# taz.de -- Botanische Gärten: Panik in der Botanik | |
> Botanische Gärten sind Meisterwerke – erfahren aber Vernachlässigung. Sie | |
> werden noch gebraucht, nicht nur aus Tradition. | |
Bild: Die Titanenwurz aus den Regenwäldern Sumatras blüht selten. In Kiel bl�… | |
Ein etwas unwahrscheinlicher deutscher Politiker mit langen Haaren geht | |
langsam durch den Botanischen Garten von Padua. An einer brillantgrünen | |
Fächerpalme hält Anton Hofreiter an. Chamaerops humilis, Zwergpalme, sie | |
steht hier schon seit langer Zeit. | |
Johann Wolfgang von Goethe hat bereits vor mehr als 200 Jahren vor diesem | |
Baumexemplar gestanden und es bewundert. Schon damals war die Palme, im 16. | |
Jahrhundert gepflanzt, eine kleine grüne Ewigkeit alt – was Goethe | |
seinerzeit veranlasste, über einen in der Vorzeit gemeinsamen Ursprung | |
aller Pflanzenarten zu spekulieren: die Urpflanze. | |
Hofreiter, der Fraktionsvorsitzende der Grünen auf Italienreise, ist | |
Botaniker. Irgendwie kann man ihn sich gut vorstellen an diesem Ort, von | |
dem er erzählt, im 1545 gegründeten Botanischen Garten der Universität | |
Padua, Europas ältestem seiner Art. Als Tropenbotaniker schleppte sich | |
Hofreiter einst mit gebrochenem Wadenbein durch den peruanischen Regenwald; | |
er promovierte über die Systematik von Inka-Liliengewächsen. Ihn umweht ein | |
Hauch Humboldt-Romantik. | |
Doch Hofreiter, anders als Alexander von Humboldts Zeitgenosse Goethe, | |
sinniert beim Anblick von Chamaerops humilis, der Zwergpalme, nicht über | |
den Ursprung und die Ewigkeit, sondern über die unmittelbare Zukunft: Wird | |
es in 20 oder 30 Jahren solche Palmen in solchen alten europäischen | |
Gewächshäusern noch geben? | |
## Eine gefährdete Art | |
Es ist Frühjahr 2016, und die Frage ist: Ist die Ewigkeit bald vorbei? | |
Europas botanische Gärten sind eine gefährdete Art, was für engagierte | |
Botaniker wie Hofreiter ein Anlass zur Sorge ist. Der 1952 gegründete | |
Botanische Garten der Universität Saarbrücken etwa ist im April dieses | |
Jahres geschlossen worden – wegen plündernder Pflanzendiebe sogar noch | |
einen Monat früher als geplant. Seitdem ist das Saarland das erste | |
Bundesland ohne einen botanischen Garten für die Bevölkerung. | |
Der Garten in Saarbrücken – einer von knapp 75 deutschen Gärten im Verband | |
Botanischer Gärten – ist vergleichbar der ersten ausgestorbenen Froschart | |
im heutigen Regenwald geworden: ein unheimliches erstes Zeichen einer viel | |
radikaleren Krise, eines Artensterbens. | |
Längst fragen sich andere Gartendirektoren, sogar Direktoren größerer und | |
besser finanzierter Einrichtungen wie Hamburgs Botanischer Garten mit | |
seinen zwei Standorten, welche Einrichtung als Nächstes schließe. Unter | |
Botanikern wird diskutiert, dass der Saarbrückener nicht der letzte | |
Gartentod gewesen sein wird. In den gartenvernarrten Niederlanden wurden in | |
den vergangenen Jahren mehrere Gärten aufgegeben. Anderswo, von | |
Großbritannien bis Tschechien, werden sie zunehmend vernachlässigt. | |
## Die Liebe des Menschen zu anderen Spezies | |
Nur die Biophilia, die natürliche Liebe des Menschen zu anderen Spezies, | |
die der Biologe E. O. Wilson beschrieb, hat bisher die meisten deutschen | |
botanischen Gärten immer noch am Leben gehalten, wenn sie gefährdet waren. | |
Drohende Schließungen rufen stets wütende Bürgerproteste hervor. In Berlin, | |
Hamburg und Köln haben Proteste in den letzten Jahren mittelfristig | |
Abschaffungspläne vereiteln können. Nur der Protest von tausenden | |
