| # taz.de -- Förderung für muslimische Studierende: Besser spät als nie | |
| > Seit 2014 fördert das Avicenna-Studienwerk hochbegabte muslimische | |
| > Studierende. Es geht um Vielfalt – aber nicht um Gesinnung. | |
| Bild: Für die anderen Religionen gibt es längst eigene Begabtenförderwerke �… | |
| Erst hatte Jasmin Moulla vor einer Bewerbung zurückgeschreckt. Ein | |
| Stipendium, das ausschließlich Muslime fördert? Dann hatte sich die | |
| Berliner Medizinstudentin doch beworben. Im April endete die | |
| Bewerbungsfrist für den dritten Jahrgang. Sollte sie genommen werden, | |
| gehört sie zu einem exklusiven Kreis. Gerade mal 190 Muslime hat Avicenna | |
| bisher gefördert. | |
| Das Begabtenförderwerk gibt es erst seit Juli 2013, es ist damit das | |
| jüngste von insgesamt 13 Förderwerken, die Geld vom Bundesministerium für | |
| Bildung und Forschung erhalten. Und es ist das erste, das ausschließlich | |
| muslimische Studierende unterstützt. Für die anderen Religionen gibt es | |
| längst eigene Begabtenförderwerke: Das Cusanuswerk für Katholiken, das | |
| Studienwerk Villigst für Evangelen und seit 2009 das | |
| Ernst-Ludwig-Ehrlich-Studienwerk für Juden. Warum hat es bis zum Jahr 2013 | |
| gedauert, um diese Lücke zu schließen? | |
| Dem Bildungsministerium ist sie offenbar nicht aufgefallen. Zwei frühere | |
| Stipendianten bemerkten, dass Muslime an Hochschulen unterrepräsentiert | |
| sind. 2010 wandten sie sich an Bülent Ucar von der Universität Osnabrück. | |
| Der Islamwissenschaftler teilte ihr Anliegen, die Begabtenförderung | |
| vielfältiger zu machen. | |
| Heute ist Ucar Vorstandsvorsitzender der Avicenna-Studienwerk. 2013 sagte | |
| das Bildungsministerium ihm staatliche Förderung zu. Bildungsministerin | |
| Johanna Wanka sprach von einer „notwendigen Erweiterung“. Vergangenes Jahr | |
| erhielt Bülent Ucar das Bundesverdienstkreuz. Einer der beiden Initiatoren, | |
| Beschir Hussain, ist überzeugt: „Die gesamte Gesellschaft kann davon nur | |
| profitieren.“ | |
| „Avicenna“ fördert nicht nur Hochbegabte einer Minderheit, die oft nicht | |
| die gleichen Bildungschancen besitzt – es fördert vor allem Hochbegabte, | |
| die sich in der Gesellschaft engagieren. Voraussetzungen, die die | |
| 35-jährige Jasmin Moulla beide erfüllt. Ihr Abi-Schnitt von 1,1 lässt kaum | |
| Zweifel an der Begabung. | |
| ## Studium, Kinder, gesellschaftliches Engagement | |
| Heute kümmert sich die Studentin neben dem Medizinstudium auch um ihre | |
| beiden 11- und 14-jährigen Kinder. „Eigentlich habe ich wenig Zeit neben | |
| der Kindererziehung und dem Studium.“ Dennoch korrigierte und übersetzte | |
| sie für einen muslimischen Verein in Berlin einen Leitfaden für schiitische | |
| Pilgerfahrer. In der Schule ihrer Tochter hilft sie gelegentlich im | |
| Schülercafé oder in der Fahrradwerkstatt mit. Und an der Universitätsklinik | |
| Charité setzt sie sich für ein familienfreundliches Studium ein. | |
| Ihr Einsatz könnte sich auszahlen: Wird sie genommen, kann sie mit rund | |
| 1.000 Euro bis zum Ende ihres Studiums rechnen, inklusive Bücherpauschale | |
| und Familienzuschlag. | |
| Die Frau ihres Cousins sagte, „Avicenna könnte zu dir passen“, erinnert | |
| sich Jasmin. „Ich probier’s mal“, dachte sie, trotz der anfänglichen | |
| Skepsis gegenüber dem geschlossenen Stipendiatenkreis. Hätte Avicenna nur | |
| eine bestimmte Richtung innerhalb des Islam gefördert, hätte sie sich nicht | |
| beworben. | |
| Auch dem Bundesministerium war von Anfang an wichtig, dass Avicenna die | |
| Vielfalt aller Muslime in Deutschland widerspiegelt. Doch wer ist überhaupt | |
| ein Muslim? Einer, der täglich fünf mal betet, wie es der Koran | |
