| # taz.de -- Botanische Gärten: Panik in der Botanik | |
| > Botanische Gärten sind Meisterwerke – erfahren aber Vernachlässigung. Sie | |
| > werden noch gebraucht, nicht nur aus Tradition. | |
| Bild: Die Titanenwurz aus den Regenwäldern Sumatras blüht selten. In Kiel bl�… | |
| Ein etwas unwahrscheinlicher deutscher Politiker mit langen Haaren geht | |
| langsam durch den Botanischen Garten von Padua. An einer brillantgrünen | |
| Fächerpalme hält Anton Hofreiter an. Chamaerops humilis, Zwergpalme, sie | |
| steht hier schon seit langer Zeit. | |
| Johann Wolfgang von Goethe hat bereits vor mehr als 200 Jahren vor diesem | |
| Baumexemplar gestanden und es bewundert. Schon damals war die Palme, im 16. | |
| Jahrhundert gepflanzt, eine kleine grüne Ewigkeit alt – was Goethe | |
| seinerzeit veranlasste, über einen in der Vorzeit gemeinsamen Ursprung | |
| aller Pflanzenarten zu spekulieren: die Urpflanze. | |
| Hofreiter, der Fraktionsvorsitzende der Grünen auf Italienreise, ist | |
| Botaniker. Irgendwie kann man ihn sich gut vorstellen an diesem Ort, von | |
| dem er erzählt, im 1545 gegründeten Botanischen Garten der Universität | |
| Padua, Europas ältestem seiner Art. Als Tropenbotaniker schleppte sich | |
| Hofreiter einst mit gebrochenem Wadenbein durch den peruanischen Regenwald; | |
| er promovierte über die Systematik von Inka-Liliengewächsen. Ihn umweht ein | |
| Hauch Humboldt-Romantik. | |
| Doch Hofreiter, anders als Alexander von Humboldts Zeitgenosse Goethe, | |
| sinniert beim Anblick von Chamaerops humilis, der Zwergpalme, nicht über | |
| den Ursprung und die Ewigkeit, sondern über die unmittelbare Zukunft: Wird | |
| es in 20 oder 30 Jahren solche Palmen in solchen alten europäischen | |
| Gewächshäusern noch geben? | |
| ## Eine gefährdete Art | |
| Es ist Frühjahr 2016, und die Frage ist: Ist die Ewigkeit bald vorbei? | |
| Europas botanische Gärten sind eine gefährdete Art, was für engagierte | |
| Botaniker wie Hofreiter ein Anlass zur Sorge ist. Der 1952 gegründete | |
| Botanische Garten der Universität Saarbrücken etwa ist im April dieses | |
| Jahres geschlossen worden – wegen plündernder Pflanzendiebe sogar noch | |
| einen Monat früher als geplant. Seitdem ist das Saarland das erste | |
| Bundesland ohne einen botanischen Garten für die Bevölkerung. | |
| Der Garten in Saarbrücken – einer von knapp 75 deutschen Gärten im Verband | |
| Botanischer Gärten – ist vergleichbar der ersten ausgestorbenen Froschart | |
| im heutigen Regenwald geworden: ein unheimliches erstes Zeichen einer viel | |
| radikaleren Krise, eines Artensterbens. | |
| Längst fragen sich andere Gartendirektoren, sogar Direktoren größerer und | |
| besser finanzierter Einrichtungen wie Hamburgs Botanischer Garten mit | |
| seinen zwei Standorten, welche Einrichtung als Nächstes schließe. Unter | |
| Botanikern wird diskutiert, dass der Saarbrückener nicht der letzte | |
| Gartentod gewesen sein wird. In den gartenvernarrten Niederlanden wurden in | |
| den vergangenen Jahren mehrere Gärten aufgegeben. Anderswo, von | |
| Großbritannien bis Tschechien, werden sie zunehmend vernachlässigt. | |
| ## Die Liebe des Menschen zu anderen Spezies | |
| Nur die Biophilia, die natürliche Liebe des Menschen zu anderen Spezies, | |
| die der Biologe E. O. Wilson beschrieb, hat bisher die meisten deutschen | |
