2009 beginnt die Obama-Administration an einem Gesetz zu | |
arbeiten, in enger Kooperation mit Barney Frank und dem Vorsitzenden des | |
Bankenausschusses, Chris Dodd. Der Dodd-Frank Act. | |
Es ist die Zeit, in der die Demokraten noch die Mehrheit in beiden Kammern | |
des Kongresses haben, in der Regieren möglich ist. Am 23. März 2010 | |
unterzeichnet der Präsident ein Gesetz, das Millionen von Amerikanern | |
Zugang zu einer Krankenversicherung ermöglicht – ObamaCare. Am 21. Juli | |
2010 unterzeichnet er das neue Gesetz zur Finanzmarktregulierung und zum | |
Verbraucherschutz. Der Dodd-Frank Acthat 2.319 Seiten. Die Republikaner | |
stimmten fast geschlossen dagegen. | |
## Die Finanzlobbyisten arbeiten gegen das Gesetz | |
Aber trotz der Unterschrift Obamas ist das Ringen um das Gesetz noch nicht | |
vorbei. Obgleich von enormem Umfang ist der Dodd-Frank Act nur ein grobes | |
Gerüst. Jede Seite muss von diversen Behörden in detaillierte Regularien | |
übersetzt werden. Jede davon kann von Interessengruppen kommentiert werden, | |
Details bewegen Milliarden. Seit 2010 tobt also ein Kampf um die Details. | |
In Washington sitzen fast 1.600 Lobbyisten der Finanzindustrie. Was wird | |
von der Intention des Regelwerks am Ende noch übrig bleiben? | |
Als Barney Frank 2010 um sein Gesetz kämpft, sind die Raten von Marshall | |
Coopers Haus auf 2.291 Dollar im Monat gestiegen, fast doppelt so viel wie | |
zu Beginn. Cooper kann nicht mehr zahlen, das Haus gehört ihm nicht mehr. | |
Aber aufzugeben, das ist nicht Coopers Ding. Er war schon Stahlarbeiter, er | |
weiß, was es heißt, sich anzustrengen. Im Jahr 1956 hat er sich als | |
Mittelstreckenläufer sogar um ein Haar für die Olympischen Spiele | |
qualifiziert. | |
Im Fernsehen hört Cooper von einer Organisation, die Leuten wie ihm hilft. | |
Und an einem kalten Abend Anfang 2010 betritt er eine Kirche im Osten | |
Bostons. Es gibt labbrige Sandwiches, ein Haufen Leute, denen es so geht | |
wie ihm, und Anwälte der Eliteuniversität Harvard. Cooper entdeckt die | |
Kraft seiner lauten Stimme und die des Rechts. „Ich habe gemerkt, dass ich | |
mich nicht schämen muss“, sagt Cooper. | |
Die Anwälte schreiben ihm mit dickem Edding auf einen Flipchart, wie er | |
vorgehen muss. Die Seiten hängen heute noch in seinem Haus: Erst mal die | |
Investoren vertreiben, dann geht das Haus zurück an die Bank. Dann das | |
Bauamt rufen und jeden erdenklichen Mangel im Haus anzeigen. Falls die | |
Liste lang genug ist, dann wird das Objekt in bester Wohnlage zur | |
Schrottimmobilie. Mit einem alten Kauz drin, der sich eher erschießen lässt | |
als auszuziehen. Keine gute Aussicht für Investoren. | |
## Nur die Hälfte zwangsgeräumt | |
Die Regierung Obama hat zu dem Zeitpunkt bereits eine ganze Reihe an | |
Hilfsprogrammen aufgelegt, um Leuten zu helfen, die ihre Kredite nicht | |
zahlen können. Es trifft ja nicht nur Menschen wie Cooper, deren | |
Finanzierung von Anfang an nicht funktionieren konnte. Die Mittelschicht | |
verliert ihre Häuser. In Städten wie Tampa, Florida, sind zwischenzeitlich | |
tausende Familien ohne Obdach. Sie schlafen in ihren Wagen auf den großen | |
Parkplätzen der Shoppingmalls. Acht Millionen Menschen hatten in der Krise | |
ihren Job verloren. | |
Obama antwortet mit Programmen mit Namen wie Hafa, Hamp, Haup oder Harp – | |
dem Programm, mit dem Hauskredite so umgeschuldet werden sollten, dass die | |
Raten wieder bezahlbar sind. Es läuft bis heute. Ohne die Programme wäre es | |
