| # taz.de -- Theologe über Grundgesetz und Scharia: „Es braucht keinen deutsc… | |
| > Milad Karimi lehrt in Münster islamische Theologie, er kam einst als | |
| > Flüchtling aus Kabul nach Deutschland. Nun fordert er, wir sollten hier | |
| > „mehr Islam wagen“. | |
| Bild: Ramadan in Peschawar, Pakistan | |
| taz: Herr Karimi, Sie sind mit 15 Jahren nach Deutschland gekommen. Wie | |
| stark hat Sie Deutschland geprägt? | |
| Milad Karimi: Ich kann mir mein Leben nicht ohne Deutschland, ohne Rilke | |
| oder Hegel vorstellen. Insofern bin ich schon sehr deutsch. | |
| Ihr Vater war Rektor an der deutschen Schule in Kabul. Wie präsent war die | |
| deutsche Kultur bei Ihnen zu Hause? | |
| In meiner Familie haben fast alle die deutsch-afghanische Schule | |
| absolviert. Ich war schon Bayern-Fan, als wir noch in Afghanistan lebten. | |
| Und als wir uns auf die Flucht begeben mussten, war klar, dass Deutschland | |
| unser Sehnsuchtsort war. | |
| Fragen Sie sich manchmal, was aus Ihnen geworden wäre, wenn Sie in Kabul | |
| geblieben wären? | |
| Ich glaube, ich wäre ein unglaublich eindimensionaler Mensch geworden. Der | |
| Sprache nicht mächtig zu sein und hier ankommen, ohne Deutsch zu können, | |
| aber dann schrittweise die Sprache zu erlernen – das sind Erfahrungen, die | |
| mich zutiefst geprägt haben. Dass ich weiß, dass ich nur dann „vollkommen“ | |
| ich bin, wenn ich auch die Sprache spreche. | |
| Sie haben über Hegel und Heiddegger promoviert. Warum? | |
| Ich habe mich schon als Schüler in Heidegger verguckt, weil erunglaublich | |
| eigenartig schreibt. Er kreiert neue Begriffe, schreibt kurze, klare Sätze, | |
| lakonisch, sehr abstrakt, aber auch sehr zugänglich. Das ist für jemanden, | |
| der gerade die Sprache und die Grammatik lernt, sehr schön, weil man sieht, | |
| wie er mit der Sprache umgeht. Ich bin nach Freiburg gegangen, um Heidegger | |
| zu studieren, war aber auch zunehmend angewidert von seinem Rassismus, der | |
| nicht erst in den „Schwarzen Heften“ klar zu Tage tritt. Dann habe ich | |
| irgendwann Hegel kennen gelernt, und wer einmal Hegel liest, der kann sich | |
| nicht mehr von ihm entreißen. In meiner Doktorarbeit wollte ich zeigen, wie | |
| nahe Heidegger Hegel ist, obwohl er so gegen ihn wettert. | |
| Heute lehren Sie in Münster islamische Mystik. Wie lehrt man das? | |
| Nicht, indem man Derwischtänze vorführt. Mir geht es | |
| darum,erkenntnistheoretisch zu fragen: was heißt es, Mystiker zu sein? | |
| Dafür, dass es sehr schwierig ist, eine Sprache zu finden, um über | |
| mystischen Erfahrungen zu berichten, haben die islamischen Mystiker doch | |
| sehr viel darüber geschrieben. Wir stehen vor einer wirklich unglaublich | |
| reichen Bibliothek sprachlich und kulturell unterschiedlicher | |
| Mystik-Traditionen, von persischen Dichtern wie Rumi über Al Ghazali zu | |
| türkisch geprägten Mystikern wie Yunus Emre. Der Islam ist auch eine | |
| unglaublich sinnliche Religion, und für diese Sinnlichkeit steht die | |
| Mystik, die poetisch und melodiös ist, die Klang hat und Musikalität | |
| besitzt. | |
| Sie haben den Koran ins Deutsche übersetzt – was hat Ihnen an den | |
| bisherigen Übersetzungen nicht gefallen? | |
| Sie sind einfach unglaublich langweilig. Sie schaffen es nicht, drei Seiten | |
| zu lesen, ohne fünf Mal zu gähnen. Der Romantiker Friedrich Rückert hat als | |