| botanischen Gärten immer noch am Leben gehalten, wenn sie gefährdet waren. | |
| Drohende Schließungen rufen stets wütende Bürgerproteste hervor. In Berlin, | |
| Hamburg und Köln haben Proteste in den letzten Jahren mittelfristig | |
| Abschaffungspläne vereiteln können. Nur der Protest von tausenden | |
| Saarbrückern hat diesmal nicht ausgereicht. | |
| Gestresste Städter suchen solche grünen Oasen, wo Kinder zwischen | |
| Blumenbeeten das Laufen lernen und Alte unter mächtigen Bäumen auf Bänken | |
| sitzen, ohne Lärm und Unterhaltungsprogramm. Ein botanischer Garten ist für | |
| den Städter wie die Natur selbst: etwas, das da ist und immer da war. | |
| Also warum sind die Gärten bedroht, wenn doch eigentlich niemand gegen sie | |
| ist? | |
| Die Universität Saarbrücken begründete den Abwicklungsbeschluss ihres | |
| Botanischen Gartens damit, dass er für Forschung und Lehre nicht mehr | |
| gebraucht werde; mit seinem Jahresetat von 500.000 Euro könnten drei | |
| Professorenstellen finanziert werden. | |
| „Das Problem der Gärten ist das knappe Budget der Länder und Städte. Und | |
| dazu die wissenschaftliche Abkehr von der ‚organismischen Biologie‘ zur | |
| profitablen Molekularbiologie“, sagt Anton Hofreiter in seinem Berliner | |
| Büro. | |
| ## Der Unterschied zwischen Hafer und Gerste | |
| Die Abkehr, die Hofreiter meint, ist eine Abkehr vom Feld und eine | |
| Hinwendung zum Labor. Die organismische Biologie beschäftigt sich mit der | |
| Vielfalt und den Beziehungen der Organismen untereinander sowie unter | |
| Umständen mit ihrer Gefährdung durch den Menschen. Wissenschaftler haben | |
| heute ein zunehmend peripheres Interesse an lebenden Pflanzen, weil sie | |
| diese mehr und mehr auf genetischer und molekularer Ebene untersuchen. | |
| Es gehört zur Bestimmung der botanischen Gärten, die Studenten der | |
| Naturwissenschaften mit lebenden Pflanzen vertraut zu machen. | |
| Gartendirektoren beklagen, dass viele Studenten nicht einmal mehr den | |
| Unterschied zwischen Gerste und Hafer kennen würden. In der organismischen | |
| Biologie kann man einen solchen Wissensmangel aufwiegen, doch bald | |
| experimentieren die Laborbiologen in Gewächshäusern mit bloß noch einer | |
| Art, und das über Jahrzehnte. „In Deutschland ist diese Wende sogar | |
| radikaler vollzogen worden als selbst in den USA“, sagt Hofreiter. | |
| Die Entwicklung ist nicht neu. Schon in den Sechzigerjahren beklagte der | |
| brillante ukrainisch-US-amerikanische Biologe Theodosius Dobzhansky, obwohl | |
| selbst Genetiker, dass seine Kollegen in der organismischen Biologie | |
| inzwischen als „Schmetterlingsammler und Vogelbeobachter“ abgetan würden. | |
| Der französische Genetiker und Nobelpreisträger François Jacob sagte es so: | |
| „Es geht nicht mehr um ‚das Leben‘, heute interessiert sich die Biologie | |
| für die Algorithmen des Lebendigen.“ | |
| Hinzu kommt heute, dass die botanischen Gärten nun, in Zeiten der ewigen | |
| Mittelverknappung, wie Dinosaurier wahrgenommen werden, als Verschlinger | |
| üppiger Ressourcen. Zahlreiche Gärtnerstellen sind in den Gärten unbesetzt. | |
| Haushaltskürzungen werden von den Trägern, den Universitäten, direkt an sie | |
| weitergegeben. Die neoliberale Lösung zielt auf Verschlankung, | |
