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# taz.de -- Kolumne Behelfsetikett: Kalter Hund und Sternburger Bier
> Vom Medienhype rund um die Rigaer Straße hält unser Autor so gar nichts.
> Denn sein Kiez hat andere Probleme.
Bild: Auch wenns schön ist, Kaffeetrinken ist nicht alles im Leben
|Den medialen Rummel um die Ereignisse in der Rigaer Straße halte ich für
übertrieben. Meine These lautet: Den meisten BewohnerInnen des Nordkiezes,
in dem die Rigaer94 liegt – also in dem Teil Friedrichshains nördlich der
Frankfurter Allee nach Prenzlauer Berg hin –, ist es ziemlich egal, was da
in der Nachbarschaft vor sich geht.
„Ist ja immer das Gleiche“, hat meine Stammfriseurin in der Ebertystraße
neulich ganz richtig zusammengefasst, als bei mir mal wieder Haareschneiden
angesagt war. Ich murmele zustimmend: „Ist halt Wahlkampf!“, und sie
schiebt hinterher: „Die Leute hier haben andere Sorgen.“ Und fragt dann
auch gleich beispielgebend, ob ich schon gehört habe, dass nebenan im
kleinen Einkaufsladen eingebrochen wurde? Nachts, als geschlossen war,
wurde dem vietnamesischstämmigen Besitzer der ganze Tabakbestand
ausgeräumt. Milch, Gemüse und Tütensuppen wollte dagegen niemand klauen.
In meinem Stammcafé in der Thaerstraße bin ich mindestens zweimal die
Woche. Die Rigaer liegt um die Ecke, keine zwei Minuten Fußweg – und doch
ist sie irgendwie meilenweit entfernt, mental. So muss es in einem
Paralleluniversum zugehen: Da tobt an einer Stelle der Klassenkampf, und
einen Pflastersteinwurf entfernt herrscht idyllische Stille. Hier
Punkmusik, Sternburger Bier, Glasscherben und Polizeiauflauf, dort
Clubsound, Cortado, Zimtschnecken und gefegte Bürgersteige. Und es gibt
überhaupt keine Überschneidungen, aber Übergänge: Man muss nur um eine
Straßenecke biegen, schon ist man in einer anderen Welt.
Apropos Cafés: Davon machen jetzt immer mehr bei uns auf. Der Kaffee im
ganz neuen Café (seit Ende Juli offen) gleich nebenan soll richtig gut
sein, gibt mir meine Friseurin noch mit auf dem Weg. Das stimmt. Und dazu
kann man aus einer Palette von verschiedenen „Kalter Hund“-Varianten
wählen. Ich empfehle die klassische Version oder die mit einem
Erdnusbutterkern, die weißen Kreationen mit Mohn oder Minze sind ebenfalls
sehr lecker. Tja, der Nordkiez holt in Riesenschritten auf. Einerseits.
Andererseits: Das mit den „andere Sorgen haben“ stimmt natürlich. Kaffee
trinken gehen ist ja nicht alles im Leben. „Jeder hat sein Päckchen zu
tragen“, hat meine Oma immer gesagt. Seit zwei Wochen steht in großen
Lettern handgeschrieben auf der Schaufensterscheibe der Ergotherapeutin
zwei Straßen weiter eine herzzerreißende Botschaft: „Unser Nachbar Lutz
hier aus der Kochhannstraße braucht unsere Kiezhilfe.“ Leider wurde
vergessen, dazuzuschreiben, worin die Probleme bestehen und wie man
tatsächlich helfen könnte.
In einem anderen Fall weiß ich es: Die neue Obdachloseneinrichtung im
Nachbarhaus ist ebenfalls auf Solidarität aus dem Kiez angewiesen. Es
werden Einrichtungsgegenstände gesucht, die das Leben der temporären
Bewohner angenehmer machen sollen, Geschirr, Bettwäsche oder Elektrogeräte,
solche Sachen. Ich will demnächst mal durchsehen, was ich zu viel von allem
habe und was davon noch gut genug ist, um es weiterzureichen.
Dazu passt die Geschichte, die ich kürzlich im Südkiez erlebte, wo ich mir
einmal im Quartal – bio hin oder hin – einen Doppelwhopper (mit Käse)
gönne. Als ich in den Imbisskettenladen an der Frankfurter Allee
hineingehe, steht am Tresen schon ein älterer Herr, offensichtlich mit dem
Rollator gekommen, der vor der Tür geparkt ist. Der Mann geht sehr unsicher
auf seinen dünnen Beinen, wirkt angeschlagen, schwer krank oder betrunken
und riecht penetrant. Er kriegt kein Wort über die Lippen, als ihn eine
resolute Tresenkraft mit sichtlichem Widerwillen nach seinen Wünschen
fragt.
Doch da kommt eine Kollegin von hinten hinzu, fragt gar nichts, fackelt
aber nicht lange – und greift sich einen fertigen Burger und drückt ihn
samt Serviette in die Hand des wortlosen Bittstellers. Der zieht von
dannen, ganz langsam, aber zielstrebig nach draußen zum Rollator, lässt
sich auf einer Steinstufe nieder und beginnt zu essen. „Na wat denn“, sagt
die nette Kollegin zur andern, die verdutzt dreinschaut: „Der hatte Hunger,
oder wat meinst du, wat der wollte?“
21 Aug 2016
## AUTOREN
Andreas Hergeth
## TAGS
Friedrichshain
Rigaer94
Kaffee
BND
Friedrichshain
Frank Henkel
Schwerpunkt Landtagswahlen
Matthias Kollatz-Ahnen
Loveparade
Rigaer Straße
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