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# taz.de -- Neues Album von Kettcar: Wie ein Bengalo in der Nacht
> The System makes me a Säuseler: An der Hamburger Indie-Band Kettcar und
> ihrem neuen Album „Gute Laune, ungerecht verteilt“ scheiden sich die
> Geister.
Bild: In der Mitte steht der Chef: Marcus Wiebusch und Kollegen sind die Hambur…
Die Hamburger Rockband Kettcar stimuliert in auffällig vielen Hörerinnen
und Hörern eine intensive Ablehnung, die sich hochschrauben kann bis zur
Verachtung – vor allem, was die Befindlichkeitssongtexte von Marcus
Wiebusch angeht. Ebenso zahlreich sind ihre Fans, die die Musik von Kettcar
ähnlich unnachgiebig verteidigen, wie die Verächter:Innen sie ablehnen.
Wie kommt man bei dieser Gemengelage und mit dem neuen Kettcar-Album „Gute
Laune, ungerecht verteilt“ in den Ohren zu etwas, das über ein bloß
subjektives Geschmacksurteil vielleicht hinausgeht?
Probieren wir es mal so: Im Pop geht es immer auch um die Frage, was das
für ein Typ (m/w/d) ist, der oder die da oben singt. Also nicht: Wer ist
das wirklich, sondern: Was wird mir über diese Stimme und den Sound als
Gefühl, was wird zur Identifikation angeboten? Die Frage ist also nicht
zuletzt, welchen Blick auf die Welt das lyrische Ich den Hörerinnen und
Hörern vorschlägt, als Versprechen und als Resonanzraum für die eigenen
[1][Gefühle] und alles Weitere. Und in diesem Fall eben auch als
Resonanzraum und Ärgernis für die, die Kettcar als linksliberalen Pur-Klon
und Männerschlagerkitschnudelei hassen.
Überall ist Krise, hat Kettcars Bassist und zweiter Songwriter Reimer
Bustorff vor Kurzem im Interview mit dem Rolling Stone diagnostiziert. „Das
laugt mich schon aus. Ich resigniere nicht, aber manchmal neige ich dann
schon zur Berieselung und lese einfach ein gutes Buch.“ Die Haltung zur
Welt ist in diesen Songs entsprechend erschöpft, aber nie ernsthaft
verzweifelt. Den musikalischen Ausdruck dieses Ausgelaugtseins findet man
in der zweiten aus „Gute Laune, ungerecht verteilt“ ausgekoppelten Single
„Doug & Florence“: „Man weiß nicht wie/Man weiß nur dass/Und das hört …
auf“, singt Marcus Wiebusch etwas tranig, aber wohl auch beseelt.
Hoffnung wiederum keimt auch auf diesem Album wieder aus strukturell
bierseligen Momenten der Gemeinschaft, die stimuliert wird mit Euphorie und
Melancholie suggerierenden Bildern. Gern auch mit Zitatverweis für die
nerdigeren Fans: „Alle Pflegerinnen of the world unite/Unite and take
over“. Was dann auf den sehr guten und sehr alten Smiths-Song „Shoplifters
of the World Unite“ anspielt. Und gern mit Bildern, die direkt aus dem
Stadion kommen, „wie ein Bengalo in der Nacht“.
Die Songtexte des neuen Kettcar-Albums sind wieder vollgestopft mit
originellen Metaphern. „Headshotsfriedenstauben, aber an Liebe
glauben/Wenigstens Ziel vor Augen“. So textet jemand, der sich selbst als
Dichter versteht. Das Sinnvollste sei es zu versuchen, irgendwas zu
verbessern, und das am besten nicht allein, das sei einer seiner
Kerngedanken, sagt Wiebusch.
Ein Kerngedanke oder auch ein zentrales Motiv aller Kettcar-Songs scheint
die unhintergehbare Widersprüchlichkeit zu sein, die unter anderem dann
entsteht, wenn der eigene moralische Anspruch mit der Wirklichkeit
kollidiert. Also ziemlich genau das Problem, was [2][Georg Seeßlen] und
Markus Metz als eines der existenziellen [3][Probleme des Kleinbürgertums]
identifiziert haben, als Klasse, deren Angehörige vermitteln müssen
zwischen den Interessen (und der Wut) der Ausgebeuteten und den Interessen
(und der Macht) der Herrschenden. Das tun sie demnach auch noch dort, wo
sie Kritik üben, egal ob linksliberal oder radikal gestimmt. Und zum
Beispiel mit Streicherarrangements unterlegt soziale Ungleichheiten
anprangern: „Nicht alle in Hamburg wollen zu ‚König der Löwen‘“.
Runtergebrochen von der Makro- auf die Mikroebene: Der Eindruck, dass hier
nach wie vor einer seine moralisch rigorose Antifa-Vergangenheit
weiterverarbeitet, drängte sich bis dato noch bei jedem Kettcar-Album sanft
auf. Vielleicht auch, weil die Politpunk-Legende „… but alive“, der
Wiebusch in den Neunzigerjahren vorstand, auch in fast jeder Rezension zu
Kettcar ebenfalls erwähnt wird.