noch viel schlimmer gekommen. Zwischenzeitlich drohte in den USA Familien | |
in elf Millionen Häusern die Zwangsräumung – bis heute traf es nur rund die | |
Hälfte. | |
Aber noch bis jetzt, kurz vor der Wahl zwischen Hillary Clinton und Donald | |
Trump, wird um die Nachverhandlung von Barney Franks Gesetz gerungen. Aus | |
2.319 Seiten sind jetzt 22.000 geworden. Obamas finanzpolitisches | |
Vermächtnis. | |
Banken müssen heute mehr Reserven für Notzeiten vorhalten, diverse | |
Finanzprodukte, die zum Ausbruch der Krise beigetragen haben, sind | |
abgeschafft oder werden schärfer überwacht. Geschäftsbanken müssen sich aus | |
bestimmten riskanten Investmentgeschäften zurückziehen. Es gibt eine neue | |
Behörde zum Verbraucherschutz, die selbst ermitteln darf – und einschreiten | |
kann, wenn an Menschen wie Marshall Cooper heute betrügerische Kredite | |
vergeben werden. | |
## Teufelskreis Deregulierung | |
Trotzdem schimpft Barney Frank in seinem Wohnzimmer in Boston. Was ihn | |
besonders ärgert ist, dass die meisten Amerikaner glauben, Obama habe den | |
Banken 700 Milliarden Dollar geschenkt. „Das war kein Geschenk. Wir haben | |
ihnen Geld geliehen. Und sie haben es zurückgezahlt. Komplett, mit Zinsen“, | |
sagt er. Ohne das Programm wäre die Wirtschaft kollabiert, sagt Frank. Die | |
Einzigen, denen so ein Zusammenbruch nichts ausgemacht hätte, wären die | |
Bankmanager gewesen. „Die wären eben raus in ihre Villa zum Angeln | |
gefahren.“ | |
Tatsächlich hat die US-Regierung einen Großteil des Geldes verwendet, um | |
Banken toxische Wertpapiere abzukaufen, die sie während der Krise sonst als | |
Verlust hätten verbuchen müssen – was viele Großbanken in den Ruin | |
getrieben hätte. Später hat die Regierung die Papiere wieder verkauft, | |
ebenso wie die Anteile an Banken und Autoherstellern. Am Ende stand ein | |
Minus von 30 Milliarden Dollar – weniger als ein Prozent des Jahresbudgets | |
der US-Regierung. | |
„Es ist frustrierend“, sagt Frank, „die Deregulierung der Finanzmärkte h… | |
die Krise verursacht. Wir mussten Milliarden in die Hand nehmen, um das | |
Land zu retten, und jetzt werden wir dafür verantwortlich gemacht.“ Und | |
dann komme der Teufelskreis: Die Leute meinen, die Regierung handele | |
unverantwortlich, also wählen sie Leute, die die Regierung hassen. „Was | |
glauben Sie, was dann passiert? Die kommen an die Macht und deregulieren | |
wieder alles.“ | |
Frank putzt zwischendurch seine Brille und redet so schnell, dass man kaum | |
mit der nächsten Frage hinterherkommt. Er glaubt, dass diese Kombination | |
maßgeblich zum Aufstieg von Donald Trump beigetragen hat: Die Leute | |
verlieren ihre Häuser und werden in dem Glauben gelassen, nur die Banken | |
hätten Geld bekommen. Dabei hätten gerade die abgehängten weißen Männer, | |
die maßgeblich Trump wählen, am meisten von den Sozialprogrammen der | |
Regierung profitiert. | |
Vielleicht liegt das Unverständnis auch daran, dass dieselben Banken mit | |
den oft selben Managern immer noch da sind. Dass viele Amerikaner neue Jobs | |
haben, die schlechter bezahlt sind. Darauf zielt Donald Trump ab, wenn er | |
den Niedergang des Landes heraufbeschwört. | |
## Welche Krise wird die nächste sein? | |
Nie wieder soll die Wall Street Menschen in eine solche Krise stürzen – hat | |
Obama dieses Versprechen nun gehalten? | |
Es gibt dazu einen Satz, der immer wieder fällt. Barney Frank sagt ihn in | |
seinem Wohnzimmer in Boston. Und Henry Paulson, der ehemalige | |