| Verdienstleistung und Selbstausbeutung. | |
| Anton Hofreiter allerdings glaubt, dass die Gärten noch gebraucht werden – | |
| und nicht nur um des bloßen Erhalts eines Kulturguts willen. Er verlangt | |
| eine radikale Neuerfindung: „Ein botanischer Garten muss eine Arche Noah | |
| für den Erhalt der Artenvielfalt sein.“ Wir kommen darauf zurück. | |
| ## Potenzial zur Arche Noah | |
| Der Berliner Botanische Garten der Freien Universität in Dahlem, eine | |
| ehrwürdige Institution mit derzeit noch 22.000 Pflanzenarten, hat das | |
| Potenzial zur Arche Noah. Er siedelt seltene Pflanzen aus aller Welt an, | |
| vermehrt sie und siedelt sie zum Teil wieder aus. | |
| Da ist die Welwitschia mirabilis, die nur in Namibia wächst. Da ist ein 160 | |
| Jahre alter Palmfarn. Da ist ein 25 Meter hoher Bambus. Da sind die | |
| feuchtigkeitsliebenden Pflanzen der nordamerikanischen Atlantikküste. Da | |
| sind alte Eichen, ein Prachtexemplar neben dem anderen. Da ist das üppige | |
| Viktoriagewächshaus mit seiner berühmten brasilianischen Riesenseerose, | |
| einst der Stolz des kaiserzeitlichen Berlins. | |
| Über dem Eingang des Gartens an der Königin-Luise-Straße steht ein Satz von | |
| Goethe: „Habt Ehrfurcht vor den Pflanzen, denn alles lebt durch sie.“ | |
| Man kann hier allerdings auch beobachten, wie eine Neuerfindung des | |
| botanischen Gartens der vergangenen Jahre tatsächlich aussieht: weniger | |
| nach Arche Noah als nach Veranstaltungskulisse. | |
| ## Die Gärten als Kulisse | |
| Besucht man eine der sogenannten Tropischen Nächte im Berliner Palmenhaus, | |
| sieht man wenig von der von Goethe angemahnten Ehrfurcht – zwischen den | |
| Cocktailbars, die alle paar Meter zwischen Pflanzen stehen, ist auch kaum | |
| Platz dafür. Die Besucher trinken Caipirinhas und trippeln im Lauf des | |
| Abends immer schwankender durch die schmalen Pfade zwischen Gewächsen wie | |
| der Seychellen-Palme. | |
| Die Palme ist so schön, dass sie auf praktisch keiner Marketingbroschüre | |
| für die Tropischen Nächte fehlt. Sie ist aber nicht nur schön, sondern auch | |
| fast ausgestorben, weil ihr Habitus auf den Seychellen, den Inseln im | |
| Indischen Ozean, schwindet. Und weil jeder ihrer Samen – es sind die | |
| größten der Pflanzenwelt – ungefähr so schwer wie ein Kleinkind ist; und | |
| damit zu schwer, um von den Seychellen mittels Wind und Wasser woanders | |
| hingetrieben zu werden. | |
| Die Besucher, die nicht recht wahrzunehmen scheinen, dass sich in ihrer | |
| Mitte ein Wunder befindet, wippen zu Salsa-Musik, die von leicht | |
| bekleideten Sängerinnen geboten wird. | |
| Früher, bei den „Sonnenaufgängen im Regenwald“, die der Botanische Garten | |
| organisierte, standen noch die Pflanzen im Mittelpunkt, Kulisse war nur die | |
| Soundcollage. Heute, bei den „Tropischen Nächten“, ist es umgekehrt: Die | |
| seltenen Bäume fungieren als grüne Tapete. | |
| Die Veranstaltung ist ein Sinnbild für den neuen Umgang mit den Gärten, den | |
| wissenschaftlichen wie den politischen. | |
| Ein Fachgärtner im Berliner Botanischen Garten, der nicht namentlich | |
| genannt werden will, weil er ohnehin Angst um seinen Job hat, kritisiert, | |
| die Wissenschaftler würden sich gar nicht für die Pflanze interessieren, | |
| sie wollten nur kurz in sie hineingucken. | |
| ## Die Steinmetze unserer Zeit | |
