# taz.de -- Zwangsräumungen in den USA: Wohnen auf Abruf | |
> Zwei Raten für das Haus waren nicht bezahlt und schon drohte Angela | |
> Samuels die Zwangsräumung. Doch dann kamen die Aktivisten von Occupy. | |
Bild: "Recht auf Wohnung": Occupy-Aktivisten protestieren im Vorgarten eines Ha… | |
MIAMI/FORT LAUDERDALE taz | "Wessen Haus?", skandieren mehrere Dutzend | |
Menschen: "Angies Haus!" Ihre Rufe übertönen den Verkehrslärm, der Tag und | |
Nacht vom Expressway über den Stadtteil Liberty City hallt. Passanten | |
nähern sich, Autofahrer verlangsamen die Fahrt. | |
Ein Video zeigt die 45-jährige Angela Samuels, mit vor der Brust gekreuzten | |
Armen lächelnd im Getümmel vor ihrem blassrosa gestrichenen Haus. Während | |
sie mit den Polizisten spricht und mit Männern, die in einem schwarzen | |
Mercedes vorfahren, schüttelt sie immer wieder energisch den Kopf. Dabei | |
baumeln ihre großen gelben Ohrringe in dichtes Lockenhaar. | |
"Es war ein klasse Gefühl", sagt Angela Samuels sechs Wochen nach der | |
Demonstration in ihrem Vorgarten: "Plötzlich war ich nicht mehr allein mit | |
den Leuten, die mir mein Haus wegnehmen wollen." An jenem Dienstag Anfang | |
Januar mussten die Polizisten und auch die Männer in dem Mercedes | |
unverrichteter Dinge abziehen. Die angekündigte Zwangsräumung fand nicht | |
statt. | |
Dank der Unterstützung durch die Occupy-Gruppen aus Miami und dem | |
benachbarten Fort Lauderdale kann Angela Samuels das Drei-Zimmer-Haus | |
behalten, in dem sie fast ihr ganzes Leben verbracht hat. Draußen flattert | |
ein Transparent, das die Demonstranten hinterlassen haben. "Wir bleiben", | |
steht dort. | |
Aber es ist ein Wohnen auf Abruf. Ihre Möbel hat Angela Samuels in einem | |
Lager eingemietet. In den drei rot, grün und lila gestrichenen Zimmern | |
ihres Hauses befinden sich nur noch Matratzen, auf denen sie, ihre | |
erblindete Schwester, eine Nichte und ein Neffe schlafen. An einer kahlen | |
Wand im leeren Wohnzimmer klebt die "Final Notice of Eviction". Der | |
gerichtliche Bescheid, dass das Räumungskommando jederzeit kommen kann. | |
Der Vater von Angela Samuels, ein Bauarbeiter, hatte das Haus 1970 gekauft. | |
Für 17.000 Dollar. Damals befand sich der Stadtteil im Norden Miamis im | |
Wandel. Die weißen Bewohner verließen Liberty City, schwarze Familien kamen | |
nach. Afroamerikaner, wie die Samuels, und Einwanderer aus der Karibik. In | |
ihrem neuen Haus zogen die Samuels sieben Kinder groß. | |
## Betrügerische "Lösung" | |
Vor gut zehn Jahren starben kurz nacheinander die Eltern von Angela | |
Samuels. Außerdem eine Schwester, ein Bruder. Die Mutter hatte kurz vor | |
ihrem Tod noch zwei kleine Hypotheken aufgenommen. Sie wollte das Haus in | |
gutem Zustand hinterlassen. Mit einer Hypothek reparierte sie das Bad. Mit | |
der anderen ließ sie die Fassade streichen. | |
Angela Samuels erbte das blassrosa Haus. Aber sie übernahm auch die | |
Verantwortung für zwei nicht gezahlte Raten. Für die Bank war das Grund | |
genug, ihr mit Zwangsversteigerung zu drohen. Angela Samuels ließ sich auf | |
eine "Lösung" ein, die ihr ein Kreditgeber unterbreitete. Es war das Jahr | |
2005. Sachverständige schätzten den Wert ihres Hauses auf eine | |
Viertelmillion Dollar. "Alle wollen in Florida wohnen", sagten sie ihr, | |
