# taz.de -- Soziologe Neckel über die Finanzelite: „Kulturelle Allesfresser�… | |
> Der Hamburger Soziologe Sighard Neckel forscht zum Selbstverständnis der | |
> internationalen Finanzeliten. Ein Gespräch zehn Jahre nach Ausbruch der | |
> Bankenkrise. | |
Bild: „Nach der Finanzkrisie haben die zentralen Einrichtungen des Finanzsyst… | |
taz: Sie forschen nun schon seit Jahren zu den internationalen | |
Finanzeliten. Wie nahe kommen Sie Ihrem Forschungsgegenstand, Herr Neckel? | |
Sighard Neckel: Nach dem Ausbruch der Finanzkrise habe ich ein Buch über | |
deren Folgen geschrieben und wie sie in der Bankenwelt selbst aufgenommen | |
wurde. Damals war es noch relativ einfach, nahe an die Leute heranzukommen, | |
weil das Gesprächsbedürfnis 2008 sehr groß war. Es gab ein deutliches | |
Interesse, sich zu rechtfertigen, und das negative Bild, das die | |
Öffentlichkeit von der Finanzwelt entworfen hatte, vermeintlich | |
richtigzustellen. | |
Und heute? | |
Momentan führen wir ein Forschungsprojekt durch, bei dem es darum geht, ob | |
sich auf den Finanzmärkten so etwas wie eine neue globale Finanzklasse | |
gebildet hat. Eine Klasse, die untereinander eine große Ähnlichkeit hat, | |
aber den Gesellschaften, aus denen heraus sie sich entwickelt hat, nicht | |
mehr verbunden ist. Da ist es deutlich aufwendiger geworden, | |
Gesprächspartner zu finden. | |
Wie gehen Sie damit um? | |
Wir müssen zwölf bis 15 Anfragen starten, um ein Interview zu erhalten. | |
Unsere Forschungsmethode ist aber auch stark ethnographisch geprägt, das | |
heißt, wir machen auch teilnehmende Beobachtung: Wir suchen die Orte auf, | |
an denen sich die Finanzklasse bewegt, wir sind dort, wo der Lunch | |
eingenommen wird, in den After-Work-Bars, wir versuchen, die kulturelle | |
Lebenswelt der Banker zu erfassen. | |
Fällt man da als Mittelstandsakademiker ohne handgenähte Schuhe aus dem | |
Rahmen? | |
Man würde einen großen Fehler machen, wenn man versuchte, sich in seinem | |
Outfit dem Milieu anzupassen. Es wird ohnehin erkannt und macht dann eher | |
verdächtig. Es ist viel erfolgversprechender, sich als Fremder erkennen zu | |
geben, der als Fremder ein Interesse an den Mythen und Ritualen unbekannter | |
Stämme zeigt. | |
Das klingt wie bei uns Journalisten, die versuchen, chamäleonartig mit der | |
Umgebung zu verschmelzen, um möglichst viel vom Gespräch am Nachbartisch | |
mitzubekommen. | |
In der Sozialforschung nennt man das auch natürliche Situationen und | |
natürliche Daten – und das sind die wertvollsten. Noch einmal zur | |
Unauffälligkeit: Ein Ergebnis unserer Untersuchung ist ja gerade, dass kein | |
großer symbolischer Aufwand der äußeren Abgrenzung betrieben wird. Der | |
kulturelle Stil gerade der jungen Finanzwelt hat sich sehr dem Stil einer | |
liberalen kulturellen Szene angenähert. | |
Das heißt, man erkennt sie gar nicht mehr? | |
Wir sprechen von ihren Vertretern als cultural omnivores, kulturellen | |
Allesfressern. Das sind Leute, die das Gefühl ihrer kulturellen | |
Überlegenheit nicht dadurch zum Ausdruck bringen, dass sie einen besonders | |
exklusiven Geschmack zur Schau tragen. Sondern dadurch, dass sie sich in | |
der Lage zeigen, ein breites Feld kultureller Strömungen und Tendenzen | |
gleichermaßen – wenn auch nicht gleichberechtigt – in sich aufnehmen zu | |
können. Man ist an keine Besonderheit gebunden: nicht die einer bestimmten | |
Kultur, nicht die einer bestimmten Gesellschaft. Es ist Abschottung durch | |
Öffnung. | |
Am Anfang steht doch eine finanzielle Überlegenheit. Ist im | |
Selbstverständnis der Finanzelite die kulturelle Einordnung überhaupt | |
relevant? | |
Ich denke schon. Das Kulturelle und das Finanzielle gehen hier an einer | |
bestimmten Stelle zusammen. Die Finanzwelt und der moderne | |
Finanzmarktkapitalismus sind dadurch gekennzeichnet, dass sie möglichst | |
viele Lebensbereiche ökonomisch in Wert setzen möchten. Die Kunst kann in | |
Wert gesetzt werden, jede Form von Kultur, menschliche Eigenschaften – was | |
gibt es in der Gesellschaft, das sich nicht finanzialisieren ließe? | |
Nachhaltigkeit kann man finanzialisieren, der grüne Kapitalismus soll | |
finanzialisiert werden. Hierfür gibt es zum Beispiel die Tendenz des social | |
