Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Essay Linke und Muslime: Wir sind nicht eure Kuscheltiere
> Das linksliberale Spektrum tut sich schwer mit kritischen Muslimen. Es
> erklärt sich zum Beschützer konservativer Muslime und macht sie so zu
> Opfern.
Bild: Nein, das ist kein Kuschelteppich in der Magdeburger Moschee, denn Kritik…
Anonym will die Frau bleiben, die mir neulich schrieb, die Mitarbeiterin
eines Jugendamts. Sie war ratlos. Ihrem Amt sind Fälle bekannt, in welchen
Familien „mit Migrationshintergrund“ Gewalt zur „traditionellen Erziehung…
gehört. Da haben kleine Mädchen und Jungen blaue Flecken, werden mit
Drohungen eingeschüchtert und zum „Gehorsam“ erzogen. Doch die Mitarbeiter
im Jugendamt sollen „kultursensibel“ mit Eltern und Kindern umgehen, und
auch dann nicht unbedingt einschreiten, wo das rein rechtlich notwendig
wäre. Ihr Brief sagte, zusammengefasst: „Das geht doch eigentlich nicht,
oder?“ Als würde sie von mir ein Okay für etwas wollen, was menschlich und
gesetzlich glasklar ist: Einschreiten, selbstverständlich, egal, woher
jemand kommt.
Was die Mitarbeiterin dieses Amts geschrieben hat, ist nicht ungewöhnlich.
Hunderte solcher Briefen bekomme allein ich. LehrerInnen und
SozialarbeiterInnen schildern, in welchem Dilemma sie sich befinden: Sollen
sie Rücksicht nehmen auf Traditionen? Respekt vor autoritären Vätern
haben? Die Ehre von Mädchen – und deren Familien – achten, die nicht am
Schwimmunterricht teilnehmen sollen? Es sind liebe Menschen, die da
schreiben – und völlig hilflose.
Muslime und Menschen mit „Migrationshintergrund“ genießen bei linken,
progressiven Zeitgenossen in Deutschland besondere Sympathie und
Solidarität. Sie wollen damit ein Zeichen setzen gegen Rassismus und
Vorurteile. Ich selbst bin Araber, komme aus Israel und lebe hier seit
2004. Viele nette Menschen sind mir in meinen ersten Jahren in Deutschland
im linksliberalen Spektrum begegnet.
Seit ich mich kritisch über bestimmte Religionsinhalte äußere, mit denen
ich großgeworden bin, sind sie nicht mehr ganz so nett. Ihre Reaktionen
sind natürlich nicht vergleichbar mit den Gegnern aus den „eigenen
Reihen“, von denen ich Hasspost erhalte. Aber einen Araber wie mich mögen
manche Leute nicht mehr.
## Nicht dem Klischee entsprechend
Ich entspreche nicht dem Klischee dessen, der sich ausschließlich über
rassistische Vorurteile beklagt – auch wenn ich das durchaus tue – ,
sondern ich begrüße die Demokratie, in der ich hier lebe, und ich
kritisiere offen und deutlich die konfessionelle Enge der muslimischen
Communities hier im Land. Ich kritisiere muslimische Dachverbände wie Ditib
oder den Zentralrat der Muslime, die behaupten, im Namen meiner Religion zu
sprechen und für alle Muslime in Deutschland, was schon allein statistisch
nicht stimmt.
Ich setze mich für innerreligiöse und gesellschaftliche Reformen ein und
spreche öffentlich darüber, dass vieles schiefläuft in den Familien, an den
Schulen, in der Gesellschaft, im Umgang mit religiösem Fundamentalismus und
islamischem Radikalismus.
Ein Netzwerk von deutschen Linksliberalen und Grünen „beschützt“ eine
Mehrheit der Muslime in Deutschland vor der Minderheit ihrer muslimischen
Kritiker. Was ist daran links, was progressiv?, frage ich mich. Und: Seid
ihr noch bei Trost? Oder sind wir eure Kuscheltiere geworden?