"der Immobilienwert kann nur steigen." | |
Der Kreditgeber belastete ihr Haus, auf dem zuvor 20.000 Dollar Schulden | |
gelegen hatten, mit einer Hypothek von 136.000 Dollar. Im Frühling 2011, | |
nachdem die Arbeitslosigkeit in Florida auf über 11 Prozent geklettert war | |
und die Krankenschwester Angela Samuels nur noch eine Teilzeitarbeit fand, | |
konnte sie die monatlichen Zahlungen nicht mehr leisten. Die Bank verkaufte | |
ihr Haus an die Männer aus dem schwarzen Mercedes. Diese zahlten 27.000 | |
Dollar. | |
"Sie haben meine Trauer und Verwirrung ausgenutzt", sagt Angela Samuels. | |
Lange versucht sie, allein aus dem betrügerischen Geschäft herauszukommen. | |
Vergeblich. Dann sammelt sie Geld bei Freunden und Verwandten, um ihr | |
eigenes Haus zurückzukaufen. Es reicht nie. "Früher war ich Mittelschicht", | |
sagt Angela Samuels, "heute bin ich arm." Als die Occupy-Bewegung im | |
Oktober eine Zeltstadt in Miami errichtet, sucht sie dort Hilfe. | |
## Drei Minuten pro Fall | |
Im vergangenen Jahr hat der Bundesstaat Florida verrentete Richter in den | |
Dienst zurückgerufen. Und Familienrichter in neu geschaffene Abteilungen | |
versetzt, wo sie nichts anderes tun, als Zwangsvollstreckungen abzuwickeln. | |
Es ging um die Beschleunigung von tausenden Verfahren, von denen die | |
meisten in zwei südlichen Counties spielen: Miami-Dade und Broward. Dort | |
sind Mitte des vergangenen Jahrzehnts die Immobilienpreise stärker in die | |
Höhe geschossen als irgendwo sonst in den USA. Und dort sind sie seit 2007 | |
dramatisch abgestürzt. | |
Seit Juli 2011 leitet Richterin Marina Garcia-Wood die Abteilung für | |
Zwangsvollstreckungen im Broward-County-Gericht in Fort Lauderdale, der | |
Nachbarstadt von Miami. An diesem Donnerstag im Februar stehen 170 Fälle | |
auf dem Terminplan, der neben der Tür zu Gerichtssaal 519 hängt. Sämtliche | |
großen US-Banken kommen auf der Liste vor sowie ein Dutzend Mal auch die | |
Deutsche Bank. | |
Rechnerisch hat Richterin Garcia-Wood für jeden Fall rund drei Minuten | |
Zeit. Manchmal reicht das, um Hausbesitzern eine Gnadenfrist zu gewähren. | |
Das geschieht, wenn sie der Richterin glaubhaft machen können, dass eine | |
Bank Fristen nicht respektiert, Kopien statt Originalunterschriften | |
vorgelegt oder Fehler in Verträge geschrieben hat. | |
Michael Barbere hat bei einem seiner Gerichtstermine in Fort Lauderdale von | |
der örtlichen Occupy-Gruppe erfahren. Ein Mitglied saß als Beobachter im | |
Gericht und gab ihm ein Flugblatt. Michael Barbere schöpft neue Hoffnung. | |
Obwohl der 50-Jährige bereits zu dem Zeitpunkt überzeugt ist, dass er | |
seinen Bungalow verlieren wird. Eine Anwältin hatte ihm gesagt: "Entweder | |
wir kämpfen um das Haus. Mit dem Risiko, es sofort zu verlieren. Oder wie | |
spielen auf Zeit." | |
Michael Barbere entschied sich für Letzteres. Er hat drei behinderte | |
Kinder. Am 19. Juni nun muss er das Haus verlassen, das ihm sein Vater 1998 | |
zur Hochzeit geschenkt hat. Wohin er anschließend gehen wird, weiß er | |
nicht. Er hat einen Bruder im Blumenhandel in New York, einen anderen im | |
Wettgeschäft in Las Vegas. Vielleicht kann er bei einem von ihnen | |
einsteigen. | |
Vor seinem Bungalow in Sunset im Westen von Fort Lauderdale steht ein | |