impact investing, da wird beansprucht, die Güte eines Investments an der | |
sozialen Wirksamkeit zu bemessen. | |
Sind die Finanzleute damit so weit entfernt vom Rest der Gesellschaft? | |
Wir alle vollziehen unseren Alltag mit verschiedenen Formen von Ökonomie; | |
die kapitalistische Renditeökonomie ist diejenige, die letztlich unser | |
Lebensschicksal bestimmt. Aber würden wir unser Leben, unsere Beziehungen | |
allein unter dem Gesichtspunkt einer ertragreichen Rendite führen, dann | |
könnten wir unsere Lebenszusammenhänge nicht stabilisieren. Das würden | |
unsere Mitmenschen, unsere Kinder, unsere Eltern zu Recht sanktionieren. | |
Hätten Sie ein Beispiel? | |
Wenn ich meinen Freundeskreis nur nach dem Gesichtspunkt erwartbarer | |
Vorteile gestalte, dann wird er am Ende recht schmal und wenig verlässlich | |
sein. Weil es gerade zur Eigenheit solcher menschlichen Praktiken wie | |
Freundschaft gehört, dass selbst dort, wo das ökonomische Kalkül eine Rolle | |
spielt, es als solches weder thematisiert werden noch allein entscheidend | |
sein darf. | |
Während es bei den Finanzeliten unterschwellig immer mitläuft? | |
So wie die Ökonomie der Finanzmärkte darauf abstellt, jeden Bereich | |
menschlicher Aktivitäten zu einem Investment zu machen, so ist die Kultur | |
dieser Finanzklasse darauf aus, möglichst viel einschließen zu können. Gar | |
nicht im Sinne einer direkten finanziellen Ausbeutung, sondern eher in dem | |
Sinne, dass es tief verankert in diesem Finanzmilieu ist, dass man die | |
Berührung braucht mit gesellschaftlichen Innovationen, mit Experimenten. Es | |
gehört zur symbolischen Ehre, sich kundig zu zeigen über neue Tendenzen. | |
Weil sie immer etwas enthalten können, das in einer verwandelten Form eine | |
Geschäftsidee darstellen könnte. Überdies wird so ein kultureller Habitus | |
eingeübt, der eine Voraussetzung dafür ist, auf den globalen Finanzmärkten | |
erfolgreich sein zu können. Man kann dort keine engstirnigen Leute | |
gebrauchen, keine Leute, die rassistisch sind, frauenfeindlich, die | |
Vorurteile gegen Schwule und Lesben haben, die zu nationalistischen | |
Überhöhungen neigen. | |
Das klingt so, als wirkten die Finanzleute sehr souverän. | |
Ich würde sie nicht als souverän bezeichnen. Ich würde es eher so | |
charakterisieren, dass es zum modernen Korpsgeist gehört, liberal und | |
weltoffen zu sein. Es ist eine Art von Disziplin, mit der man die Regeln | |
des Feldes als die eigenen Verhaltensregeln übernimmt. Bei all dem Bestehen | |
auf Weltoffenheit und Neugier gibt es in diesem Milieu eine große | |
Uniformität und auch Bruchpunkte. Auf der einen Seite haben wir diesen | |
individualistischen Geist, dem Neuen zugewandt, und auf der anderen Seite | |
gibt es eine große Angst vor Abweichung, nur dass heute eben die Norm nicht | |
mehr die gleiche ist wie in den 60er-Jahren. | |
Ist die Angst größer als in anderen Branchen? | |
Banken sind Wirtschaftsunternehmen, die Abweichungen in starker Weise | |
sanktionieren. Das wurde uns schon deutlich, als wir zur Finanzkrise | |
geforscht haben und uns viele Mitarbeiter der Finanzunternehmen sagten, sie | |
hätten es in den Jahren vor der Krise gar nicht gewagt, in den Meetings | |
Nachfragen zu den neuen Finanzmodellen zu stellen. Bereits das hätte | |
bedeutet, etwas in Zweifel zu ziehen, und wer das tut, wäre nicht aggressiv | |
genug am Markt und damit diskreditiert. | |
Ist mit der Finanzkrise eine neue Art von Selbstreflexion eingezogen? | |
Nicht wirklich. Das hängt vor allem damit zusammen, dass das Finanzsystem, | |
das die Krise hervorgebracht hat, selbst von der Politik zu deren | |
Bewältigung herangezogen wurde. Selbstreflexivität tritt dann ein, wenn ich | |
durch eine Krise nicht mehr fortfahren kann mit dem, was ich bisher gewohnt | |
war. Aber nach der Finanzkrise haben alle zentralen Einrichtungen des | |
Finanzsystems unbeschadet überlebt: die Konzentration großer Banken, die | |
tatsächlich too big to fail sind, hat sich verstärkt, die schiere | |
Aufblähung der Geldmenge hat zugenommen. Diejenigen, die früher an der | |
Spitze der Investmentbanken standen, stehen heute an der Spitze von | |
Institutionen, die für die Bankenaufsicht zuständig sind, Mario Draghi, der | |
Präsident der Europäischen Zentralbank, an erster Stelle. | |