Saarbrückern hat diesmal nicht ausgereicht. | |
Gestresste Städter suchen solche grünen Oasen, wo Kinder zwischen | |
Blumenbeeten das Laufen lernen und Alte unter mächtigen Bäumen auf Bänken | |
sitzen, ohne Lärm und Unterhaltungsprogramm. Ein botanischer Garten ist für | |
den Städter wie die Natur selbst: etwas, das da ist und immer da war. | |
Also warum sind die Gärten bedroht, wenn doch eigentlich niemand gegen sie | |
ist? | |
Die Universität Saarbrücken begründete den Abwicklungsbeschluss ihres | |
Botanischen Gartens damit, dass er für Forschung und Lehre nicht mehr | |
gebraucht werde; mit seinem Jahresetat von 500.000 Euro könnten drei | |
Professorenstellen finanziert werden. | |
„Das Problem der Gärten ist das knappe Budget der Länder und Städte. Und | |
dazu die wissenschaftliche Abkehr von der ‚organismischen Biologie‘ zur | |
profitablen Molekularbiologie“, sagt Anton Hofreiter in seinem Berliner | |
Büro. | |
## Der Unterschied zwischen Hafer und Gerste | |
Die Abkehr, die Hofreiter meint, ist eine Abkehr vom Feld und eine | |
Hinwendung zum Labor. Die organismische Biologie beschäftigt sich mit der | |
Vielfalt und den Beziehungen der Organismen untereinander sowie unter | |
Umständen mit ihrer Gefährdung durch den Menschen. Wissenschaftler haben | |
heute ein zunehmend peripheres Interesse an lebenden Pflanzen, weil sie | |
diese mehr und mehr auf genetischer und molekularer Ebene untersuchen. | |
Es gehört zur Bestimmung der botanischen Gärten, die Studenten der | |
Naturwissenschaften mit lebenden Pflanzen vertraut zu machen. | |
Gartendirektoren beklagen, dass viele Studenten nicht einmal mehr den | |
Unterschied zwischen Gerste und Hafer kennen würden. In der organismischen | |
Biologie kann man einen solchen Wissensmangel aufwiegen, doch bald | |
experimentieren die Laborbiologen in Gewächshäusern mit bloß noch einer | |
Art, und das über Jahrzehnte. „In Deutschland ist diese Wende sogar | |
radikaler vollzogen worden als selbst in den USA“, sagt Hofreiter. | |
Die Entwicklung ist nicht neu. Schon in den Sechzigerjahren beklagte der | |
brillante ukrainisch-US-amerikanische Biologe Theodosius Dobzhansky, obwohl | |
selbst Genetiker, dass seine Kollegen in der organismischen Biologie | |
inzwischen als „Schmetterlingsammler und Vogelbeobachter“ abgetan würden. | |
Der französische Genetiker und Nobelpreisträger François Jacob sagte es so: | |
„Es geht nicht mehr um ‚das Leben‘, heute interessiert sich die Biologie | |
für die Algorithmen des Lebendigen.“ | |
Hinzu kommt heute, dass die botanischen Gärten nun, in Zeiten der ewigen | |
Mittelverknappung, wie Dinosaurier wahrgenommen werden, als Verschlinger | |
üppiger Ressourcen. Zahlreiche Gärtnerstellen sind in den Gärten unbesetzt. | |
Haushaltskürzungen werden von den Trägern, den Universitäten, direkt an sie | |
weitergegeben. Die neoliberale Lösung zielt auf Verschlankung, | |
Verdienstleistung und Selbstausbeutung. | |
Anton Hofreiter allerdings glaubt, dass die Gärten noch gebraucht werden – | |
und nicht nur um des bloßen Erhalts eines Kulturguts willen. Er verlangt | |
eine radikale Neuerfindung: „Ein botanischer Garten muss eine Arche Noah | |
für den Erhalt der Artenvielfalt sein.“ Wir kommen darauf zurück. | |
## Potenzial zur Arche Noah | |
Der Berliner Botanische Garten der Freien Universität in Dahlem, eine | |
ehrwürdige Institution mit derzeit noch 22.000 Pflanzenarten, hat das | |
Potenzial zur Arche Noah. Er siedelt seltene Pflanzen aus aller Welt an, | |