| Und mit dem sinkenden Stellenwert der Gärten in den Wissenschaften steigt | |
| der Sachzwang, sie anders zu verwerten. Für die tanzenden Abendtouristen | |
| wie für nichtorganismisch orientierte Biologen wird die lebende Natur zum | |
| Beiwerk für distinktiven Lifestyle und wissenschaftliche Ideologien. | |
| Thomas Borowka ist der Leiter der Gewächshäuser. Er wird zusammen mit den | |
| Palmen und dem Palmenhaus als Gesamtpaket für die „Tropische Nacht“ an die | |
| veranstaltende Firma mitvermietet. Er zeigt den angeheiterten Besuchern bei | |
| der Salsa-Nacht Fotos von Monokulturen wie Soja, die den südamerikanischen | |
| Regenwald quadratkilometerweise veröden lassen. Das ist nicht das | |
| Lateinamerika von Salsa und Bacardi-Rum. | |
| Borowka, so könnte man es frei interpretieren, zeigt mit den Bildern der | |
| Verödung des Regenwalds auch die drohende Verödung der botanischen Gärten. | |
| ## Ohne Rücksicht auf Verluste | |
| Die hochspezialisierten Gärtner der botanischen Gärten sind die Steinmetze | |
| unserer Zeit. Sie reisen durch Europa, um Wasserpflanzen in Breslau | |
| kennenzulernen oder Kakteen in Amsterdam, so wie einst die Steinmetze alle | |
| gotischen Kirchen auf der Suche nach neuen handwerklichen Fähigkeiten | |
| aufsuchten. Wie lange aber wird es in der Atmosphäre des Sparzwangs und der | |
| Degradierung der Gärtner zu Dienstleistern diese Bildungsreisen noch geben? | |
| Bereits 2003 entging der Berliner Botanische Garten nur knapp der | |
| Schließung. Seine Lage ist seitdem prekär. 2007 wurde eine | |
| Betriebsgesellschaft gegründet, die nicht nach Tarif bezahlt, ein | |
| 100-prozentiges Tochterunternehmen der Freien Universität – ein Stiefkind. | |
| Nun wird gespart; es wird in Gebäude investiert, aber Stellen bleiben | |
| unbesetzt, Blumenbeete lässt man verwildern, und es wird über zündende | |
| neoliberale Lösungen nachgedacht. | |
| „Die drastischen Kürzungen der Landesmittel werden seit Jahren seitens der | |
| Freien Universität ohne Rücksicht auf Verluste an den Botanischen Garten | |
| weitergegeben“, kritisieren Gruppen wie „Work Watch“, eine Initiative, die | |
| mit der Gewerkschaft Verdi eng zusammenarbeitet; Günter Wallraff ist ihr | |
| bekanntester Aktivist. „18 offene Stellen sorgen dafür, dass den | |
| Gärtnerinnen und Gärtner die Arbeit buchstäblich über den Kopf wächst.“ | |
| ## Professoren sitzen auf KW-Stellen – „kann weg“ | |
| Bei jeder Veranstaltung der „Tropischen Nächte“ gibt es eine Schar linker | |
| Schüler und Studenten, Vertreter der „Revolutionär-kommunistischen Jugend�… | |
| die gegen den Arbeitgeber Freie Universität agitieren, wegen der schlechten | |
| Behandlung einfacher Arbeitnehmer wie Putzfrauen und Wachpersonal, wegen | |
| Lohndumpings und Tarifflucht. | |
| Im neu gewählten Studierendenparlament der FU setzten sie als Erstes eine | |
| Solidaritätsadresse an die Angestellten des Botanischen Gartens durch. Bei | |
| den nächtlichen Events versuchen sie, die Palmenhausbesucher zu agitieren, | |
| bevor die im Rausch des Abends womöglich nicht mehr aufnahmefähig sind. | |
| Die Spartendenz zieht sich durch zahlreiche Institutionen in mehreren | |
| Städten. | |
| Nicht nur Putzfrauen, Wachpersonal und Techniker sind bedroht, auch die | |
| organismische Biologie, die sich mit den Beziehungen der Lebewesen | |
