# taz.de -- Emotionsverstärker: Die Pathos-Experten | |
> Das Theater Kiel hat die Hamburger Band Kettcar beauftragt, aus Schillers | |
> „Die Räuber“ eine Rockoper zu machen. | |
Bild: So sieht's aus im Moor'schen Haus: Der fiese Franz auf der Leinwand und a… | |
KIEL taz | Oje, Schillers „Räuber“, und dann auch noch als Rockoper. Zwei | |
Staubfänger treffen aufeinander, wobei Schiller immerhin Schullektüre ist, | |
während die Rockoper nur ein totes Gleis der Popgeschichte belegt, erfunden | |
zu einer Zeit, als eine E-Gitarre im Theater noch etwas Aufregendes war. | |
Rockoper, das kommt aus dem Jahr 1969, als die Band The Who ihr | |
Konzeptalbum Tommy veröffentlichte. Danach ist nicht mehr viel gekommen. | |
Beim Rockoper-Projekt des Kieler Theaters übernimmt Intendant Daniel | |
Karasek die Inszenierung und Marcus Wiebusch sowie Reimer Bustorff von der | |
Hamburger Band Kettcar machen die Musik. Alle können voneinander | |
profitieren: Das Kieler Theater bekommt Aufmerksamkeit für seinen Mut zum | |
Antiquierten und Kettcar macht mal wieder von sich reden, nachdem das | |
letzte Album im Jahr 2012 erschienen ist. | |
Auf der Bühne sitzen dann sechs Theatermusiker, die nicht zu Kettcar | |
gehören, im Erdgeschoss eines Hauses, in dessen geöffnete Rückseite die | |
Zuschauer hineinblicken. Das Haus ist ein moderner Bungalow mit verglasten | |
Wänden. Im ersten Stock stehen ein weißer Flügel und ein weißer | |
60er-Jahre-Stuhl. Im zweiten Stock steht ein weißes Sofa. Alles hier ist | |
weiß, weiß wie die Unschuld, aber auch weiß wie die Wohnung eines | |
neureichen Unternehmers der 80er. So sieht Bühnenbildner Lars Peter das | |
Schloss der Familie von Moor. Das ist der linke Teil der Bühne. | |
Der rechte Teil besteht aus einem silbern glänzenden Schiffs-Container, auf | |
dem ein Baum liegt. Das ist die Welt der Räuberbande, die von Karl von | |
Moor, dem erstgeborenen Sohn des alten Moor, angeführt wird. Die Kieler | |
Theaterleute haben die Welt der Räuber von den böhmischen Wäldern an die | |
Kieler Förde verlegt, und das aus gutem Grund: Die Bühne dieser | |
Freiluftinszenierung befindet sich am Kieler Seefischmarkt. Die Zuschauer | |
sehen hinter der Bühne die Masten der Schiffe im Wasser schwanken und hören | |
die Möwen kreischen. Sinnlos, gegen diese Rahmenbedingungen | |
anzuinszenieren. | |
In der Mitte der Bühne ist eine Videoleinwand aufgebaut, die von Zeit zu | |
Zeit eingesetzt wird, um das Geschehen auf der Bühne durch | |
Videoeinspielungen zu illustrieren und emotional zu intensivieren. Jeder | |
soll das Stück verstehen, auch die, die noch nie zuvor von den „Räubern“ | |
gehört haben. | |
Der alte Moor kommt angefahren in einem neuen Mercedes. Seine Haare sind | |
speckig und grau, dazu trägt er Anzug und weißes Hemd. Er könnte selbst ein | |
Krimineller sein, ist er aber nicht. Der alte Moor ist ein guter Patriarch, | |
der den Idealismus seines abwesenden Sohnes Karl liebt und die Egozentrik | |
seines am Hof präsenten, zweitgeborenen Sohnes Franz hasst. Franz will den | |
Bruder Karl ausbooten, indem er den Vater dazu bringt, Karl zu verstoßen. | |
Das gelingt – und treibt Karl dazu, der Hauptmann der Räuber zu werden. | |
Musikalisch startet die Rockoper mit einem Rap. Der intrigante Franz packt | |