| erster großer deutscher Dichter entdeckt, dass der Koran ein zutiefst | |
| romantisches Werk ist. Nämlich ein Werk, dass fragmentarisch ist und von | |
| der Offenheit lebt, von seinem Klang und von dem, was nicht gesagt wird. | |
| Diese Offenheit, der plurale und polyphone Charakter, wird gerade durch die | |
| Ästhetik hervorgehoben. Das haben die Quellen der Religion so an sich, sie | |
| sind immer uneindeutig. | |
| Wie liest man den Koran? | |
| Wenn man den Koran so begreifen will, wie Muslime ihn begreifen, dann muss | |
| man sich nicht nur seinem Inhalt nähern, sondern auch der Art und Weise, | |
| wie er vermittelt wird. Das war mir bei der Übersetzung wichtig. Im | |
| Arabischen werden zum Beispiel die Adjektive immer nachgestellt. Im | |
| Deutschen kann man das auch machen, um bestimmte Nuancen hervorzuheben. | |
| Wenn da steht: „Führe uns auf den Weg, den geraden“, hat das eine andere | |
| Aussage als „Führe uns auf den geraden Weg.“ Der Koran ist ständig in der | |
| ersten Form formuliert. „Führe uns auf den Weg“, und dann kommt eine | |
| Atempause, und die Leser oder Zuhörer wissen nicht, was jetzt kommt, und | |
| dann kommt die Erlösung: „den geraden“. Diese Spannung macht den Koran aus. | |
| Deswegen dachte ich: da muss ich noch mal rangehen, mit Hingabe. Es ist mir | |
| nur ein Stück weit gelungen, weil die Sprachen schon sehr weit voneinander | |
| entfernt sind. Aber allein den Versuch zu unternehmen war schon sehr | |
| lehrreich für mich. | |
| Bestimmte Schlüsselbegriffe des Islam sind im westlichen Diskurs extrem | |
| negativ konnotiert, zum Beispiel Fatwa, Dschihad, Scharia. Macht es das | |
| nicht sehr schwierig, zu einer gemeinsamen Sprache zu finden – weil diese | |
| Begriffe von Extremisten gekapert wurden? | |
| Stimmt, darum reden wir oft aneinander vorbei. Wir Muslime sollten unsere | |
| Sichtweise stärker kommunizieren. Ich habe den Eindruck, dass wir manchmal | |
| auch gern Opfer sind: Wir sind diejenigen, die gehasst werden, die man | |
| immer auf gewisse Stereotype reduziert. Das alles ist der Fall. Aber ich | |
| muss auch meine eigene Verantwortung sehen: Was habe ich falsch gemacht, | |
| dass so viele Leute denken, Scharia bedeutet etwas wie Hand abhacken? Oder | |
| dass das islamisches Recht in Konkurrenz stünde zum Grundgesetz? | |
| Tut es das nicht? | |
| Nein, das ist alles Schwachsinn. Die Scharia ist kein Nuch, kein Regelwerk | |
| oder gar Gesetz, sondern eine ethische Richtschnur, ein Ideal. Ich weiß, es | |
| gibt Menschen, die diese Begriffe anders verstehen, auch in meiner eigenen | |
| Religion. Da helfen Distanzierungen nicht. Sondern nur, die eigene | |
| Auslegung stark zu machen. Das erscheint mir auch in Hinblick auf unsere | |
| Jugend wichtig. | |
| Wie verträgt sich die Theologie, die an arabischen oder türkischen | |
| Hochschulen gelehrt wird, mit Demokratie und Menschenrechten? Gibt es da | |
| Konflikte? | |
| Ehrlich gesagt, überhaupt nicht. Klar, jedes Land hat bestimmtehistorische | |
| Prägungen. Und es gibt natürlich Radikale und komische Kauze, auch hier in | |
| Deutschland. Aber pauschal zu sagen, die islamische Lehre sei nicht mit dem | |
| Grundgesetz vereinbar, das ist falsch. Die großen Rechtsschulen des Islam | |
| sind sich alle einig, dass die Scharia kein festes Regelwerk oder gar | |
