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# taz.de -- Muslimische Kultur in Deutschland: Und der Islam verändert sich do…
> Die deutsche Gesellschaft verändert die muslimische Kultur. In einem
> Modestudio und in einer Öko-Moschee kann man sehen, wie.
Bild: Isikali Karayel auf dem Zwölf-Apostel-Friedhof in Berlin: „endlich ein…
Berlin taz | Wenn man ein Bild suchen würde, auf dem man sofort sieht, dass
der Islam irgendwie schräg in der deutschen Landschaft steht, dass er nicht
zur deutschen Geschichte gehört, dass er ein „Fremdkörper“ ist, der in
Deutschland „keine Heimat“ finden könne, wie es etwa aus der AfD heißt: A…
dem Zwölf-Apostel-Friedhof in Berlin könnte man es finden.
Man könnte mit dem Geodreieck nachmessen. Denn die Reihen der muslimischen
Gräber liegen nicht im 90-Grad-Winkel zum Gehweg, wie die meisten anderen
Ruhestätten und wie man es im gut geregelten Deutschland erwarten würde,
sondern im 45-Grad-Winkel.
Es ist Teil des islamischen Bestattungsritus, die Verstorbenen mit dem
Gesicht nach Mekka auszurichten, von Deutschland aus gesehen nach Südosten.
Dafür aber wurde der Friedhof nicht angelegt. Seine Wege verlaufen auf
einer Nord-Süd-Achse.
Der muslimische Bereich liegt am Rand des Friedhofs. Seit 2015 gibt es ihn
hier. Ein grüner Ort des Friedens, nur durch eine Mauer vom Autobahnkreuz
Schöneberg getrennt. Mekka liegt hinter dem Kreuz.
## Eine Frage des Mind-Sets
Isikali Karayel, 42, führt ein islamisches Bestattungsunternehmen. Er
plaudert kurz mit den Friedhofsangestellten, die mit Rechen und Schubkarren
neben der Kapelle stehen. Karayel mag diesen Ort. „Endlich ein Platz für
verstorbene Muslime mitten in der Stadt“, sagt er.
Islamkritiker, die es in allen politischen Lagern gibt, halten den Islam
für unvereinbar mit dem Grundgesetz. 61 Prozent der Deutschen – Tendenz
steigend – sind laut einer Studie der Bertelsmann-Stiftung von 2015 der
Meinung, der Islam passe nicht in die westliche Welt. Dass klar getrennt
wird zwischen „Deutschland“ und „Islam“, als wäre eindeutig, was damit
gemeint ist, setzen viele in der politischen Debatte voraus.
Wenn man aber mit einem anderen Blick hinschaut, sieht man keine
Unvereinbarkeit. Man sieht, wie dynamisch deutsche Verwaltungen und
muslimische Interessenvertreter aufeinander zugehen. Man sieht, dass der
Islam nicht wie eine Burka über Deutschland gestülpt wird und die
Gesellschaft islamisiert, wie einige ernsthaft behaupten. Man sieht, dass
der muslimische Alltag deutsche Besonderheiten hat. „Es hat sich irre viel
verändert in den letzten dreißig Jahren“, sagt Karayel, der
Bestattungsunternehmer.
## Deutsche Friedhofsverordnungen
In einer berühmten Studie verglich der Ethnologe Clifford Geertz die
muslimischen Gesellschaften Indonesiens und Marokkos. „Islam Observed“
heißt sie, von 1968. Geertz zeichnete das Bild einer Religion, die von den
kulturellen Prozessen vor Ort überformt wird. Der Islam, so kann man Geertz
verstehen, ist nur im sozialen Rahmen lesbar, in dem er praktiziert wird.
Er ist also nicht nur das, was alle Muslime eint, sondern auch das, was
alle Muslime trennt.
Wie also ist die muslimische Kultur deutscher Muslime davon geprägt, dass
sie Deutsche sind, die deutsche Modezeitschriften lesen, deutsche Debatten
verfolgen, deutsche Infrastruktur nutzen und deutsche Friedhofsordnungen
einhalten? Wie deutsch ist die muslimische Kultur in Deutschland?
Meriem Lebdiri muss überlegen, wie sie erklärt, was deutsche muslimische
Mode sei. „Deutsch, da denke ich schon auch erst mal an Dirndl und
Lederhosn“, sagt sie. Aber dann zeigt sie ihre Stücke.