Humanistische Gesellschaftskritik und Aufklärung haben eine große Tradition
im deutschsprachigen Raum. Aufklärung hat immer – absolut immer – mit der
Kritik an Herrschaft zu tun, und Herrschaft hat fast immer mit Herren zu
tun, also mit Männern, mit dem Patriarchat. Die großen monotheistischen
Weltreligionen huldigen einem patriarchalen, strafenden Gott, einem der
stärksten Machtfaktoren für ein hierarchisches, antidemokratisches
Weltbild.
## „Opium fürs Volk“
Marx nannte Religion das „Opium fürs Volk“. Hegel, Kant und Weber waren
Religionskritiker. Freud analysierte als Ursprung für die Erfindung eines
strengen Gottvaters unter anderem ein unmündiges Bedürfnis danach,
Verantwortung an Autoritäten abzugeben, sich kindlich zu unterwerfen. Die
Französische Revolution übte Kritik an Religion als Instrument der
Herrschaft und Unterdrückung. Auch in der Studentenrevolte von 1968 ging es
um die Kritik am Klerus, an der Stellung der Frau in der Kirche, an
religiösen Denkverboten, an den Vorstellungen von Autorität oder an der
grausamen Praxis in staatlichen wie kirchlichen Kinder- und Jugendheimen.
In jüngster Zeit empört sich die demokratische Öffentlichkeit über den
massenhaften Missbrauch von Kindern in katholischen und anderen
Institutionen, der ab 2010 ans Licht gekommen ist.
Kritik von Gläubigen wie Nichtgläubigen an Religion als
Herrschaftsinstrument ist ein Klassiker der Linken! Diese Kritik gehört
zentral zu ihrem Fundament. Umso verrückter erscheint es, wenn die
muslimischen Kritiker ihrer eigenen Religion von Grünen, Linken und sogar
Sozialdemokraten mit Argwohn betrachtet werden. Warum ist unsere Kritik
nicht ebenso berechtigt?
Unter anderen Vorzeichen tut das links-grüne Lager dasselbe wie die
Salafisten, Wahhabisten und übrigen islamischen Fundamentalisten, die wir
kritisieren. Sie wollen kritische Muslime mundtot machen. Die einen
entmündigen Muslime im Namen eines patriarchalischen Gottes, die anderen,
weil sie meinen, Kritik an unserer Religion sei zu kränkend für uns, wir
Muslime seien nicht fähig, kritisch zu denken und uns von verkrusteten
Traditionen zu lösen. Aber warum soll das, was anderen Religionen – dem
Katholizismus, dem Protestantismus, dem Judentum – durch Kritik und Reform
von innen und außen in der großen Mehrheit gelungen ist, nicht auch im
Islam gelingen? Und warum erhalten wir dafür nicht Solidarität von den
Progressiven im Land?
## Brennende Probleme
Den kritischen Muslimen wird die Debatte in Deutschland von zwei Seiten
verweigert: von den offiziellen muslimischen Verbänden und von den meisten
linken, grünen Milieus. Das ist erstaunlich und sollte zu denken geben. In
beiden Lagern weigert man sich, brennende Probleme der muslimischen
Communities klar zu benennen und anzugehen.
Diese Probleme sind, unter anderem: Das Anwachsen eines gefährlichen
Fundamentalismus, der immer mehr junge Leute in den Terrorstaat des IS
zieht, das Ausgrenzen von Frauen als Menschen zweiten Ranges, die Erziehung
von Kindern mit Angstpädagogik, eine Sexualfeindlichkeit, die zugleich
hochgradig sexualisiert wie tabuisiert, ein Buchstabenglaube, der den
Koran nicht in seinem historischen und lokalen Kontext versteht, sondern
als von Allah diktierten Text begreift. Tausende von Beispielen zeigen, wie
unfrei und unglücklich das Kleben an diesen Vorstellungen macht.
Solange die muslimischen Verbände – ebenso wie die Grünen und Linken –
leugnen, dass ein traditionell patriarchalisches Verständnis des Islam den
fundamentalistischen Muslimen in die Hände spielt, solange haben bei diesem
Thema AfD und Pegida das Sagen. Die Neue Rechte pachtet das Benennen der
Probleme für sich – und sie tut es auch tatsächlich: hetzend und
rassistisch, statt politisch aufklärend, soziologisch klar und
religionsanalytisch.