| vorschreibt? Einer, der in einer muslimischen Gemeinde aktiv ist? „Wir | |
| fragen nicht nach der Gesinnung“, sagt Avicenna-Geschäftsführer Hakan | |
| Tosuner. Die Haltung zu islamischen Einrichtungen der BewerberInnen | |
| interessiert ihn jedoch schon. | |
| Samet Akti etwa erzählt der taz, dass er vergangenes Jahr beim | |
| Bewerbungsgespräch gefragt wurde, wie er zu rein muslimischen Friedhöfen | |
| und Schlachthöfen stehe. Offenbar hat er gut geantwortet. Der Student der | |
| Wirtschaftskommunikation erhielt das Stipendium. | |
| „Die Studierenden sollten durchaus die Bereitschaft mitbringen, sich mit | |
| dem Islam auseinanderzusetzen“, sagt dazu Avicenna-Geschäftsführer Tosuner. | |
| Aber auch Nichtmuslime, die sich im Studium mit dem Islam und Fragen des | |
| Zusammenlebens von Muslimen und Nichtmuslimen befassen, würden gefördert. | |
| Nach eigenen Angaben fördert Avicenna zwei von ihnen. Ebenso wenig werde | |
| eine gewisse Strömung innerhalb des Islam bevorzugt. Das begrüßt auch | |
| Jasmin Moulla: „Mir ist der Dialog mit anderen Religionen und die | |
| Gleichberechtigung von Mann und Frau wichtig. Gläubige müssen auch zweifeln | |
| dürfen.“ | |
| Noch ist die Zahl der Geförderten mit 190 gering. Im folgenden | |
| Wintersemester sollen weitere 80 hinzukommen. Die Plätze sind hart | |
| umkämpft: Bis zu 600 BewerberInnen streiten um die Stipendien. Um einen | |
| Platz zu erkämpfen, muss sich Jasmin Moulla also gegen sieben andere | |
| MitbewerberInnen durchsetzen. „Uns fällt die Entscheidung oft nicht | |
| leicht“, sagt Hakan Tosuner. Bis 2018 soll die Zahl der Stipendiaten auf | |
| 500 steigen. | |
| ## Muslimbild korrigieren | |
| Und die sollen mithelfen, das Bild der Muslime in der Gesellschaft zu | |
| verändern. Der 21-jährige Samet Akti sieht sich dazu regelrecht berufen: | |
| „In der Öffentlichkeit überwiegen Bilder von Muslimen als Kriminelle und | |
| Problematische“, echauffiert sich Akti. „Dabei hat das nichts mit der | |
| Herkunft zu tun, sondern viel mehr mit Bildung.“ Gerade aber an Schulen mit | |
| einem hohen Anteil an Migrantenkindern werde kaum in Bildung investiert. | |
| Das Thema Benachteiligung verbindet viele Avicenna-StipendiatInnen. Auch | |
| Jasmin Moulla hat Diskriminierungserfahrungen gemacht. Zwischenzeitlich hat | |
| sie Deutschland deshalb sogar den Rücken zugekehrt, um fünf Jahre lang in | |
| Marokko bei der Familie ihres Mannes zu leben. | |
| Deshalb überweist das Studienwerk nicht nur Geld, sondern ermöglicht auch | |
| den Austausch unter seinen Stipendiaten. „Ideelle Förderung“, nennt | |
| Avicenna das zusätzliche Angebot. Davon profitieren vor allem | |
| Erstakademiker. Also Studierende, in deren Elternhaus niemand zuvor an der | |
| Uni war. Bei Avicenna sind das zwei Drittel der geförderten Studierende und | |
| drei Viertel der geförderten Promovierenden. | |
| Jasmin Moulla ist im strengeren Sinne keine Erststudentin. Ihr Vater ist | |
| Ingenieur, arbeitet in Deutschland in einem Imbiss. Ob der akademische | |
| Hintergrund ihres Vaters der Grund ist, dass Jasmin doch vor wenigen Tagen | |
| eine Absage bekommen hat? | |
| „Ich war tatsächlich etwas überrascht“, sagt Jasmin. Sie ging davon aus, … | |
| gut zur Zielgruppe zu passen, dass „mindestens ein Kennenlerngespräch drin | |
| ist“. Immerhin bleibt ihr das Auswahlverfahren erspart, das momentan läuft. | |
| Jasmin trauert der Chance nicht nach. Sie wird sich einen Hilfsjob an der | |
| Uni suchen – neben Medizinstudium und zwei Kindern. „Das Stipendium wäre | |
| auch eine Verpflichtung gewesen.“ | |
| 28 Jul 2016 | |
| ## AUTOREN | |
| Hülya Gürler | |
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