Lebdiri, 28, ist Modedesignerin, geboren in Algerien, aufgewachsen in
Rheinland-Pfalz, ausgebildet in Bruchsal. Sie sagt, sie verschmelze in
ihren Entwürfen die Attribute Muslima-Sein und Deutsch-Sein. Das klingt
nicht spektakulär angesichts der Tatsache, dass vier Millionen Muslime in
Deutschland leben. Aber wenn man darüber nachdenkt, was das bedeutet, geht
doch ein ganzer Schrank voller Fragen auf.
## Der Reißverschluss erlaubt eine Entscheidung
Wie sieht etwas aus, in dem „deutsch“ und „muslimisch“ explizit miteina…
verwoben wird, zwei Konzepte also, die in der gesellschaftlichen Debatte
oft wie zwei Betonklötze nebeneinander stehen, starr und unvereinbar? Wie
sieht etwas aus, das nicht die Unterschiede zeigt, wie die 45-Grad-Gräber
auf dem Zwölf-Apostel-Kirchhof, sondern die Übereinkünfte?
Meriem Lebdiri trägt schwarze Pumps, eine schwarze Hose, darüber ein
schwarzes Kleid und einen schwarzen Blazer. Sie, die Pfälzerin, spricht
geschliffenes Hochdeutsch, am allerliebsten, sagt sie, wäre sie
Fernsehmoderatorin geworden – aber mit Kopftuch: „Schwierige Sache in
Deutschland.“ Lebdiri betreibt nun ein kleines Modestudio im pfälzischen
Germersheim, einem verwinkelten Städtchen mit einer Festung aus dem 19.
Jahrhundert. In den Ruinen veranstaltete sie einmal ein Modeshooting:
Models mit Hidschab auf den Trümmern der alten Mauern.
Ihr Studio ist ein weißer Raum mit weißen Stühlen, weißen Ablagen und
weißen Margeriten auf einem weißen Tisch. Auf einem Kleiderständer hängen
sechs Stücke: drei schlichte Kleider aus Leinen- und Baumwollstoffen, alle
mit dem Kamineffekt ausgestattet – unten Luft rein, oben Luft raus. Eine
dezent geblümte Tunika. Ein Fischgrätmantel. Und ein brauner Mantel aus
italienischer Wolle.
Was soll deutsch sein an einem Mantel aus italienischer Wolle, der dort, wo
andere Mäntel einen Kragen haben, mit schwarzer Spitze aus Algerien benäht
ist? Lebdiri sagt: „Deutsch ist schlicht.“ Gutes Material, zurückhaltende
Eleganz und gedeckte Farben – das sei es, was bei Fashion-Shows im Zweifel
als deutsch beschrieben werde.
„Ich nenne meine Mode nicht muslimisch, sondern Modest Fashion“, sagt
Lebdiri. Im internationalen Modejargon steht Modest Fashion für dezente,
den Körper bedeckende Kleidung, wie sie muslimische Frauen tragen.
Theoretisch kann sie aber jede Frau anziehen, ohne dass man sie deswegen
für muslimisch halten würde. Lebdiris Label „Mizaan“, Arabisch für
„Balance“ oder „Maß“, ist eines der wenigen deutschen Labels, die solc…
Mode designen. Nicht explizit muslimisch also. Ob sie auch Kopftücher
designt? „Ja, ich entwerfe auch Schals.“
Muslimisch-deutsche Mode, sagt Meriem Lebdiri, sei Mode, die von einer in
Deutschland aufgewachsenen, deutsch denkenden Muslima entworfen wurde.
Einer Frau, die ihren Körper aus religiösen Gründen bedecken will und von
den ästhetischen Besonderheiten ihrer Umgebung beeinflusst ist. Der Blazer,
den Lebdiri trägt, ist an den Seiten mit Reißverschlüssen versehen. Man
könnte sie öffnen und Haut durchblitzen lassen. Lebdiri hat sie
geschlossen.
## Kultur ist nie rein
Deutsch ist diesem Verständnis nach das, was in Deutschland geschieht. In
einem offenen Land, in dem die Gedanken derer zusammenfließen, die hier
leben; in dem, wie in Lebdiris braunem Mantel, italienische Wolle und
algerische Spitze neu zusammengesetzt werden und etwas Drittes ergeben
können. Etwas, das es nur hier gibt.