glänzender schwarzer Jeep. Der Rasen ist akkurat gemäht. Die Nachbarn - ein | |
Steuerberater und ein Restaurantbesitzer - ahnen nicht, dass der Familie | |
Barbere das Wasser bis zum Hals steht. "Florida ist eine | |
Durchgangsstation", sagt Michael Barbere, "die Leute haben wenig Kontakt | |
untereinander." Er selbst zog wegen der gut bezahlten Aufträge als | |
Bühnenarbeiter hierher. | |
Doch dann kamen die hohen Kosten für die Behandlung seiner Kinder. Dann die | |
Wirtschaftskrise und der Auftragsrückgang im Showbusiness. Michael Barbere | |
nahm eine Hypothek auf sein Haus auf. Bezahlte die Ärzte. Und eröffnete | |
einen Sandwich-Laden, der nicht lief. Im vergangenen Jahr brachte er | |
weniger als 11.000 Dollar nach Hause, nicht annähernd genug für die | |
monatlichen Ratenzahlungen von 1.900 Dollar. Er versuchte eine Umschuldung. | |
Die Bank lehnte ab. | |
## "Keine Chance gehabt" | |
Inzwischen ist Michael Barbere mit 185.000 Dollar plus 75.000 Dollar | |
Gebühren verschuldet. 2006 wurde der Wert seines Hauses auf 600.000 Dollar | |
geschätzt. Heute kann er froh sein, wenn er genug kriegt, um schuldenfrei | |
herauszukommen. "Die Banken konnten tun, was sie wollten", sagt Michael | |
Barbere bitter. "Und als die Blase platzte, hat der Staat ihnen Milliarden | |
zu ihrer Rettung gegeben, ohne Zinsen zu verlangen." Er musste 7,5 Prozent | |
Zinsen für seine Hypothek zahlen. Wenn Michael Barbere seine Geschichte | |
erzählt, lächelt er immer wieder. "Ich habe keine Chance gehabt", sagt | |
Michael Barbere. Erzählt, dass er "viele Pfunde" zugelegt hat. | |
Das Jahr 2012 wird für verschuldete Hausbesitzer im südlichen Florida noch | |
schlimmer werden als die vorausgegangenen. Darin sind sich alle einig: die | |
Makler, die mehr Häuser verkaufen als je zuvor und für jedes 6 Prozent des | |
Preises kassieren. Die Anwälte, deren Wartezimmer voller Opfer von | |
Zwangsvollstreckungen sind. Und die Banken, in deren Schubladen zigtausende | |
Zwangsvollstreckungsverfahren liegen. | |
"Wenn wir uns nicht wehren, werden wir zermahlen", sagt jemand in Angela | |
Samuels leergeräumtem Wohnzimmer. Ein Dutzend Aktivisten aus der | |
Occupy-Bewegung in Fort Lauderdale und Miami sind gekommen, um nächste | |
Aktionen zu besprechen. Die Occupy-Camps sind verschwunden, jetzt | |
konzentriert sich die Bewegung in Florida auf Aktionen gegen | |
Zwangsräumungen. Wie an vielen Orten der USA. | |
In einem Radius von eineinhalb Meilen rund um das blassrosa Haus von Angela | |
Samuels sind 200 weitere Häuser in Liberty City räumungsbedroht. Die | |
Aktivisten wollen mit den Betroffenen sprechen. Wollen ihnen sagen, dass | |
sie sich weder verstecken noch schämen müssen. Und dass es die beste Hilfe | |
ist, wenn Nachbarn sich zusammentun. Jeff Weinberger von der Occupy-Gruppe | |
Fort Lauderdale spricht von Telefonketten: "Damit die Polizei bei jedem | |
Räumungsversuch auf 50 Demonstranten stößt." | |
"Angies Haus" ist für ihn "nur der Anfang". Als Nächstes wollen er und | |
seine Freunde Liberty City zur räumungsfreien Zone machen. | |
15 Feb 2012 | |
## AUTOREN | |
Dorothea Hahn | |
Dorothea Hahn | |
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USA | |
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