seinen Nihilismus in Zeilen wie „Ihr seht den Menschen, das Volk und die | |
Leute / ich seh die Jagd, den Kampf und die Beute.“ Getextet hat das nicht | |
Schiller, sondern Wiebusch. Und die Musik dazu klingt nicht nach Kettcar, | |
sondern nach textdienlicher Theatermusik, in diesem Fall mit elektronischen | |
Sounds umgesetzt. | |
Generell ist es so, dass sich Wiebusch und Bustorff in den Dienst des | |
Stückes gestellt haben, und nicht umgekehrt. Die Kieler „Räuber“ sind kein | |
Kettcar-Konzert mit Bezug auf Schiller, sondern eine musikalisch | |
angereicherte Inszenierung des Textes. Wie in einem Musical wechseln die | |
Schauspieler regelmäßig vom Sprechtheater zur Gesangsperformance, wobei die | |
gesprochenen Passagen quantitativ überwiegen. | |
Der Gesang der Schauspieler ist nicht besonders kunstfertig, es bleibt | |
jederzeit hörbar, dass hier Schauspieler und keine Musical-Darsteller am | |
Werk sind. Aber das macht nichts. Es unterstreicht vielmehr, dass die Musik | |
hier kein Selbstzweck ist, sondern dazu dient, das Drama und seine | |
Charaktere durch eine musikalischen Ebene zu vertiefen – so, wie die | |
Videoleinwand dazu dient, den Text filmisch zu verdoppeln. Alles läuft auf | |
Deutlichkeit hinaus. Die Kieler „Räuber“ wollen auf den Punkt kommen. Die | |
SchauspielerInnen verausgaben sich dafür. | |
Es ist ein kraftvoller Zugriff, der gelingt, weil er die Energie der | |
Vorlage zur Blüte bringt. Schiller geht mit den „Räubern“ selbst in die | |
Vollen, lässt brandschatzen, vergewaltigen, den Bruder ausbooten, den Vater | |
ermorden. Zudem gibt es eine tragische Liebesgeschichte: Als Sohn Karl die | |
Schandtaten des Bruders realisiert, erkennt er auch, dass die geliebte | |
Amalia immer noch auf ihn wartet. Aber eine Rückkehr in sein altes Leben | |
kommt nicht infrage, da Karl seiner Räuberbande die Treue geschworen hat. | |
Wiebusch und Bustorff gelingt es, Schillers Pathos in zeitgemäße Songs zu | |
übersetzen. Was dabei hilft und immer wieder durchscheint, ist die | |
pathetische Melancholie, für die Kettcar bekannt ist. Die Rechnung, dass | |
Wiebusch und Bustorff das Pathetische können, das Schiller vorgibt, geht | |
auf. | |
Es gibt allerdings nur einen Song, der das Potential hat, jenseits der | |
Inszenierung Bestand zu haben. Er heißt „Tod oder Freiheit“ und ist der | |
Song, den die Räuber singen, als sie das erste Mal von der Polizei gestellt | |
werden. „Tod oder Freiheit“ ist eine gerade Rocknummer mit nur einer | |
Irritation: „Wir sind eine Idee“ heißt es im Text und man fragt sich: | |
Welche Idee? Die Kieler Räuber sind keine Idee, sie waren vielleicht mal | |
eine, aber jetzt sitzen sie in schwarzen Lederhosen und Militärklamotten am | |
Lagerfeuer, hören „London Calling“ von The Clash und zerlegen sich | |
gegenseitig. | |
Was auch verwundert, ist das Ende: Regisseur Daniel Karasek spart sich den | |
Tod von Amalia. Er lässt die Inszenierung abrupt enden und nimmt damit Karl | |
ein gutes Stück seiner Tragik. Da fehlt etwas. Andererseits kann man sagen: | |
In den rund zweidreiviertel Stunden zuvor war Tragik genug. Und niemand | |
könnte am Ende dieses Abends sagen, dass er nicht wüsste, wer Karl ist. | |
Applaudiert wird im Stehen. | |
4 Jul 2016 | |
## AUTOREN | |
Klaus Irler | |
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