Kultur ist nie rein. Kultur ist mehr als das „Erbe der Väter und Vorväter�…
Und zu Deutschland gehören nicht nur diejenigen, die dieses Erbe kennen und
erhalten. Auch wenn der AfD-Politiker Alexander Gauland das kürzlich so
definiert hat. Kultur ist, wenn Dinge zusammenfließen, weil Menschen sie
zusammen denken. Weil sie dem Zusammenfluss Sinn zuschreiben.
Es gibt die Tendenz, Radikale und Fundamentalisten für „den Islam“ zu
halten. Salafisten, die zum Teil für den „Islamischen Staat“ rekrutieren,
und deutsche Konvertiten, die sich von ihnen umgarnen lassen, bis sie
selbst Salafisten sind. Sie, die Patriarchen, die Ehrenmörder, die
reaktionären Hyperreligiösen. Es ist nicht ungewöhnlich, dass die
extremsten Figuren herausstechen.
Das Panoramabild aber ist viel komplexer. Der Kulturwissenschaftler John R.
Bowen schrieb 2012 in „A New Anthropology of Islam“, der Prophet Mohammed
„hat keine Anleitung hinterlassen, keine komplette Liste, wie man die
Religion ausübt – wie man zu beten hat, wie man rituelle Waschungen
vornimmt, was man an Tagen des Fastens tun muss“.
Was alle Muslime teilen, ist das Label Muslim. Was alle deutschen Muslime
teilen, ist zudem das deutsche Umfeld. Es ist ein pluralistisches, in dem
Religionsfreiheit besteht. Jeder darf glauben, was er will, und auch
offen darüber reden.
Es ist auch ein Umfeld, in dem es ein christlich geprägtes
Staatskirchenrecht gibt. Es gibt christliche Wohlfahrtsverbände, aber noch
keinen muslimischen, auch deshalb nicht, weil es zwar viele muslimische
Organisationen gibt, aber keine einzige, die für alle deutschen Muslime
spricht. Muslimische Kranke werden daher häufig von christlichen
Seelsorgern betreut und muslimische Pflegebedürftige in Heimen christlicher
Verbände.
Außerdem teilen alle deutschen Muslime die deutsche Debatte über den Islam.
Es gibt Streit über Kopftücher in Schulen und Ämtern, über Burkinis im
Schwimmbad, vor Moscheen werden Schweineteile abgelegt.
## Es gibt nicht „den Islam“
Vor allem aber gibt es zwischen den deutschen Muslimen Unterschiede. Es
gibt Sunniten, Aleviten und Schiiten; es gibt in Deutschland viele
türkisch- und nicht ganz so viele südosteuropäisch- und arabischstämmige
Muslime, dazu südost- und zentralasiatische, persische und aus dem
subsaharischen Raum stammende. Es gibt die, die jeden Tag beten, es gibt
aber auch die, die sich mit ihren traditionsverbundenen Vätern streiten,
weil sie öfter ausgehen als in die Moschee.
Bis zu 80 Prozent der Muslime in Deutschland gelten als sogenannte
Kulturmuslime, die so gläubig sind wie die Mehrheit der deutschen Christen:
Sie feiern ihre Feste und pflegen eine muslimische Kultur, ohne besonders
religiös zu sein.
Was es nicht gibt, ist eine zentrale Institution wie den Papst, der für
alle Katholiken spricht.
Rabeya Müller, 59, eine gebürtige Deutsche, konvertierte Ende der
Siebzigerjahre zum Islam. Zwanzig Jahre später gründete sie das Zentrum für
Islamische Frauenforschung in Köln, das sich für eine geschlechtergerechte
Lesart des Koran einsetzt. In der Muslimischen Gemeinde Rheinland, der sie
angehört, beten Männer und Frauen gemeinsam, und sie leiten abwechselnd die
Gebete. Müller führt sogar islamische Trauungen durch, wie ein Imam.
Als muslimische Feministin bezeichnete sich Müller, die eine randlose
Brille trägt und ihr Kopftuch hinten bindet, sodass der Hals frei bleibt,
schon, als das noch nicht so populär war. Die Offenheit für solche
Strömungen sei schon immer im Islam angelegt, sagt sie. „Viele wären gern
der Papst der Muslime. Aber es gibt im Islam kein solches oberstes Lehramt.
