# taz.de -- Äpfel in Brandenburg: Verstreute Schätze | |
> Die Apfelanbaufläche in Brandenburg ist klein, umso größer ist die | |
> Vielfalt. Hilmar Schwärzel von der Obstbau-Versuchsstation Müncheberg | |
> kennt sich aus. | |
Bild: Äpfel schmecken ihm nicht nur: Hilmar Schwärzel kann auch viel zu ihnen… | |
Kürbisse, Birnen, Äpfel, Quitten – die Augen können nicht genug bekommen | |
vom Farbenspiel der Herbstfrüchte. In allen Formen und Größen stapeln sie | |
sich vor dem Scheunentor von Bauer Nietsch. Der Hof befindet sich in | |
Tiefensee, 25 Kilometer östlich von Berlin, direkt an der B158. | |
Ein süßsäuerlicher, durchdringender Geruch strömt aus dem Inneren der | |
Scheune. Dort steht die Mostmaschine, ein silbern glänzender Apparat vom | |
Ausmaß eines Kleinlasters. Gerade belädt ihn der 31-jährige Janek Nietsch | |
mit Äpfeln. Aufgesammelt in Brandenburg, im Garten und auf Streuobstwiesen | |
am Feldrain. Robuste Früchte mit fester Schale und narbigen Stellen, die | |
kein Supermarkt feilbieten würde. Ein Handwerker aus der Gegend hat sie zur | |
Mosterei gebracht. Nun schaut der Mann zu, wie aus seinen 150 Kilo Most | |
wird. | |
Der Apfel steht auf dem Speisezettel in Deutschland ganz oben. Nach der | |
Banane ist er das meistverkaufte Obst. Im Schnitt isst hier jeder 25 Kilo | |
Äpfel im Jahr. Gut 1,2 Millionen Tonnen werden in der Bundesrepublik | |
jährlich angebaut, 60 Prozent des Obstes landet auf dem heimischen Markt. | |
Die bekanntesten Anbauregionen sind das Alte Land in der Nähe von Hamburg, | |
die Region am Bodensee, das Rheinland und Sachsen. Brandenburg spielt nur | |
eine untergeordnete Rolle. Schlappe 840 Hektar beträgt dort die Anbaufläche | |
für Äpfel, bewirtschaftet von 40 Obstbauern. Die Metropole Berlin kann | |
ihren Bedarf demzufolge nicht aus dem Umland decken. | |
Seit Anfang September ist in Brandenburg Erntezeit. Bilanziert wird aber | |
erst Ende Oktober, wenn auch die späten Sorten eingefahren sind. Es sieht | |
gut aus. „Letztes Jahr hatten wir 20.000 Tonnen“, sagt der Geschäftsführer | |
des Gartenbauverbandes Berlin-Brandenburg, Thomas Jende, „Diesmal könnten | |
es 25.000 Tonnen werden.“ | |
Der Verband vertritt die professionellen Obstbauern. Die Betreiber von | |
Streuobstwiesen sind dort nicht organisiert. Streuobstwiesen sind die | |
traditionelle Form des Obstanbaus und damit ein Refugium für | |
Apfelsortenvielfalt. Viele der alten Sorten findet man nur noch dort. In | |
Brandenburg hätten Streuobstwiesen im Unterschied zu Süddeutschland keine | |
wirkliche Tradition, sagt Jende. | |
## Äpfel nach EU-Norm | |
Dabei haben alte Sorten wie die Goldparmäne, der Ontario oder der | |
Gravensteiner durchaus ihre Liebhaber. Das Problem ist: Die Früchte gelten | |
als nicht handelstauglich. Jede hat eine eigene Form und Größe. Die EU-Norm | |
besagt indes, ein Apfel solle sein wie der andere. Ausgewogen rund muss er | |
sein und einen Mindestdurchmesser haben. Also landen die alten Sorten von | |
Streuobstwiesen im Direktverkauf ab Hof und in den Mostereien. | |
Die Lohnmosterei in Tiefensee produziert Saft von eigenen Äpfeln. Bauer | |
Nietsch, ein kräftiger Mann mit Brille und kurzen dunklen Haaren, streift | |
sich schwarze Gummihandschuhe über und rudert die Äpfel mit den Händen in | |
einem Becken durchs Wasserbad. Polternd fallen die Früchte auf ein | |
Förderband und von dort in die Mühle. Auf der Unterseite tropft eine | |
schaumige ockerfarbene Flüssigkeit in einen Behälter. Durch Schläuche und | |
einen Filter wandert der Saft in einen mannshohen stählernen Tank. Dort | |
wird er auf 80 Grad erhitzt. | |
22 Kilometer weiter, in der Baumschule in Biesenthal, ist Apfeltag. An | |
einem Tisch im Gewächshaus sitzen zwei ältere Herren – Pomologen. | |
Kleingärtner können sich bei ihnen Rat holen, wenn sie wissen wollen, was | |