Finanzminister, sagt ihn im Mayflower Hotel in Washington: The generals | |
always fight the last war. Die Generäle kämpfen immer den Krieg von | |
gestern. Sinngemäß übersetzt heißt das, die Ursachen der letzten Krise sind | |
analysiert und werden bekämpft. Aber keiner schaut genau genug auf die | |
nächsten Gefahren. | |
Der Krieg von gestern war die Immobilienblase. Der Krieg von morgen ist die | |
Krise des Kapitalismus: Notenbanken erhalten den Geldfluss nur aufrecht, | |
indem sie extrem niedrige oder gar negative Zinsen ansetzen – wer Geld | |
nicht ausgibt, der verliert es. „Wirtschaftspolitik, die immer funktioniert | |
hat, versagt“, sagt Paulson. Vielleicht stecken die Godzillas heute in | |
einem Käfig, aber was bringt das, wenn der Zoo am Ende ist? | |
Vor der Wahl am Dienstag versuchen die Kandidaten, klare Fronten zu ziehen. | |
Hillary Clinton kündigt an, der Tradition von Barack Obama zu folgen und | |
alles, was den Dodd-Frank Act abschwächt, zu verhindern. Sie will härtere | |
Regeln. Donald Trump sendet unterschiedliche Signale: Einmal sagt er, er | |
wolle Dodd-Frank abschaffen. Dann fordert er, das Gesetz zur Trennung von | |
Banken und Investmentbanken von 1933 wiederzubeleben. Eigentlich ein | |
Anliegen linker Demokraten. | |
Das ist eine Ironie der Amtszeit von Barack Obama. Der Präsident, der die | |
Vereinigten Staaten durch die größte Wirtschaftskrise seit 75 Jahren führen | |
musste und das Land versöhnen wollte, schafft es am Ende, dass zwei Lager, | |
die sich verabscheuen, wirtschaftspolitisch ähnliche Forderungen haben: | |
linke Demokraten und rechte Trump-Anhänger. | |
## Cooper darf bleiben | |
Für Barney Frank steht nach acht Jahren Obama eines fest: „Der Glaube an | |
das freie Unternehmertum und das Vertrauen in die Märkte haben 2008 einen | |
großen Schlag erlitten. Der Marktfundamentalismus hat den Crash nicht | |
überlebt.“ | |
Eine gute Nachricht, oder? | |
„Absolut“, sagt er. „Aber bis heute wissen die Leute nicht, wie sie damit | |
umgehen sollen.“ | |
Marshall Cooper hat es sich zur Angewohnheit gemacht, bei jeder Gelegenheit | |
mit seinem Gehstock zu Leuten zu humpeln, die in Boston aus ihren Häusern | |
fliegen. Der neueste Trend ist, dass Investoren Häuser aufkaufen und die | |
Mieter vertreiben – oft Migranten, die ihre Rechte nicht kennen. Dann | |
unterteilen die neuen Eigner die Häuser in kleine Wohnungen und vermieten | |
jede einzelne so teuer wie vorher das halbe Gebäude. | |
Aber manchmal scheitern sie auch, weil Cooper und andere Aktivisten vor der | |
Tür stehen und mit den Mietern ziemlich laut brüllen: „Wir gehen nirgends | |
hin.“ | |
Marshall Cooper hat sein gesamtes Vermögen und das seiner Eltern verloren. | |
Aber das Haus haben die Investoren auch nicht bekommen. Ende September 2016 | |
bekommt er einen Brief, dass es nun offiziell einer Wohlfahrtsorganisation | |
gehört. Die Strategie, die ihm die Anwälte auf seinen Flipchart geschrieben | |
hatten, ging auf. Cooper hat erst die Investoren vertrieben und dann der | |
Bank so oft das Bauamt auf den Hals gehetzt, dass die froh waren, das Haus | |
billig zu verkaufen. | |
Jetzt darf er bleiben, kann weiter auf der Veranda mit dem Schaukelstuhl | |
sitzen. Er darf hier leben, aber das Haus ist nicht mehr seines. Marshall | |
Cooper ist jetzt Mieter. | |
7 Nov 2016 | |
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Ingo Arzt | |
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