vermehrt sie und siedelt sie zum Teil wieder aus. | |
Da ist die Welwitschia mirabilis, die nur in Namibia wächst. Da ist ein 160 | |
Jahre alter Palmfarn. Da ist ein 25 Meter hoher Bambus. Da sind die | |
feuchtigkeitsliebenden Pflanzen der nordamerikanischen Atlantikküste. Da | |
sind alte Eichen, ein Prachtexemplar neben dem anderen. Da ist das üppige | |
Viktoriagewächshaus mit seiner berühmten brasilianischen Riesenseerose, | |
einst der Stolz des kaiserzeitlichen Berlins. | |
Über dem Eingang des Gartens an der Königin-Luise-Straße steht ein Satz von | |
Goethe: „Habt Ehrfurcht vor den Pflanzen, denn alles lebt durch sie.“ | |
Man kann hier allerdings auch beobachten, wie eine Neuerfindung des | |
botanischen Gartens der vergangenen Jahre tatsächlich aussieht: weniger | |
nach Arche Noah als nach Veranstaltungskulisse. | |
## Die Gärten als Kulisse | |
Besucht man eine der sogenannten Tropischen Nächte im Berliner Palmenhaus, | |
sieht man wenig von der von Goethe angemahnten Ehrfurcht – zwischen den | |
Cocktailbars, die alle paar Meter zwischen Pflanzen stehen, ist auch kaum | |
Platz dafür. Die Besucher trinken Caipirinhas und trippeln im Lauf des | |
Abends immer schwankender durch die schmalen Pfade zwischen Gewächsen wie | |
der Seychellen-Palme. | |
Die Palme ist so schön, dass sie auf praktisch keiner Marketingbroschüre | |
für die Tropischen Nächte fehlt. Sie ist aber nicht nur schön, sondern auch | |
fast ausgestorben, weil ihr Habitus auf den Seychellen, den Inseln im | |
Indischen Ozean, schwindet. Und weil jeder ihrer Samen – es sind die | |
größten der Pflanzenwelt – ungefähr so schwer wie ein Kleinkind ist; und | |
damit zu schwer, um von den Seychellen mittels Wind und Wasser woanders | |
hingetrieben zu werden. | |
Die Besucher, die nicht recht wahrzunehmen scheinen, dass sich in ihrer | |
Mitte ein Wunder befindet, wippen zu Salsa-Musik, die von leicht | |
bekleideten Sängerinnen geboten wird. | |
Früher, bei den „Sonnenaufgängen im Regenwald“, die der Botanische Garten | |
organisierte, standen noch die Pflanzen im Mittelpunkt, Kulisse war nur die | |
Soundcollage. Heute, bei den „Tropischen Nächten“, ist es umgekehrt: Die | |
seltenen Bäume fungieren als grüne Tapete. | |
Die Veranstaltung ist ein Sinnbild für den neuen Umgang mit den Gärten, den | |
wissenschaftlichen wie den politischen. | |
Ein Fachgärtner im Berliner Botanischen Garten, der nicht namentlich | |
genannt werden will, weil er ohnehin Angst um seinen Job hat, kritisiert, | |
die Wissenschaftler würden sich gar nicht für die Pflanze interessieren, | |
sie wollten nur kurz in sie hineingucken. | |
## Die Steinmetze unserer Zeit | |
Und mit dem sinkenden Stellenwert der Gärten in den Wissenschaften steigt | |
der Sachzwang, sie anders zu verwerten. Für die tanzenden Abendtouristen | |
wie für nichtorganismisch orientierte Biologen wird die lebende Natur zum | |
Beiwerk für distinktiven Lifestyle und wissenschaftliche Ideologien. | |
Thomas Borowka ist der Leiter der Gewächshäuser. Er wird zusammen mit den | |
Palmen und dem Palmenhaus als Gesamtpaket für die „Tropische Nacht“ an die | |
veranstaltende Firma mitvermietet. Er zeigt den angeheiterten Besuchern bei | |
der Salsa-Nacht Fotos von Monokulturen wie Soja, die den südamerikanischen | |
Regenwald quadratkilometerweise veröden lassen. Das ist nicht das | |
Lateinamerika von Salsa und Bacardi-Rum. | |
Borowka, so könnte man es frei interpretieren, zeigt mit den Bildern der | |