für ein Apfelbaum auf ihrem Grundstück wächst. Das Interesse ist groß. Vor | |
dem Tisch hat sich eine Schlange gebildet. Mindestens drei Äpfel einer | |
Sorte sollte man mitbringen. | |
Die Leute haben Körbchen mit den unterschiedlichsten Früchten dabei. Warten | |
ist angesagt. Eine Bestimmung dauert ihre Zeit. Die Pomologen drehen und | |
wenden die Früchte in ihren Händen, halbieren und vierteln sie mit einem | |
Taschenmesser, begutachten das Kernhaus, probieren ein Schnitzelchen, | |
schlagen in Büchern mit Apfelabbildungen nach. | |
Pomologie ist eine eher belächelte Wissenschaft. Viele selbsternannten | |
Experten tummeln sich auf dem Gebiet, der Interpretationsspielraum ist | |
groß. Überliefert ist die Geschichte, dass ein und derselbe Apfel von acht | |
Pomologen acht verschiedene Namen bekommen hat. | |
1.500 alte Sorten gibt es in der Region. Dazu kommen circa 40 moderne | |
Sorten: Pinova, Elsta, Jonagold, Gala, Braeburn und Jonagored sind im | |
Großhandel am gefragtesten. Selbst die beste Fachfrau und der beste | |
Fachmann kann nicht alle kennen. Auch an diesem Tag in Biesenthal scheiden | |
sich an einem kleinen blassgelben Apfel mit roten Bäckchen die Geister. „Da | |
kann ich Ihnen leider nicht weiterhelfen“, bedauert der jüngere der | |
Pomologen und gibt einer Frau die Reste ihres Apfels zurück. Aber am | |
nächsten Wochenende halte ein gewisser Doktor Schwärzel einen Vortrag in | |
der Region. „Den müssen Sie fragen. Der Schwärzel kennt sich aus.“ | |
50 Kilometer weiter biegen sich Äste unter der Last der Früchte. So stellt | |
man sich das Paradies vor: Es gibt rote, gelbe, grüne Äpfel. Manche so groß | |
wie ein Tischtennisball, andere wie ein Babykopf. Auch die Wege zwischen | |
den Reihen sind mit Fallobst übersät. Achtjährige einer Hortgruppe stürzen | |
sich freudig auf die Früchte. Mit vollen Mündern sammeln sie auf, was sie | |
können. | |
Ohne zwei, drei Äpfel gegessen zu haben ,verlässt kein Besucher die | |
Obstversuchsstation in Müncheberg in Märkisch-Oderland. Auch die 30 | |
Studenten einer Gartenbauhochschule aus Berlin kehren mit übervollen | |
Rucksäcken aus dem Garten Eden zurück. Wer zu Fortbildungszwecken kommt, | |
darf gratis Obst mitnehmen. Ansonsten zahlen Selbstpflücker 1 Euro pro | |
Kilo. Für die Äpfel, die man dafür bekommt, ist das beinahe geschenkt. | |
## Genreservoir für alte Sorten | |
Aber die 32 Hektar große Versuchsstation ist mehr als nur ein Paradies für | |
Sammler. 1.000 Apfelsorten gehören zum Bestand. Überwiegend seien das | |
Sorten, die während der letzten 200 Jahre im deutschsprachigen Raum | |
vertrieben wurden, erzählt Hilmar Schwärzel. Der 58-jährige Agraringenieur | |
leitet die Station seit fast 30 Jahren. | |
In grüner Jacke, Hut und Stiefeln kommt Schwärzel mit der Studentengruppe | |
vom Feld. Neben ihm läuft sein Jagdhund. Schwärzel, ein bestimmt | |
auftretender Typ mit einem Habitus, der an einen Schulmeister erinnert, ist | |
in seiner Freizeit Jäger. | |
Die Obstbau-Versuchsstation ist schon alt. 1928 war sie als Kaiser Wilhelm | |
Institut für Züchtungsforschung gegründet worden. Unter Schwärzel ist sie | |
zu dem geworden, was sie heute ist: ein Genreservoir für alte Sorten. | |
Die rot gestreifte, gelbe Schafsnase – markanteste Apfelsorte des frühen | |
19. Jahrhunderts – findet sich hier. Oder die Borsdorfer Renette. Der | |
flachkugelige gelbe Tafel- und Lagerapfel ist die älteste Sorte in | |
Brandenburg. Seit über 800 Jahren ist sie hier bekannt. Schwärzels Augen | |
blitzen, wenn er von den alten Sorten erzählt. Der Mann verfügt über einen | |
unglaublichen Wissensfundus. Gern gibt er ihn weiter. | |
## Prämien für Abholzung | |
In beiden Teilen Deutschlands wurden in den 70er Jahren viele Bäume auf | |
Streuobstwiesen abgeholzt. „Das war politischer Wille“, erzählt Schwärzel. | |
Die Altbestände mit ihren 1.500 Sorten hätten den Absatz der neuen, Obst | |