| Gesetzbuch ist, sondern ein moralischer Imperativ. Die Aufgabe des Menschen | |
| ist es, das, was von Gott gewollt ist, so gut wie möglich zu realisieren. | |
| Das kann aber nur ein stetes Bemühen um Vollkommenheit sein. Darum steht es | |
| auch nicht im Gegensatz zu unserer Verfassung. Im Gegenteil: Ich glaube, | |
| dass man als Muslim nirgendwo besser leben kann als in einem säkularen | |
| Staat, der die Religionsfreiheit garantiert und allen eine stabile Ordnung | |
| bietet. Darum bin ich Verfassungspatriot – und tief gläubiger Muslim | |
| zugleich. | |
| Die saudisch-wahhabitische Lesart des Koran kollidiert aber durchaus mit | |
| den Werten des Grundgesetzes, oder? | |
| Ja, sie kollidiert aber auch mit dem gesunden Menschenverstand. Die | |
| Naivität ihres Dogmas besteht darin, dass sie davon ausgeht, dass es nur | |
| ein Verständnis von Koran und Sunna geben könne. Und das ist nicht nur | |
| unlogisch und methodologisch falsch, sondern auch islamisch verwerflich. | |
| Die Größe der islamischen Tradition besteht ja gerade darin, dass wir uns | |
| an unterschiedlichen Verständnissen abarbeiten. Moderne salafistische | |
| Strömungen begehen dagegen einen Traditionsbruch: Sie wollen vom 21. | |
| Jahrhundert direkt zurück in die Zeit des Propheten – und alles andere | |
| überspringen. | |
| Braucht es einen deutschen Islam? | |
| Nein. Eine Nationalisierung der Religion halte ich nicht für | |
| erstrebenswert, und der Islam muss auch nicht europäisiert werden. Man darf | |
| nicht vergessen: Keine Weltreligion hat ihre Wurzeln in Europa, weder das | |
| Christentum noch das Judentum. Aber sie haben Europa bereichert und | |
| mitgeprägt. | |
| Braucht der Islam eine Reform? | |
| Wir tun uns keinen Gefallen damit, wenn wir eine Art Reformislam | |
| propagieren, weil wir damit auch eine Art Traditionsbruch betreiben würden. | |
| Damit wären wir den Salafisten näher, als wir wollten. Denn auch die sagen | |
| im Grunde nichts anderes als: Alles, was vor uns war, ist falsch. Ich kann | |
| mich auch nicht im Elfenbeinturm zum Reformer erklären und über meine | |
| eigene Gemeinde hinwegsetzen. Das wäre eher Ausdruck von Selbstsucht. | |
| Unsere Aufgabe ist vielmehr, mit kritischem Verständnis auf die eigene | |
| Tradition zu blicken und deutlich zu machen, wie wir von innen her das Neue | |
| erringen. Dass auch die früheren Koraninterpreten Kinder ihrer Zeit waren | |
| und dass man den Koran heute zu den jetzigen Bedingungen lesen muss, ist | |
| evident. | |
| Im April saßen Sie mit Bundespräsident Joachim Gauck auf einem Podium im | |
| Schloss Bellevue und forderten, wir sollten „mehr Islam wagen“. Was meinten | |
| Sie damit? | |
| Ich meinte, dass wir gut daran tun, Muslime als Teil unserer Gesellschaft | |
| zu begreifen, statt nur als Mängelwesen. Denn der „Islamische Staat“ lebt | |
| ja gerade davon, dass Europa die Muslime systematisch kleinhält und nicht | |
| partizipieren lässt. Deswegen sollten wir Muslimen mehr Raum geben, damit | |
| wir Verantwortung übernehmen und die Gesellschaft mitgestalten. Dafür | |
| brauchen wir Plattformen und eine unvoreingenommene Zusammenarbeit. Herr | |
| Gauck hat mich da, glaube ich, ganz richtig verstanden. | |
| 26 Jun 2016 | |
| ## AUTOREN | |
| Daniel Bax | |
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