Verödung des Regenwalds auch die drohende Verödung der botanischen Gärten. | |
## Ohne Rücksicht auf Verluste | |
Die hochspezialisierten Gärtner der botanischen Gärten sind die Steinmetze | |
unserer Zeit. Sie reisen durch Europa, um Wasserpflanzen in Breslau | |
kennenzulernen oder Kakteen in Amsterdam, so wie einst die Steinmetze alle | |
gotischen Kirchen auf der Suche nach neuen handwerklichen Fähigkeiten | |
aufsuchten. Wie lange aber wird es in der Atmosphäre des Sparzwangs und der | |
Degradierung der Gärtner zu Dienstleistern diese Bildungsreisen noch geben? | |
Bereits 2003 entging der Berliner Botanische Garten nur knapp der | |
Schließung. Seine Lage ist seitdem prekär. 2007 wurde eine | |
Betriebsgesellschaft gegründet, die nicht nach Tarif bezahlt, ein | |
100-prozentiges Tochterunternehmen der Freien Universität – ein Stiefkind. | |
Nun wird gespart; es wird in Gebäude investiert, aber Stellen bleiben | |
unbesetzt, Blumenbeete lässt man verwildern, und es wird über zündende | |
neoliberale Lösungen nachgedacht. | |
„Die drastischen Kürzungen der Landesmittel werden seit Jahren seitens der | |
Freien Universität ohne Rücksicht auf Verluste an den Botanischen Garten | |
weitergegeben“, kritisieren Gruppen wie „Work Watch“, eine Initiative, die | |
mit der Gewerkschaft Verdi eng zusammenarbeitet; Günter Wallraff ist ihr | |
bekanntester Aktivist. „18 offene Stellen sorgen dafür, dass den | |
Gärtnerinnen und Gärtner die Arbeit buchstäblich über den Kopf wächst.“ | |
## Professoren sitzen auf KW-Stellen – „kann weg“ | |
Bei jeder Veranstaltung der „Tropischen Nächte“ gibt es eine Schar linker | |
Schüler und Studenten, Vertreter der „Revolutionär-kommunistischen Jugend�… | |
die gegen den Arbeitgeber Freie Universität agitieren, wegen der schlechten | |
Behandlung einfacher Arbeitnehmer wie Putzfrauen und Wachpersonal, wegen | |
Lohndumpings und Tarifflucht. | |
Im neu gewählten Studierendenparlament der FU setzten sie als Erstes eine | |
Solidaritätsadresse an die Angestellten des Botanischen Gartens durch. Bei | |
den nächtlichen Events versuchen sie, die Palmenhausbesucher zu agitieren, | |
bevor die im Rausch des Abends womöglich nicht mehr aufnahmefähig sind. | |
Die Spartendenz zieht sich durch zahlreiche Institutionen in mehreren | |
Städten. | |
Nicht nur Putzfrauen, Wachpersonal und Techniker sind bedroht, auch die | |
organismische Biologie, die sich mit den Beziehungen der Lebewesen | |
zueinander beschäftigt, wird eingedampft. Ihre Vertreter sitzen oft auf | |
einer KW-Stelle – KW heißt: „kann weg“, sobald ein Stelleninhaber | |
ausscheidet. | |
An der Universität Potsdam zum Beispiel fiel der ganze feldbiologische | |
Bereich mit der Emeritierung des Zoologen Hans-Dieter Wallschläger weg. | |
Was den Botanischen Garten in Berlin-Dahlem betrifft, ihm steht ein derzeit | |
mit 14 Millionen Euro veranschlagtes Bauprogramm bevor. Es soll angeblich | |
den Garten für Touristen besser vermarktbar machen. In einem Exposé, das | |
der taz vorliegt, wird die angeblich unterbewertete Anlage als | |
„Dornröschen“ bezeichnet, welches „wir gerne wecken würden“: mit neuen | |
Gebäuden, einer Multimediainstallation, Smart-Technologien wie einem | |
3-D-Leitsystem und einem elektronischen Kassen- und Zutrittssystem für | |
Besucher. Investitionen in die Gartenarbeit aber sind nicht vorgesehen. | |
## Gärten, ein Freizeitpark? | |
Manche Gärtner in Berlin gehen davon aus, dass der Botanische Garten mit | |
seinen 22.000 Arten irgendwann nur noch einer mit 16.000 Arten sein und | |