erzeugenden Industrie gestört. In der Bundesrepublik wurden dafür Prämien | |
gezahlt. In der DDR verschwanden die Streuobstwiesen bei der | |
Flächenzusammenlegung im Zuge der Kollektivierung der Landwirtschaft. | |
„Heute merken wir, was wir damit eigentlich kaputtgemacht haben.“ | |
Die Gehölze der alten Sorten können sehr alt werden. Für Tausende von | |
Organismen sind sie ein Rückzugsraum. 85 Prozent der Insekten sei der | |
Argarlandschaft so verlustig gegangen, rechnet Schwärzel vor. „Die | |
Ornithologen schlagen Alarm, weil Vögel wie die Feldlerche keine Nahrung | |
mehr finden“. | |
Die neuen Sorten gehen laut Schwärzel auf einen Genpol von vier Sorten | |
zurück. „Das muss man sich mal auf der Zunge zergehen lassen“, sagt er. Das | |
Ergebnis der Züchtungen seien Hochleistungsträger, die Massenware | |
produzieren, sich deshalb schnell in ihrer Lebenszeit erschöpfen. | |
Die ältesten noch erhaltenen Apfelalleen zwischen den Landkreisen | |
Märkisch-Oderland und Oder-Spree stammen von 1804. „Da gibt es Bäume mit | |
über drei Meter Stammumfang“, erzählt Schwärzel. Diese Sorten hätten Wint… | |
überlebt, die früher deutlich länger und härter waren. „Wenn jemand eine | |
Antwort auf den Klimawandel finden möchte, findet er sie hier und nicht in | |
den zehn Sorten, die gerade Mode sind“. Die obstgenetischen Ressourcen, so | |
das Credo des Stationsleiters, seien die Vergangenheit, die Gegenwart und | |
die Zukunft des Obstanbaus. | |
Das Paradoxe ist: Seit Jahren scheint es so, als drohe der | |
Obstbauversuchsstation das Aus. Nach der Wende gab es dort noch 16 | |
Mitarbeiter, heute sind es nur noch vier: Schwärzel, eine | |
Forschungsingenieurin und zwei gärtnerische Hilfskräfte. Der Hintergrund | |
ist, dass sich das Land Brandenburg auf seine Pflichtaufgaben konzentriert | |
hat. Forschung sei Aufgabe von Exellenzuniversitäten und Instituten, sagt | |
die zuständige Referatsleiterin beim Landwirtschaftsministerium, Irene | |
Kirchner. | |
Von einer schleichenden Abwicklung könne aber keine Rede sein. Soeben sei | |
im Ministerium der Beschluss gefallen, die Erhaltung des Baumbestands als | |
genetische Ressource dauerhaft zu sichern. Eine „auskömmliche Finanz- und | |
Personalausstattung“ für Schwärzel und drei Mitarbeiter werde | |
bereitgestellt. Einer Bürgerinitiative, die sich für den Erhalt der | |
Versuchsstation einsetzt, genügt das nicht. „Mit vier Stellen ist man nicht | |
arbeitsfähig“, sagt Kerstin Helmich, die Sprecherin der Initiative. Schon | |
seit 2013 sei die Station nicht mehr in der Lage zu forschen. „Das Land | |
Brandenburg verschenkt hier Pfunde, mit denen es eigentlich wuchern | |
könnte.“ | |
## Am Ende der Saft | |
Janek Nietsch in Tiefensee hat solche Sorgen nicht. Seine Lohnmosterei | |
funktioniert. Vor der Scheune wartet schon der nächste Kunde. Das | |
Thermometer am Tank zeigt 80 Grad. So heiß muss der Saft sein, wenn er in | |
die Flasche kommt. Dann muss gleich der Deckel drauf, sonst hält sich der | |
Saft nicht. Nietsch hantiert in Eile, seine Brille ist beschlagen, die | |
Haare im Nacken schweißnass. Von den Gummihandschuhen tropft der Saft, der | |
Boden klebt. Dann – geschafft. | |
150 Kilo Äpfel von Streuobstwiesen hatte der Handwerker gebracht. 93 Liter | |
Most bekommt er zurück. Die Kosten: 89,33 Euro. Glasflaschen und | |
Plastikbehälter inklusive. | |
Plopp macht es. Zur Feier des Tages gibt der Bauer einen frisch Gepressten | |
aus. Eine dunkelgelbe trübe Flüssigkeit rinnt ins Glas. Prost! „Mmh“ sagt | |
der Handwerker und strahlt, „100 Prozent Apfelsaft pur.“ | |
Dieser Text ist Teil des Schwerpunkts der Wochenendausgabe 15./16. Oktober. | |
Darin außerdem: Wo der Apfel eigentlich herkommt und eine kurze Abhandlung | |
des Apfels in der Kunstgeschichte. | |
15 Oct 2016 | |
## AUTOREN | |
Plutonia Plarre | |
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