Diese Pluralität müssen wir uns erhalten.“
Versteht sie sich als Botschafterin eines deutschen Islams oder wenigstens
eines rheinischen? Der Begriff behagt ihr nicht – und ja, vielleicht ist er
tatsächlich nur das nächste Klischee. Zudem liegt die Assoziation nahe,
„deutsch“ sei ein normativer Begriff, nach dem Motto: Der Islam ist
schlecht – bis er deutsch ist, dann ist er gut.
Aber eines kann man doch sagen: Eine geschlechtergerechte Lesart des Koran
mag nicht exklusiv deutsch sein – aber dass das Thema in Deutschland
verankert ist, befruchtet die Auseinandersetzung.
## Drei Tore, alle verpasst
Ein Freitagabend im Ramadan, dem islamischen Fastenmonat. In der
Neuköllner Şehitlik-Moschee, Deutschlands zweitgrößter muslimischer
Gebetsstätte, sind rund hundert Gläubige zusammengekommen, um gemeinsam das
Fasten zu brechen. Die Frauen sitzen an langen Tafeln im Hof. Einige Männer
bereiten die Verteilung der Mahlzeiten vor, andere schaukeln Kinderwagen
auf der Straße, die restlichen sitzen in einem Innenraum und schauen
Fußball, Spanien gegen die Türkei. Spanien gewinnt 3:0, die meisten Männer
verpassen alle drei Tore. Essensausgabe, dann ruft der Muezzin zum
Fastenbrechen, das dritte Tor fällt während des anschließenden Abendgebets
in der Moschee.
Die Şehitlik-Moschee, ein an das Parkgelände des ehemaligen Flughafens
Tempelhof geschmiegter Prachtbau mit Minarett, wurde nicht nur im Stil der
osmanischen Moscheen des 17. Jahrhunderts erbaut. Sie befindet sich auch
offiziell auf türkischem Boden. Zu diesem Boden gehört auch ein
muslimischer Friedhof, dessen Ursprünge auf einen Diplomatenfriedhof
zurückgehen. In den 1920er Jahren wurde er der Türkei übereignet.
Die Moschee gehört zum türkisch-islamischen Dachverband Ditib, der dem
Religionsministerium in Ankara untersteht. Ankara entsendet den Imam, der
in der Moschee predigt, Ehepaare traut und bei Bestattungen das rituelle
Totengebet spricht. Für Grünen-Chef Cem Özdemir ist Ditib deshalb der
„verlängerte Arm des türkischen Staats“.
Vor Kurzem – nachdem der Bundestag die Verbrechen des Osmanischen Reichs an
den Armeniern als Völkermord benannte und das von der türkischen Regierung
heftig kritisierte wurde – hat die Ditib deutsche Politiker [1][wieder
ausgeladen], die sie zunächst zum Fastenbrechen in die Şehitlik-Moschee
eingeladen hatte.
Die Moschee ist ein Beispiel dafür, warum die Islamdebatte in Deutschland
mit großer Keule geführt wird. Sie entspricht auf den ersten Blick genau
dem, woran deutsche Politiker und Publizisten denken, wenn sie einen
übergestülpten Import-Islam beklagen – einen nicht verwobenen Fremdkörper.
Nur ist das, was man sieht, immer auch das, was man zu sehen bereit ist.
Wer hier eine Parallelgesellschaft vorfindet – auch so ein Konzept, das die
Unvereinbarkeit betont –, findet sie nur, weil er sie gesucht und die
komplexen lokalen Gegebenheiten ausgeblendet hat.
## Eine Moschee mit Öko-Zertifikat
Ender Çetin, 40, der Vorsitzende der Şehitlik-Gemeinde, ist ein Mann, der
an der Auflösung der Fronten arbeitet. Er hat es mit Islamhassern zu tun,
die Brand- und Farbanschläge auf die Moschee verüben, und er jongliert mit
den unterschiedlichsten Ansprüchen: denen aus Ankara und denen alter und
junger Gemeindemitglieder. Manche sehen die Moschee als Rückzugsort, andere
als einen Ort der Repräsentation, an dem man seinen Glauben vorzeigt.
