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# taz.de -- Buch zu Zwangsräumungen in US-Städten: The system works
> Matthew Desmond berichtet in seiner Studie „Evicted“ über die profitable
> Produktion von Armut in US-amerikanischen Städten.
Bild: Heruntergekommenes Stadtviertel in einer US-Stadt
Vor allem konservative Kandidaten werfen seit Jahrzehnten in fast allen
US-Wahlkämpfen ihren Anhängern wieder und wieder einen Satz zu: „The system
is broken.“ Damit sollen Gegner, Amtsinhaber, Regierungen beiseitegewischt
und die Kandidaten selbst als Erneuerer präsentiert werden. Allerdings
erklärt niemand, warum was zerbrochen, wie etwas am besten zu flicken und
was überhaupt das System sei.
Dennoch ist der Satz zu einer Überzeugung geronnen, der unabhängig von
Geschlecht und Alter Wähler*innen in vielen Regionen zustimmen. Wenn man
dann die furiose Studie „Evicted. Poverty and Profit in the American City“
des Soziologen Matthew Desmond liest, glaubt man wirklich, dass da etwas
zerbrochen ist. Nur zeigt Desmond, dass das System funktioniert. Allerdings
eben anders.
Matthew Desmond hat sich jahrelang in Milwaukee mit dem Phänomen der
Zwangsräumungen beschäftigt und hat einen ganzen Strauß wissenschaftlicher
Studien zu Mietermobilität, Armut, Nachbarschaften, Trailerparks, Gewalt,
Drogen und einigem mehr erarbeitet.
Milwaukee ist eine der am stärksten segregierten Städte des Landes – und
„Evicted“ ist die Zusammenführung all dieser Erhebungen, Beobachtungen und
Befragungen zu einer größeren Erzählung: eine Langzeitbeobachtung als
erschreckendes, dabei immer mitreißend zu lesendes Sachbuch. Desmond findet
bei seinen Studien ein hervorragend funktionierendes System, in dessen
Zentrum so etwas wie die hochprofitable Produktion von Armut steht.
## Alltag in den USA
Er wählte das Thema nicht zufällig: Zwangsvollstreckungen, also gerichtlich
angeordnete Räumungen, sind von vereinzelten, Aufsehen erregenden Aktionen
zu einer Art Strukturmaßnahme in den USA geworden, um die sich eine ganze
Industrie aus Räumungsunternehmen, Vermietern, Anwälten, Sicherheitsfirmen
kümmert: Die Kammern, die Zwangsvollstreckungen festlegen, sind die
meistbeschäftigten des Landes. Vermieter machen Millionen mit
Schrottimmobilien und Trailerparks, weil sie sich so leicht räumen lassen.
Für „Evicted“ begleitet Desmond ein buntes Personal, das durch all die
Maßnahmen und Willkür, die Schikanen und Enttäuschungen meist in einen
tiefen Fatalismus getrieben wurde. Er beobachtet eine Vermieterin, die oft
als einzige Schwarze bei Branchentreffen dabei ist; er sitzt neben einer
Mieterin, die aus ihrem Fatalismus ausbricht, wenn sie sich kurzerhand
einen teuren Fernseher leistet oder die Monatsrate Food stamps für ein
opulentes Essen aus dem Fenster wirft, das sie mit Cola herunterspült.
Es sind apokalyptische Bilder, die Desmond präsentiert: Die Vermieterin
wirft einen Mann ohne Beine aus seiner Wohnung, obwohl dieser seine
Mietschuld zu mindern suchte, indem er für sie Dienste verrichtete; eine
Wohnung brennt aus, dabei stirbt ein Kind, die Vermieterin lässt das
Gebäude abreißen, kauft von der Versicherungssumme zwei neue und zahlt den
wohnungslos gewordenen Eltern die Miete nicht zurück: Der Monat hatte schon
begonnen, als das Feuer ausbrach.
Kinder sind ein echtes Strukturproblem, sie können Lärm machen, aus Spaß
Feueralarm auslösen oder wegen uralter Leitungen an Bleivergiftung leiden
und daher städtische Inspektoren auf den Plan rufen – also bekommen
alleinstehende Mütter, vor allem schwarze Familien mit Kindern, in
bestimmten Gegenden erst gar keine Wohnung. Das führt zu Frust, immer
wieder schlagen Männer auf ihre Frauen ein.
## Menchenverachtendes Prinzip
Wenn die Nachbarn aber mehr als zweimal die Polizei rufen, haben die
Vermieter rechtlich ein Argument in der Hand: Sie können die Familien aus
den Wohnungen rausschmeißen. Auch jene, die die Polizei riefen. In der
Regel werden so verprügelte Frauen zusätzlich bestraft. Desmond hält als
Prinzip fest: „Wenn Inhaftierung das Leben von schwarzen Männern in armen
Nachbarschaften definiert, gestalten Zwangsräumungen das Leben armer
schwarzer Frauen.“
„Evicted“ beschreibt Kreisläufe, deren Stabilität das Instabile ausmacht.
Räumkommandos werfen Habseligkeiten an den Straßenrand oder schließen sie
gegen happige Gebühren in Lager – darunter Winterjacken oder wichtige
Unterlagen, die bei Kälte oder dem nächsten Termin im Sozialamt fehlen.
Dann heißt es frieren oder auch noch Strafe zahlen. Halbe Familien pendeln
zwischen Obdachlosigkeit und überfüllten Wohnungen. Die Zustände werden
schlimmer, bis die Mieter wieder auf die Straße geschmissen werden.
„Evicted“ skizziert, warum in den USA bestimmte soziale Gruppen strukturell
schlechter gestellt sind: Die Mieten in ihren Vierteln sind unwesentlich
niedriger als in wohlhabenden Stadtteilen, dort aber bekommen Schwarze und
Arme wegen ihrer Gerichtsakten keine Behausung. Kredite erhalten sie
sowieso nicht. Ihnen bleiben nur gesundheitsgefährdende Wohnungen in
Vierteln mit hoher Kriminalität, sie müssen ihre Kinder in schlechtere
Schulen schicken, haben längere und unsichere Wege zur Arbeit, verlieren
häufiger ihre Jobs.
„In einer Baracke und in einem Getto aufzuwachsen bedeutete, so ein Umfeld
ertragen zu lernen. Und auch zu lernen, dass es Menschen gab, die so etwas
nie ertragen mussten. Menschen, die von ihren Lebensbedingungen abgestoßen
wurden, die keine Kontrolle mehr über ihr Heim hatten, und dennoch einen
Großteil ihres Einkommens dafür aufwenden mussten, lernten auch weniger von
sich selbst zu halten“, so Desmond. Er vergisst nicht zu erwähnen, dass
viele Maßnahmen und Rechtsregeln zum Nachteil von Mietern und
Sozialhilfeempfängern von der Regierung Bill Clintons eingeführt wurden.
Auch in den Gettos der USA stimmten bei den letzten Präsidentschaftswahlen
Menschen für Donald J. Trump, einen Mann, der mit Immobilien Milliarden
umsetzte und vom Gipfel moralischer Empörung herabrief: „The system is
broken!“
7 Apr 2017
## AUTOREN
Lennart Laberenz
## TAGS
USA
Schwerpunkt Armut
Zwangsräumung
Obdachlosigkeit
Lesestück Recherche und Reportage
Detroit
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