## Keine Solidarität von der AfD
Kluge und präventive Politik muss in der Mitte der Gesellschaft eine
Debatte wollen und anstoßen. Traditionelles Islamverständnis befördert
sexuelle Tabus und sexuelle Gewalt. Es hat enormen Einfluss auf das
Verhalten der Geschlechter zueinander. Was in der Kölner Silvesternacht
passiert ist, hat sein Vorbild auf dem Kairoer Tahrirpatz und anderswo. Von
der „religiösen Tradition“ zur sexuellen Abstinenz gezwungene junge Männe…
greifen auf Frauen in der Öffentlichkeit zu. Das festzustellen ist nicht
rassistisch, sondern ein Fakt. Wir, die Muslime, haben das Problem – die
kritischen unter uns benennen es und brauchen die Solidarität der
Demokraten im Land. Von der AfD, von Pegida wollen wir sie nicht, denn sie
ist keine.
Eine offene, tabufreie Debatte wird zu Lösungen führen, zum Nachdenken und
zu besserer Prävention. Und sie wird die Rechtsradikalen und die Islamisten
schwächen. Dazu muss allen klar werden, dass Muslime nicht für die
„Opferrolle“ gecastet werden wollen, sondern als gleichberechtigte Bürger
gleiche Rechte und Pflichten wahrnehmen wollen.
Wir kritischen Muslime sind viele. Mehr als Ihr denkt. Im April 2015 habe
ich in Berlin das „Muslimische Forum Deutschland“ mitgegründet. Wir
streiten für einen humanistischen Islam, für eine Debatte innerhalb der
muslimischen Community. Wir sind JournalistInnen,
IslamwissenschaftlerInnen, wir sind SoziologInnen, PsychologInnen,
Studierende. Und wir alle sind Teil dieser Gesellschaft. Traut euch, uns
zuzuhören, mit uns zu diskutieren!
9 Jul 2016
## AUTOREN
Ahmad Mansour
## TAGS
Lesestück Meinung und Analyse
Schwerpunkt Rassismus
Religionskritik
Islam
Sexismus
Muslime
Ditib
Zentralrat der Muslime in Deutschland
Schwerpunkt Rassismus
2016
Lesestück Meinung und Analyse
Islamverbände
Islam
Integration
Islam
## ARTIKEL ZUM THEMA
Polarisierung in der Corona-Debatte: Moralische Tabuzone
Nach Migration und Klima wird nun die Debatte über Corona polarisiert –
gefährlich für die Demokratie und schädlich für zugewanderte
Covidpatienten.
Meistgeklickt auf taz.de 2016: Kuscheltiere, Lügenpresse, Analsex
Einige Beiträge auf taz.de gingen 2016 klickmäßig durch die Decke. Wir
haben eine Top 7 zusammengestellt und mit den Autor*innen gesprochen.
Linke und die Debatte um den Islam: Ums Kuscheln geht es nicht
Islamkritik dient oft nur der Bestätigung rassistischer Diskurse. Der Fokus
der Debatte ist einseitig. Eine Replik auf Ahmad Mansour.
Muslimische Kultur in Deutschland: Und der Islam verändert sich doch
Die deutsche Gesellschaft verändert die muslimische Kultur. In einem
Modestudio und in einer Öko-Moschee kann man sehen, wie.
Muslimin über Ausgrenzung: „Wie eine Reise ins Mittelalter“
Sie kämpft gegen antimuslimischen Rassismus. Hatice Durmaz über
salonfähigen Hass, Rechtspopulisten und Anfeindungen in Universitäten.
Deutschland als Einwanderungsland: Nicht jeder ist erwünscht
Nur eine Minderheit hegt ein völkisches Verständnis von „Deutschsein“.
Einwanderer gehören dazu. Aber Muslime fühlen sich oft ausgeschlossen.
Theologe über Grundgesetz und Scharia: „Es braucht keinen deutschen Islam“
Milad Karimi lehrt in Münster islamische Theologie, er kam einst als
Flüchtling aus Kabul nach Deutschland. Nun fordert er, wir sollten hier
„mehr Islam wagen“.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.