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# taz.de -- Biographisches Interview zu jüdischer Kultur, Musik und Gesetzen: …
> Daniel Kühnel ist Intendant der Hamburger Symphoniker und jüdischen
> Glaubens. Ins klassische Konzert zu gehen heißt, sich gegen den Terror zu
> wehren, sagt er
Bild: Einfach oder komplex? Die Art, wie man die Welt versteht, macht laut Küh…
taz: Herr Kühnel, wie gerät ein Jurist ins Musikmanagement?
Daniel Kühnel: Ich war seit meiner Kindheit fest entschlossen, etwas zu tun
in dem Bereich, in dem ich es heute tue. Ich wusste zwar früh, dass ich
niemals gut genug sein würde, um Pianist zu werden, wollte aber so nah wie
möglich an der Musikwelt sein.
Aber zunächst haben Sie Jura studiert.
Ja. Denn erstens dachten meine Eltern, dass ich einen anständigen Beruf
haben sollte. Zweitens haben mich Familien-, Erb- und Urheberrecht
interessiert, ich war eine Zeitlang Assessor in einer großen
Anwaltskanzlei. Allerdings habe ich schon während des Studiums viel an der
Oper hospitiert. Und als sich 2004 die Möglichkeit ergab, Intendant der
Symphoniker Hamburg zu werden, war ich sofort entschlossen.
Apropos Recht und Gerechtigkeit: Halten Sie als Jude alle 613 Regeln der
Tora ein?
Ich halte sie nicht ein – wie viele nicht orthodox lebende Juden. Mit
Gerechtigkeit haben diese Regeln nichts zu tun. Sie wirken vielmehr in den
Alltag hinein und bestimmen, was man isst, welche Kleidung man trägt, wie
das Sexualleben aussieht und so weiter. Wie beim jüdischen Gebet sind es
sozusagen Formeln, die für sich stehen und keine Begründung mitliefern.
Ein Beispiel?
Die Regel lautet nicht: „Du sollst kein Schwein essen, weil Schwein in der
Hitze schnell verdirbt.“ Vielleicht ist dies der Ursprung. Ein orthodoxer
Jude aber glaubt einfach, dass es Gottes Gebot ist. Punkt.
Halten Sie den Schabbat ein?
Der Schabbat ist die wichtigste dieser Regeln und besagt, dass man an
diesem Tag alles liegen lassen soll. So streng halte ich ihn nicht ein.
Inwiefern leben Sie dann noch Ihr Judentum?
Ich gebe Ihnen eine nicht persönliche Antwort: Genau diese Frage hat der
1994 verstorbene jüdische Philosoph Yeshayahu Leibowitz als Kernproblem
heutigen jüdischen Denkens bezeichnet: Was das Volk des Judentums heute
ist, wenn es nicht mehr das Volk des Gesetzes – der Halacha – ist.
Vielleicht „Kulturjuden“?
Zweifellos hat das jüdische Denken eine bestimmte Art hervorgebracht, die
Welt zu sehen: Wie man Dinge sieht, was man lustig findet, ob man die Welt
einfach oder komplex findet. Wenn man das „Kulturjudentum“ nennen möchte,
kann man es tun. Andererseits: Juden in den USA sind kulturell anders
geprägt sind als Juden in Israel oder Deutschland. Was genau ist also ein
Kulturjude? Ich mag das Wort nicht.
Mit wie vielen Kulturen und Sprachen sind Sie selbst aufgewachsen?
Meine Muttersprache ist Hebräisch – wobei die erste Sprache, die ich
geplappert habe, wohl Deutsch war. Ich war als Zwei- oder Dreijähriger in
Deutschland, weil meine Eltern ein Promotionsstipendium in Berlin hatten.
Als ich fast vier war, gingen wir zurück nach Israel, und auch nach 23
Jahren in Deutschland denke ich in manchen Dingen hebräisch.
Ihre Eltern stammen aus Rumänien. Sprechen Sie die Sprache?
Ja. Meine Eltern sprachen zu Hause untereinander viel Rumänisch, und ich
sprach es mit meiner Großmutter.
Woher genau kommen Ihre Eltern?
Sie sind in Rumänien geboren. Meine Mutter entstammt einer Familie, die in
der rumänischen Region Moldawien lebte. Der Vater meines Vaters kam aus dem
böhmischen Krumau, lebte später in Weimar und ging in den 1920er-Jahren
nach Rumänien, wo er zum zweiten Mal heiratete. Aus dieser Ehe stammt mein
Vater. Meine Eltern haben sich auf einer Bibliothekarsschule kennengelernt,
weil sie im sozialistischen Rumänien nicht studieren durften.
Warum nicht?
Der Vater meiner Mutter hatte gleich nach dem Zweiten Weltkrieg den
Ausreiseantrag nach Palästina, später Israel, gestellt. Also durfte meine
Mutter nicht studieren. Meinem Vater wurde das Studium wegen seiner
deutschen Herkunft verweigert.
1964 wurde der Ausreiseantrag genehmigt – nach 19 Jahren.
Ja. Meine Großeltern und meine Eltern mussten dann innerhalb zweier Monate
das Land verlassen haben – nur mit dem, was sie am Leibe trugen. In Israel
zogen sie zunächst in die Nähe von Tel Aviv zu den Schwestern meines
Großvaters.
Wie haben Ihre Eltern die Ankunft in Israel empfunden?