Ist die Şehitlik eine türkische Moschee? Bei der Frage muss sich Çetin kurz
sortieren, dann sagt er: „Jein.“ Denn ja, sie ist strukturell mit der
türkischen Religionsbehörde Diyanet verbunden. Und doch: Manches von dem,
was hier geschieht, geschähe wohl in keiner Moschee in der Türkei.
Im vergangenen Jahr hat die Gemeinde rund 30.000 Besucherinnen und Besucher
durch die Moschee geführt, was man auch als Werben um Anerkennung in einer
aufgeheizten Stimmung verstehen kann. Çetin lud Schwule und Lesben ein, um
über muslimische Homophobie zu [2][diskutieren]. In einigen türkischen
Medien sorgte das für einen Aufschrei und bei älteren Mitgliedern seiner
Gemeinde für Irritation.
Die Şehitlik-Gemeinde wurde einst von ehemaligen Gastarbeitern der ersten
Generation gegründet, Menschen also, die sich auch selbst als Gäste
verstanden und stets vorhatten, wieder zurück in die Türkei zu gehen. „Für
die Älteren war die Moschee ein Stück Heimat und ein Treffpunkt“, sagt
Ender Çetin. Ihre Kinder und Enkel aber sind, wie Çetin selbst, in
Deutschland aufgewachsen und verstehen sich als Teil der deutschen
Gesellschaft.
Wie sehr seine deutsche Sozialisation auf seine Interpretation des Islams
durchschlage, sagt Çetin, bemerke er etwa daran, dass er Umweltaspekte
einbeziehe. „Das Umweltbewusstsein ist in der ersten Generation und in der
türkischen Community allgemein nicht so groß. Für mich gehört der Schutz
der Umwelt zu den Kernbotschaften des Islam. Wir wollen eine grüne Moschee
sein.“ Çetin hat sich beraten lassen, wie er die Umweltbilanz der Moschee
verbessern kann. Bald bekommt er ein Ökostrom-Zertifikat, er will es an
einer gut sichtbaren Stelle in der Moschee aufhängen. Manchmal höre er
deswegen jemanden spotten, seine Gemeinde sei so integriert, sagt Çetin –
„weil wir uns Themen widmen, die zumindest die ältere Generation nicht
gewohnt ist“.
## Deutsche Themen in der türkischen Moschee
Was erkennbar ist, ist Bewegung: Traditionen aus dem Herkunftsland münden
eben nicht einfach in parallele Strukturen. Çetin importiert nicht
türkische Debatten nach Deutschland. Er integriert in die türkische Moschee
vielmehr Themen der deutschen Gesellschaft.
Möglich ist das auch deshalb, weil der Moscheeverein, dem Çetin vorsteht,
nach deutschem Vereinsrecht gegründet wurde. Das Gebetshaus wird deshalb
von der lokalen Gemeinde getragen. Und die Entscheidungen, die der Verein
trifft, sind stark mit den Entwicklungen in Neukölln verwoben.
Aus Ankara entsandte Imame sind bisweilen ernüchtert, wenn sie hier
ankommen. Wenn die Absolventen einer hoch angesehenen islamischen
Institution aus der Türkei auf Neuköllner Großstadtjugendliche treffen,
bleiben Reibungen nicht aus. Manche Jugendliche sind im Koranunterricht
unaufmerksam, reden dazwischen. Die türkischen Imame aber sind Respekt
gewohnt. Sie kennen die Lebenswelt der Jugendlichen kaum – und diese tun
sich deshalb manchmal schwer damit, sie als Autoritäten zu akzeptieren. Die
Lebenswelt prägt das Muslim-Sein ebenso wie die Tradition.
Die Geschichte, die die Modedesignerin Meriem Lebdiri über sich erzählt,
beginnt, als sie elf war. Damals habe sie begonnen, sich darüber Gedanken
zu machen, was es heißt, Muslima in Deutschland zu sein. In den
Sommerferien, bevor sie aufs Gymnasium kam, begann sie, ein Kopftuch zu
tragen. „Ich war religiös erzogen, so wie christliche Kinder religiös
erzogen werden. Aber es gab nichts anzuziehen für mich. Ich hatte die Wahl
zwischen kurzen, fast bauchfreien Blusen und Hüfthosen, wie sie in den
Neunzigern halt in Deutschland üblich waren. Und der importierten
traditionellen Kleidung, die an mir wie ein Sack aussah.“ Sie fühlte sich
nicht zugehörig. „Ich wollte mich bedecken, ja, aber auf meine Art.“
In dieser Phase der Selbstfindung begann Lebdiri zu zeichnen. Sie entwarf
Schlaghosen, die ein wenig höher gingen, und Blusen, die ein wenig weiter
nach unten reichten.