| zueinander beschäftigt, wird eingedampft. Ihre Vertreter sitzen oft auf | |
| einer KW-Stelle – KW heißt: „kann weg“, sobald ein Stelleninhaber | |
| ausscheidet. | |
| An der Universität Potsdam zum Beispiel fiel der ganze feldbiologische | |
| Bereich mit der Emeritierung des Zoologen Hans-Dieter Wallschläger weg. | |
| Was den Botanischen Garten in Berlin-Dahlem betrifft, ihm steht ein derzeit | |
| mit 14 Millionen Euro veranschlagtes Bauprogramm bevor. Es soll angeblich | |
| den Garten für Touristen besser vermarktbar machen. In einem Exposé, das | |
| der taz vorliegt, wird die angeblich unterbewertete Anlage als | |
| „Dornröschen“ bezeichnet, welches „wir gerne wecken würden“: mit neuen | |
| Gebäuden, einer Multimediainstallation, Smart-Technologien wie einem | |
| 3-D-Leitsystem und einem elektronischen Kassen- und Zutrittssystem für | |
| Besucher. Investitionen in die Gartenarbeit aber sind nicht vorgesehen. | |
| ## Gärten, ein Freizeitpark? | |
| Manche Gärtner in Berlin gehen davon aus, dass der Botanische Garten mit | |
| seinen 22.000 Arten irgendwann nur noch einer mit 16.000 Arten sein und | |
| sich langsam zu einer Art Freizeitpark entwickeln wird. | |
| In anderen, sogar in reicheren Städten, gibt es vergleichbare | |
| Entwicklungen. | |
| In Hamburg verhinderte ein Bürgerprotest zwar die Schließung des Gartens. | |
| Beschnitten wurde er trotzdem. Als er 2012 in Loki-Schmidt-Garten umbenannt | |
| wurde, gab der Referent des Naturschutzbunds für Umweltpolitik, Malte | |
| Siegert, [1][der taz ein Interview]. Die Artenvielfalt „wird im Botanischen | |
| Garten aus Finanznot seit Jahren stetig reduziert“, sagte er: die | |
| Naturschutzabteilung des Gartens, in der im Freiland geschützte Arten | |
| gezeigt wurden – geschlossen. Die sogenannte Kleine Salzwiese – | |
| zugeschüttet. Der Heidegarten – eingestellt. „Wir befürchten, dass das | |
| nicht alles ist“, sagte Siegert. „Wenn die Einsparungen weitergehen, wird | |
| der Botanische Garten irgendwann ein Park mit viel Rasen, aber wenig | |
| Pflanzenvielfalt – einfach weil dessen Pflege weniger personalintensiv und | |
| somit kostengünstiger ist.“ | |
| An vielen Orten also ganz ähnliche Tendenzen: ein Umbau zulasten des | |
| Wesentlichen seit den Anfängen der botanischen Gärten in Padua – der | |
| intensiven Beschäftigung mit lebendigen Pflanzen. | |
| Die Reduktion der Artenvielfalt im botanischen Garten der Gegenwart wirkt | |
| deshalb so absurd, weil sie so leicht vermeidbar wäre – wenn man sie | |
| vermeiden wollte. Etwa durch die Kommunalisierung der Gärten und eine | |
| Bürgerschaft, die bereit wäre, für das Wesentliche Opfer zu bringen. | |
| ## Ein Labsal | |
| Alfred Döblin, der Berliner Schriftsteller und Nervenarzt, schrieb im | |
| Inflationsjahr 1923 als Theaterkritiker von der tiefen Ruhe und | |
| Zufriedenheit, die er im Berliner Botanischen Garten empfinden konnte – | |
| mitten in den Katastrophen von Weimar. Ginge Deutschland vor die Hunde, | |
| blieben die Pflanzen des Gartens für ihn wie ein Labsal, schrieb er. | |
| Döblin sah in dem Garten nicht weniger als ein Weltwunder, das die Weimarer | |
| Krisen überdauern würde. Gebaut von Generationen von Gärtnern, von | |
| Entdeckern wie Alexander von Humboldt, der die südamerikanische Sammlung | |