Ich glaube, es war nicht leicht. Meine Mutter hatte seit ihrer Kindheit
gehört: „Wenn wir im Gelobten Land sind, wird alles besser.“ Und dann kamen
sie an, hatten nichts, und es war heiß, sandig, staubig. Für jemanden, der
aus dem sehr grünen Rumänien kam, muss das zunächst ein Schock gewesen
sein.
Haben sie sich akklimatisiert?
Ja. Sie lernten die Sprache schnell und begannen in Jerusalem Geschichte
und Kunstgeschichte zu studieren. Meinen Großeltern fiel die Eingewöhnung
sicher schwerer. Wobei mein Großvater Synagogen-Hebräisch sprach und
schnell eine Stelle fand. Aber es war ein Neuanfang mit nichts.
Acht Jahre später wurden Sie geboren. Hat man Sie religiös erzogen?
Nein.
Obwohl Ihre Großeltern fromme Juden waren.
Das ist sehr weit verbreitet in der jüdischen Welt. Noch größer ist die
Kluft in der Generation davor: Meine Urgroßeltern lebten komplett nach dem
jüdischen Gesetz, da durfte am Schabbat nicht einmal geraucht werden. Meine
Großeltern waren lockerer, hielten sich aber noch weitgehend an die Gebote.
Aber Ihre Familie hat sich nie vom Judentum losgesagt?
Nein.
Immerhin waren sie in Israel sozusagen an der Quelle …
Der Staat Israel ist keine Quelle des Judentums. Er definiert sich als der
Staat des jüdischen Volkes, hat aber mit dem jüdischen Gesetz an sich keine
Verbindung. Er bedeutet zwar vielen Juden sehr viel – auch mir. Als Jurist
sage ich aber: Aus Sicht des jüdischen Gesetzes hat der Staat Israel keine
Bedeutung.
Welche Rolle spielte das Thema Holocaust in Ihrer Familie?
Meine Großeltern hatten in Rumänien, das bis August 1944 mit dem
nationalsozialistischen Deutschland kollaborierte, unter Repressionen zu
leiden. Sie mussten sich verstecken, meine Großmutter hat meinen Großvater
aus einem Deportationszug gerettet. Wie, weiß ich bis heute nicht genau.
Wie kam es in Israel an, als Sie 1991 zum Studium nach Deutschland gingen?
Meine Familie fand es unproblematisch, aber viele Mitschüler hatten ein
Problem damit. Die Zuzugswelle junger Israelis nach Berlin begann ja erst
viele Jahre später. 1992 war Berlin noch nicht so en vogue.
Erleben Sie hier Antisemitismus? Haben Sie manchmal Angst?
Ich möchte Antisemitismus nicht erleben. Und was das Angsthaben betrifft:
Seit ich während des ersten Irakkriegs in Jerusalem im Abitur stand und mir
nachts eine Gasmaske anziehen musste, um in einem abgedunkelten Raum auf
Entwarnung zu warten, ist mir diese Art Angst abhanden gekommen.
Aber Sie befürchten keine Attentate?
Nein. Meine größte Sorge ist, dass wir uns an die Zunahme von Attentaten
gewöhnen.
Wie lässt sich das vermeiden?
Indem man Komplexität akzeptiert, keine einfachen Antworten gibt, obwohl
man mit sehr primitiven, gewalttätigen Mitteln angegriffen wird. Indem man
nicht in dieses „Die tun uns das, also tun wir denen auch was“ verfällt.
Andererseits darf man nicht in ein Larifari verfallen nach dem Motto: „Wir
haben uns alle lieb und lassen alles mit uns machen.“ Das ist ein komplexer
Zustand.
Was können Kulturschaffende tun?
Darauf hinweisen, dass die westliche Zivilisation und Philosophie über
viele Jahrtausende erfolgreich um Methoden gerungen hat, mit komplexen
Situationen umzugehen und zivilisierte Antworten auf Brutalitäten zu
finden.
Wie haben Sie das in Israel erlebt?
Ich hatte das Glück, in einem geistvollen Umfeld aufzuwachsen, das mir im
Rückblick wie ein Gegenpol zu der Brutalität erscheint, die wir außen
erlebten. Ich habe ein Musik- und Tanzgymnasium besucht, wo uns die Lehrer
ständig die Bedeutung zivilisatorischer Werte vermittelten. In den Pausen
stritten wir, wie Passagen eines Chopin-Stücks zu spielen seien. Und wenn
die Berliner Philharmoniker kamen, freuten wir uns wochenlang, etwas sehr
Wichtiges zu erleben.
Inwiefern war das wichtig?
Wir gingen nicht ins Konzert, um zu konsumieren, sondern um daran zu
wachsen. Dieser geistig aktive Zustand ist ein sehr effektiver Umgang auch
mit den Brutalitäten, die Europa in den letzten Monaten erlebt hat. Wenn
sich 2.000 Menschen auf der Straße versammeln, heißt das „Demonstration“.
In der Hamburger Laeiszhalle …
…deren Residenzorchester bald die Symphoniker bilden …
… und bald auch in der Elbphilharmonie kommen ebenfalls 2.000 Menschen
zusammen. Ich behaupte nicht, dass sie demonstrieren, aber sie tun etwas.
Diese Art des Handelns ist existenziell für unser Überleben als
zivilisierte Gesellschaft.
31 Oct 2016
## AUTOREN
Petra Schellen
## TAGS
Judentum
Hamburger Symphoniker
Klassische Musik
Hamburger Symphoniker
Elbphilharmonie
Westjordanland
Synagoge
Kunst Berlin
Schwerpunkt Gender und Sexualitäten
Graphic Novel
Elbphilharmonie
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