Auf „Gute Laune, ungerecht verteilt“ wird dieses Moment explizit, im
letzten Lied „Der Brief meines 20-jährigen Ichs (Jedes Ideal ein Richter)“,
in dem ich dann auch die einzigen mich berührenden Zeilen des Albums
gefunden habe: „In deinem gespielten Optimismus, den verschollenen Idealen
/In jedem grauen Haar, in deinem Eigenheimsparplan/Den Kitsch in deinen
Texten, deinen Falten im Gesicht/Seh ich, du hast immer noch die gleiche
Angst wie ich“.
## Zyankaligefühl wird erhabene Melancholie
Die Opa-Musikkritiker-erzählt-vom-Krieg-Geschichte „Aus der radikalen
Antifa-Band wurde eine befindlichkeitsfixierte Männerkapelle“ [4][wurde,
wie gesagt, oft angeführt, unter anderem von mir.] Wenn man es in Ruhe
bedenkt, überwiegen allerdings die Kontinuitäten.
Womit wir wieder bei der Frage nach dem lyrischen Ich bei Kettcar wären.
Wie schaut es auf die Welt? Geradezu idealtypisch entfaltet sich die
Perspektive, die Marcus Wiebusch seinen Hörer:innen anbietet, in einem
Song, in dem es tatsächlich darum geht, wie zwei Männer sich etwas
anschauen. Das Stück heißt „Ankunftshalle“, und man findet es nicht auf d…
aktuellen, sondern auf dem Vorgänger-Album „Ich vs. Wir“ (2017). Am Anfang
steht ein etwas diffuser Weltschmerz: „Es war einer dieser Zyankalitage/An
denen wir uns mal wieder umbringen wollten/Weil die Menschen überhaupt
keinen Sinn ergaben“.
Dann aber die Lösung: Auf geht’s zum Flughafen, mit dem Buddy unterm Arm,
Leute gucken. Das beschworene Zyankaligefühl verwandelt sich angesichts der
irgendwie dann doch ganz anrührenden Menschen, die sich Wiebusch und
Bustorf im Clip zum Song mit milden Lächeln betrachten, in erhabene
Melancholie: „Wie die, die viel zu lang weg waren/Die letzten Schritte und
dann:/Umarmen/ Und sie dann einen Augenblick lang/Unsere Leute sind/Und für
Sekundenbruchteile/Mal keine Meute sind“.
Man kann sich verbunden fühlen, aber eigentlich ist man außen vor und steht
drüber. Aber man weiß, dass es anders sein sollte, fühlt das alles sehr
stark und ist entsprechend erschöpft. Seeßlen und Metz sprechen von einer
„manischen Suche des Kleinbürgers, die Welt zu retten, die eigene
moralische Überlegenheit zu betonen und den sozialen Konflikt zu
vermeiden“. Das ist natürlich anstrengend.
Bei Wiebuschs Band „… but alive“ lief das mit dem Konflikt noch anders,
aber das lyrische Ich wollte sich schon damals als geschieden von den
anderen erleben. Nur eben nicht wie heute als Erschöpfter, der ermattet am
Widerspruch zwischen Ideal und Notwendigkeit laboriert, sondern als
aufgepeitschter Systemfeind: „Hass/Ich spreng Bayer weg/Das Geilste ist/Ich
bin im Recht/So gewalttätig wie ihr es seid/Kann ich gar nicht sein“.
Worin unterscheidet sich das Subjekt der Kettcar- und „… but alive“-Songs
von den Menschen der Meute? Ich vermute, in beiden Fällen durch die Tiefe
der Gefühle, durch die eigene Ergriffenheit, die es ihm erlaubt, tiefer zu
blicken, als die anderen es könnten.
Vielleicht ist das auch das, womit die Musik von Kettcar so viele die Wände
hochtreibt. Man spürt, dass das, was Marcus Wiebusch die Kerngedanken
seines Schaffens nennt, am Ende doch arg flach bleibt. Was erst mal nichts
macht, im Gegenteil. Oberflächen und Oberflächlichkeit können wunderschön
sein. Durch die permanente Suggestion von Tiefgründigkeit und großen
Gefühlen aber entsteht der Verdacht, dass Ausgangs-, Endpunkt und
Zentralversprechen hier schlicht von der Ergriffenheit von der eigenen
Ergriffenheit gebildet werden.
Ein tautologischer Zustand, den Kettcar mit ihrer Musik so formvollendet
herbeizuführen wissen wie sonst niemand. Aber er wirkt, offensichtlich.
„Die Verluste des Menschlichen im Kampf zwischen Kapital und Arbeit zu
verarbeiten, überfordert strukturell den Körper, den Geist und die Seele
des Kleinbürgers“, schreiben Georg Seeßlen und Markus Metz. Da hilft dann
zum Beispiel, und das schreibe ich als ein Angehöriger derselben Klasse,
der mit dieser Musik sehr wenig anfangen kann, „Gute Laune, ungerecht
verteilt“ und sorgt für Linderung.
Andere lesen ein gutes Buch. Oder werden über alten „… but alive“-Alben
nostalgisch. Langweilig wird es uns hier jedenfalls nie.
18 Apr 2024
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## AUTOREN
Benjamin Moldenhauer
## TAGS
Musik
Hamburg
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