| begründet hat, von Botanikern wie Adelbert von Chamisso, der als Kustos des | |
| Gartens erstaunliche Beobachtungen an den Korallenriffen der Südsee machte. | |
| Döblin sah das Ensemble der Pflanzen auf einer Stufe mit den Pyramiden, mit | |
| unendlicher Mühe für die Ewigkeit gebaut. | |
| Als in Europa die gotischen Kathedralen errichtet wurden, wurden die | |
| mittelalterlichen Städte und Gesellschaften bis an den Rand ihrer | |
| technischen, politischen und finanziellen Möglichkeiten gebracht. So | |
| kostspielig die botanischen Gärten in Berlin oder Hamburg auch sein mögen – | |
| wer würde behaupten, dass sie nicht zu erhalten wären? | |
| ## Der Grund ist: das Artensterben | |
| Es geht dabei, wenn man Grünen-Fraktionschef Anton Hofreiter folgt, nicht | |
| nur um den Erhalt eines Kulturguts, es geht um die Zukunft. Einen | |
| zwingenden Grund, an den botanischen Gärten festzuhalten, sieht er darin, | |
| dass sie helfen können, Erkenntnisse über das sogenannte Artensterben zu | |
| gewinnen. | |
| „Die Reduzierung der ‚organismischen Biologie‘ ist deswegen zu bedauern, | |
| weil vor allem das derzeitige Artensterben noch völlig ungenügend erforscht | |
| ist“, sagt er. Es ist eine Biologie, die übergreifende Zusammenhänge | |
| erforscht und auch den Einfluss des Menschen einbezieht. „Inzwischen sind | |
| über 30 Prozent der Arten gefährdet, sie stehen auf der ‚Roten Liste‘, man | |
| spricht bereits vom ‚Sechsten Massensterben‘.“ Alle fünf Massensterben v… | |
| Arten davor waren Naturerscheinungen – der Asteroid, der die Dinosaurier | |
| aus der Evolution ausradierte, zum Beispiel. Doch jetzt, sagt Hofreiter, | |
| führten menschliche Einflüsse dazu, dass immer mehr Arten akut bedroht | |
| seien. | |
| Südamerikanische Frösche sterben massenhaft in den Regenwäldern wegen eines | |
| importierten heimtückischen Pilzes namens Chytrid. | |
| Korallenriffe, jene Oasen des Lebens im Ozean, sterben nach Millionen von | |
| Jahren Wachstum an der Erwärmung und Übersäuerung des Meeres. | |
| „Ohne die organismische Biologie wird die Menschheit nicht einmal eine | |
| Diagnose der Situation in der Hand haben. Zur Biologie gehört das | |
| Kennenlernen der Vielfalt.“ Und die, sagt er, würde in den botanischen | |
| Gärten gezeigt, und die Studierenden würden darin geschult. | |
| ## Kein Rummelplatz | |
| Maximilian Weigend läuft durch die Pflanzengeografie seines botanischen | |
| Gartens. Er ist einer von Hofreiters Studienfreunden aus der Universität | |
| Regensburg. Heute ist er Direktor der Botanischen Gärten in Bonn. | |
| Er geht von den Sumpfbäumen aus den Südstaaten bis zu den südostasiatischen | |
| Bäumen mit riesigen lila Blüten. | |
| „Ein botanischer Garten ist kein Rummelplatz“, sagt der energische Bayer | |
| Weigend. Die Events, die in vielen Gärten stattfinden, betrachtet er als | |
| Verlustgeschäfte, weil sie so viel Kapital und Fachkräfte unentgeltlich | |
| binden und weil sie seiner Meinung nach eher Verschleiß als Gewinn für den | |
| Garten bringen. | |
| Aber was dann? Maximilian Weigend sagt, die Zukunft der Gärten sei in | |
| diesem Zeitalter des Artensterbens so wichtig, dass man sich ernsthaft | |
| Gedanken über alternative Finanzierungen machen sollte. Die Bonner | |
| Botanischen Gärten sehe er bei der Universität der Stadt gut aufgehoben, | |