Es war Mode für sie selbst, ein in Algerien geborenes Mädchen in der Pfalz,
das gerade beschlossen hatte, die Religiösität, die ihr im Elternhaus
vorgelebt wurde, in ihr eigenes Leben zu übersetzen.
Dass ihre Mode sich vom Standard unterscheide, sagt sie, sehe sie daran,
dass es nur wenige Schneidereien gebe, die verstünden, was sie mache. „Die
würden manche meiner Kleider eher enger nähen. Die sagen: ‚Das macht man
nicht so.‘ Und ich sage: ‚Ich weiß, dass man das nicht so macht.‘ “
## Es bewegt sich was, auf beiden Seiten
Isikali Karayel, der Bestattungsunternehmer, hat sein Büro in
Berlin-Neukölln, nur wenige Kilometer von der Şehitlik-Moschee entfernt.
Hinter seinem Schreibtisch hängt ein quadratisches Gemälde, rote Rosen
vor grauem Hintergrund – Motiv der Trauer und ihrer Bewältigung. Vor
Karayels Büro steht ein Kawasaki-Motorrad, das seiner Auszubildenden
gehört. Sie soll Berlins erste muslimische Bestatterin werden. „Das ist
revolutionär!“, sagt Karayel.
Es tue sich viel. Die Öffnung des evangelischen Zwölf-Apostel-Friedhofs für
islamische Bestattungen sei für die Berliner Muslime ein großer
Fortschritt. Früher wurden die meisten auf dem städtischen Friedhof Gatow
beerdigt; der befindet sich am Stadtrand, jenseits der Havel, 25 Kilometer
von hier entfernt.
„Die Berliner Standesämter drücken bei der Ausstellung einer
Bestattungsgenehmigung auch mal beide Augen zu, wenn der Ausweis eines
Verstorbenen nur in Kopie vorliegt“, sagt Karayel.
Und manchmal dürfen individuelle Entscheidungen getroffen werden, wie bei
der sarglosen Bestattung. Muslime werden üblicherweise im Leintuch
beerdigt. In einigen deutschen Bundesländern ist das mittlerweile erlaubt,
auch in Berlin. Trotzdem entscheiden sich heute viele für die deutsche
Regel. Auf dem Zwölf-Apostel-Kirchhof ist das Verhältnis etwa fifty-fifty.
Rechts vom Fußgängerweg liegen die Gräber, in denen muslimische Verstorbene
mit Sarg, links die, die ohne Sarg beerdigt wurden.
Manchmal aber findet sich kein Kompromiss: Muslimische Tradition ist es,
Verstorbene innerhalb von 24 Stunden zu beerdigen. „Das hatte damit zu tun,
dass die mehrheitlich muslimischen Länder eher heiße Länder sind“, sagt
Karayel. „Und dann hat sich das auch in der Religion verankert.“ In den
meisten Bundesländern gilt dagegen eine 48-Stunden-Frist, was früher etwa
damit begründet war, dass man einen Scheintod ausschließen wollte. Man kann
nur die eine oder die andere Regel befolgen. Also wird diese muslimische
Tradition in Deutschland meistens gebrochen.
Isikali Karayel sagt, es gebe einen Generationenunterschied. Die ersten
türkischen Gastarbeiter lassen sich nach ihrem Tod noch eher in ihre
Heimatländer überführen, um dort die letzte Ruhe zu finden. Aber die
Tendenz in der zweiten und dritten Generation gehe deutlich dahin, sich in
Deutschland beerdigen lassen zu wollen. Zu Hause.
„Für die ist das selbstverständlich, sich dort beisetzen zu lassen, wo sie
gelebt haben“, sagt Karayel. „Erde ist Erde.“
Und alles ist im Fluss.
11 Jul 2016
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