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# taz.de -- Kolumne Behelfsetikett: Stiller Ort mit Lebensbaum
> Frühmorgens dreht unser Autor gern ein paar Runden auf seinem
> Lieblingsfriedhof in Friedrichshain. Doch nun bedroht ein Bauprojekt das
> Idyll. Zum Kotzen.
Bild: Auch sein Wohnraum wird stets knapper: Kleiber kopfunter an einem Baum
Am liebsten drehe ich frühmorgens eine Runde, noch vor Dienstbeginn. Dann
ist hier alles still. Kein Mensch ist unterwegs, nur die Vögel sind schon
putzmunter. Mitten in der Metropole liegt meine Oase der Ruhe, zwischen
Landsberger Allee und Friedenstraße in Friedrichshain. Von Mauern umgeben.
Eine Viertelstunde nur, dann habe ich meinen Lieblingsfriedhof
durchschritten.
Ich nehme meist die gleichen Wege. Das sind die ganz alten ausgetretenen
Pfade, schmal und holprig – die neuen Wege sind viel breiter und platt
planiert. Sie führen oft an uralten Gräbern vorbei, die 100 und mehr Jahre
auf dem Buckel haben. Gründerzeitgräber mit wunderschönen schmiedeeisernen
Zäunen, wuchtigen Grabsteinen, überdimensionierten Grüften.
Einige kulturhistorisch wertvolle Grabanlagen sind restauriert. Eine ist
vor ein paar Jahren eine Grabstelle für Obdachlose geworden, eine andere
gibt Sternenkindern eine letzte Ruhestätte. Aber die meisten verfallen ganz
langsam immer mehr. Die sind mir die liebsten.
Überall gibt es Ecken, die haben etwas Verwunschenes. Es rostet, es
bröckelt, es wuchert. Bäume sind durch Zäune gewachsen, haben sie verbogen
und emporgehoben. Sträucher und Gräser, Kräuter und Farne schufen eine Art
Traumzauberwald. Mein absoluter Lieblingsort ist eine gut 50 Meter lange
Allee aus Thuja, also Lebensbäumen, ziemlich einmalig, denke ich, sie sind
wohl vier Meter hoch und haben ewig keine Schere gesehen. Ein mystischer
Wandelgang.
## Gräberfelder werden aufgegeben
Er ist in Gefahr. Wie überhaupt viele meiner Lieblingsecken und
Lieblingswege hier. Denn mehrere Gräberfelder werden aufgegeben. Ein
Aushang des Evangelischen Friedhofsverbandes Berlin Stadtmitte informiert
darüber, dass auf den „ausgewiesenen Flächen“ die Ruhezeiten von Gräbern…
diesem Jahr enden – hier fanden 1996 die letzten Erd- oder
Urnenbeisetzungen statt. In Berlin ist laut Bestattungsgesetz eine
Totenruhe von 20 Jahren vorgesehen. Dann werden die Gräber aufgelöst, dem
Erdboden gleichgemacht und die Grabsteine entsorgt.
Ich nehme stets den Eingang an der Landsberger Allee vis-à-vis dem
Krankenhaus und dem Volkspark. Ein paar Meter weiter steht schon seit
Monaten ein Schild, das für ein Wohnhausprojekt „Walden 48“ wirbt. Ich
wollte immer mal googeln, worum es dabei geht und wo gebaut werden soll.
Jetzt weiß ich es. Genau hier. Da, wo das Schild steht. Auf meinem
Lieblingsfriedhof.
Die ersten Urnengräberfelder sind dort bereits verschwunden, vor zwei
Wochen waren sie noch da, jetzt sieht man die blanke Erde. Und ein Teil
einer Hecke wurde gleich mit entsorgt, das wirkt nicht nur wie eine
Leerstelle, sondern ist auch eine – und wahrscheinlich Wendeplatz für die
Baufahrzeuge.
## Werben mit dem Blick ins Grüne
Die Bauherren werben auf ihrer Homepage mit den Vorzügen der Lage und haben
ja recht: „Vom Haus ergibt sich auf der ruhigen Südseite ein weiter Blick
über den Friedhofspark. Straßenseitig blickt man über die historischen
Klinkereingangsgebäude des Vivantes Klinikums auf den Volkspark
Friedrichshain und den Fernsehturm.“
Es wird ein Haus errichtet, gegen das man im Grunde genommen nichts haben
kann. Es wird zu großen Teilen aus Holz gebaut. Doch es verändert das
Erscheinungsbild des Friedhofs total. Und ist erst der Anfang. Die nun
aufgegebenen Gräberfelder, es sind gleich mehrere Flächen, sollen ebenfalls
bebaut werden. Diesmal entlang der Auer- und Richard-Sorge-Straße, entlang
der Friedhofsgrenzen, genau da, wo mein Lieblingsweg entlangführt, auf die
Thuja-Allee zu. Hier will der Senat in naher Zukunft Wohnhäuser bauen
lassen.
Ich will gar nicht Flora und Fauna ins Feld führen. Oder den
Erholungseffekt. Und auch nicht, wie wichtig unbebaute Flächen wie große
alte Friedhöfe für Atemluft und Klima in einer so verstaubten und im Sommer
überhitzten Stadt wie Berlin sind – Stichwort „Kaltluftschneise“. Und ich
weiß, dass es immer mehr Wohnungen braucht. Aber doch nicht hier. Um es
kurz zu machen: Das ist zum Kotzen.
6 Nov 2016
## AUTOREN
Andreas Hergeth
## TAGS
Friedrichshain
Wohnen
Friedhöfe
Friedrichshain
Fête de la musique
Schwerpunkt Rot-Rot-Grün in Berlin
Fernsehen
BND
Schwerpunkt Landtagswahlen
Friedrichshain
Behelfsetikett
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