| sagt er. Dennoch, man müsse nachdenken darüber, ob es andere, geeignetere | |
| Träger gibt als die Universität, die sich zur Industrie und nach | |
| Drittmitteln streckt. | |
| Als Präsident des Verbands Botanischer Gärten befürwortet er die gänzliche | |
| oder teilweise Kommunalisierung der Gärten. Auch Stiftungen als Träger kann | |
| er sich vorstellen. Nur nichts tun – das gehe nicht, sagt er mit Blick auf | |
| die Schließung des Saarbrücker Gartens im April. | |
| In Saarbrücken habe es schon vor vielen Jahren die ersten Warnzeichen | |
| gegeben. „Viele Pflanzen wandern aus ihrem angestammten Gebiet, wenn das | |
| Klima sich wandelt.“ So wie sich die Pflanzen dann eine neue Nische suchen, | |
| so müssten auch die Gärten aufbrechen. Eine Hauptaufgabe in den nächsten | |
| Jahren werde etwa die ökologische Bildung sein. | |
| Weigend gehört, wie Hofreiter, einer jungen Generation von Botanikern an, | |
| die als Entdecker unerforschter Gebiete zu verstehen sind. Entdecker, das | |
| sind heute nicht mehr Leute auf der Suche nach der Nilquelle. Sondern auf | |
| der Suche nach den evolutionären Folgen des menschlichen Einflusses in der | |
| Welt; nach den Auswirkungen des Anthropozäns. Sie erforschen etwa die sich | |
| entwickelnde Mobilität von Pflanzen, die sich ein neues Klima suchen | |
| müssen; die Biodiversität. Botaniker sind heute so unentbehrlich für die | |
| Klimawissenschaftler wie einst Anatomiker für die Ärzte der Renaissance. | |
| Anton Hofreiter sagt: „Wir brauchen eine Offensive für die | |
| Diversitätsforschung und dazu Lobbyarbeit. Dafür müssen neben den Gärtnern | |
| und den interessierten Bürgern auch die Wissenschaftler gewonnen werden. | |
| Die vorhandenen Gelder dürfen nicht nur für die Genetik und die | |
| Molekularbiologie verwendet werden.“ | |
| ## Die Ekstase des Ablaichens und der Horror | |
| Maximilian Weigend schimpft, während er durch den Botanischen Garten läuft, | |
| zwischendurch auf die Hörigkeit gegenüber „Big Data“ bei der Vermessung d… | |
| Welt des Klimawandels. Big-Data-Apologeten „denken, dass grottenschlechte | |
| Daten über Pflanzen aussagekräftig werden, wenn man sie nur massenweise | |
| erhebt“. | |
| Das sei aber nicht so, sagt er, und da sind wir wieder bei den Anfängen der | |
| botanischen Gärten, in Padua, im 16. Jahrhundert. Bei der intensiven | |
| Beschäftigung mit dem Leben. Und bei der Sorge, dass diese kleine Ewigkeit | |
| enden könnte. | |
| Wer einmal eine tropische Nacht auf einem Korallenriff erlebt hat, in der | |
| Zeit des Massenablaichens, das in nur einer orgiastischen Nacht des Jahres, | |
| zu Beginn des Sommers, stattfindet, der hat die Ekstase und den Horror | |
| gleichzeitig erlebt: die Ekstase über ein natürliches und immer | |
| wiederkehrendes Wunder, wenn rosafarbene Eier plötzlich millionenfach durch | |
| das Wasser nach oben pulsieren. Und den Horror über den drohenden Verlust | |
| dieser Unterwasser-Oasen, die Millionen Organismen im kargen tropischen | |
| Gewässer am Leben erhalten. | |
| Wie die Korallenriffe spielen die botanischen Gärten eine helfende und | |
| revitalisierende Rolle, jetzt, da unsere Welt an Arten immer ärmer wird. | |
| Es sind beide Wunder vom Zerfall bedroht. | |
| 2 Jun 2016 | |
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