2012, als ein taz-Kollege Sie befragte, haben Sie am Ende des Gesprächs | |
gesagt, dass sich die Ablösung der Finanzelite vom Rest der Gesellschaft | |
umkehren ließe. Wann hat Sie dieser Optimismus verlassen? | |
Es sind zwei Prozesse eingetreten, mit denen man 2012 so noch nicht rechnen | |
konnte. Das eine ist, dass sich die Euro-Krise und die der | |
Staatsverschuldung an die Stelle der Finanzkrise geschoben hat. | |
In der öffentlichen Aufmerksamkeit? | |
In der Aufmerksamkeit, aber auch in der öffentlichen Zurechnung für die | |
ökonomischen Probleme. Dadurch wurde der Finanzsektor entlastet, während | |
der Staatsverschuldung die Verantwortung zugeschoben wurde. | |
Und die zweite Unvorhersehbarkeit? | |
Die Kritik am globalen Finanzkapitalismus hat sich seit 2008 sehr stark | |
weiter in der Gesellschaft verbreitet. Sie ist bei weitem nicht nur Thema | |
linker Gruppen und der linken Parteien. Nur das Problem ist: Ein Gutteil | |
der öffentlichen Wut über die Fehlentwicklungen der Finanzwelt sind vom | |
Rechtspopulismus aufgesaugt worden. Das kann man etwa beim Erfolg des Front | |
National mit seiner Rhetorik des Antikapitalismus sehen, bei der FPÖ und | |
selbst bei der AfD. | |
Aber bedeutet das automatisch, dass man das Terrain den Rechtspopulisten | |
überlassen muss? | |
Das liegt nur unter anderem daran, dass sich die sozialdemokratischen und | |
sozialistischen Parteien in der Regierungsverantwortung in den letzten 15 | |
bis 20 Jahren wirtschaftspolitisch zum Bündnispartner der Finanzmärkte | |
gemacht haben. Sie sind sehr spät von dieser Politik abgerückt, und das hat | |
dazu geführt, dass die Kritik am Finanzmarktkapitalismus von dieser Seite | |
nicht mehr glaubhaft und nicht mehr radikal genug formuliert werden konnte. | |
Gibt es auch die Furcht, das Thema sei zu komplex für Laien, sodass sich | |
die Leute davon abschrecken lassen? | |
Gerade das Finanzwesen ist mit einem großen Spezialwissen munitioniert, was | |
sich auch gerne als ein exklusives Wissen darstellt. Dabei wird häufig | |
übersehen, dass die Komplexität dieses Wissens, wie es sich etwa in | |
mathematischen Modellen niederschlägt, die Atomphysiker in den | |
Risikoabteilungen der Banken und Fonds berechnen, gar nicht zur Lösung | |
ökonomischer Probleme beiträgt, sondern ein Symptom dieser Probleme ist. | |
Inwiefern? | |
Die Komplexität dieses Wissens ist nur ein anderer Ausdruck davon, dass die | |
Prozesse, die durch die moderne Finanzökonomie in Gang gesetzt werden, so | |
kontingent sind, dass sie durch ein einigermaßen gesichertes | |
finanzökonomisches Wissen nicht gesteuert werden können. | |
Dem System scheint das nicht weiter zu stören. | |
Für mich war ein eindrückliches Erlebnis, dass die Mitarbeiter in den | |
trading floors, die in langen Reihen an sechs bis sieben Bildschirmen | |
gleichzeitig sitzen, der festen Auffassung sind, und dafür auch ihre Gründe | |
haben, dass die ökonomische Entwicklung, die die der Finanzmärkte abbilden, | |
nicht eine Nanosekunde unbeobachtet bleiben darf. | |
Warum? | |
Weil sich jederzeit Prozesse, die immer auch anders verlaufen könnten, als | |
sie es gerade tun, im Sinne unerwarteter Gewinnchancen oder von | |
Verlustrisiken auftun könnten. Zwar wird versucht, diese unendlich | |
kontingenten Prozesse mathematisch formelhaft einzufangen – doch das ist | |
komplett gescheitert. Das ist wie eine Manie, die durch ihr laufendes | |
Scheitern immer wieder neu angestachelt wird. Dann heißt es: Die Modelle | |
müssen einfach noch besser werden. | |
Sie sind Wissenschaftler und damit erst einmal neutral. Verbinden Sie mit | |
Ihrer Arbeit dennoch ein politisches Interesse? | |
In der soziologischen Forschung ist es ja schon immer so, dass ich mich | |
nicht, wie Max Weber es nannte, wertneutral verhalte, dass ich allein durch | |
die Auswahl meiner Themen eine eigene Problemwahrnehmung zum Ausdruck | |
bringe. Ich würde mich nicht so intensiv mit den Finanzmärkten befassen, | |
wenn ich nicht der Auffassung wäre, dass sie der entscheidende Bereich der | |
modernen Ökonomie geworden sind und Risiken enthalten, die gesellschaftlich | |
zu großen Verwerfungen führen können. | |
3 Sep 2017 | |
## AUTOREN | |
Friederike Gräff | |
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