sich langsam zu einer Art Freizeitpark entwickeln wird. | |
In anderen, sogar in reicheren Städten, gibt es vergleichbare | |
Entwicklungen. | |
In Hamburg verhinderte ein Bürgerprotest zwar die Schließung des Gartens. | |
Beschnitten wurde er trotzdem. Als er 2012 in Loki-Schmidt-Garten umbenannt | |
wurde, gab der Referent des Naturschutzbunds für Umweltpolitik, Malte | |
Siegert, [1][der taz ein Interview]. Die Artenvielfalt „wird im Botanischen | |
Garten aus Finanznot seit Jahren stetig reduziert“, sagte er: die | |
Naturschutzabteilung des Gartens, in der im Freiland geschützte Arten | |
gezeigt wurden – geschlossen. Die sogenannte Kleine Salzwiese – | |
zugeschüttet. Der Heidegarten – eingestellt. „Wir befürchten, dass das | |
nicht alles ist“, sagte Siegert. „Wenn die Einsparungen weitergehen, wird | |
der Botanische Garten irgendwann ein Park mit viel Rasen, aber wenig | |
Pflanzenvielfalt – einfach weil dessen Pflege weniger personalintensiv und | |
somit kostengünstiger ist.“ | |
An vielen Orten also ganz ähnliche Tendenzen: ein Umbau zulasten des | |
Wesentlichen seit den Anfängen der botanischen Gärten in Padua – der | |
intensiven Beschäftigung mit lebendigen Pflanzen. | |
Die Reduktion der Artenvielfalt im botanischen Garten der Gegenwart wirkt | |
deshalb so absurd, weil sie so leicht vermeidbar wäre – wenn man sie | |
vermeiden wollte. Etwa durch die Kommunalisierung der Gärten und eine | |
Bürgerschaft, die bereit wäre, für das Wesentliche Opfer zu bringen. | |
## Ein Labsal | |
Alfred Döblin, der Berliner Schriftsteller und Nervenarzt, schrieb im | |
Inflationsjahr 1923 als Theaterkritiker von der tiefen Ruhe und | |
Zufriedenheit, die er im Berliner Botanischen Garten empfinden konnte – | |
mitten in den Katastrophen von Weimar. Ginge Deutschland vor die Hunde, | |
blieben die Pflanzen des Gartens für ihn wie ein Labsal, schrieb er. | |
Döblin sah in dem Garten nicht weniger als ein Weltwunder, das die Weimarer | |
Krisen überdauern würde. Gebaut von Generationen von Gärtnern, von | |
Entdeckern wie Alexander von Humboldt, der die südamerikanische Sammlung | |
begründet hat, von Botanikern wie Adelbert von Chamisso, der als Kustos des | |
Gartens erstaunliche Beobachtungen an den Korallenriffen der Südsee machte. | |
Döblin sah das Ensemble der Pflanzen auf einer Stufe mit den Pyramiden, mit | |
unendlicher Mühe für die Ewigkeit gebaut. | |
Als in Europa die gotischen Kathedralen errichtet wurden, wurden die | |
mittelalterlichen Städte und Gesellschaften bis an den Rand ihrer | |
technischen, politischen und finanziellen Möglichkeiten gebracht. So | |
kostspielig die botanischen Gärten in Berlin oder Hamburg auch sein mögen – | |
wer würde behaupten, dass sie nicht zu erhalten wären? | |
## Der Grund ist: das Artensterben | |
Es geht dabei, wenn man Grünen-Fraktionschef Anton Hofreiter folgt, nicht | |
nur um den Erhalt eines Kulturguts, es geht um die Zukunft. Einen | |
zwingenden Grund, an den botanischen Gärten festzuhalten, sieht er darin, | |
dass sie helfen können, Erkenntnisse über das sogenannte Artensterben zu | |
gewinnen. | |
„Die Reduzierung der ‚organismischen Biologie‘ ist deswegen zu bedauern, | |
weil vor allem das derzeitige Artensterben noch völlig ungenügend erforscht | |
ist“, sagt er. Es ist eine Biologie, die übergreifende Zusammenhänge | |
erforscht und auch den Einfluss des Menschen einbezieht. „Inzwischen sind | |
über 30 Prozent der Arten gefährdet, sie stehen auf der ‚Roten Liste‘, man | |
spricht bereits vom ‚Sechsten Massensterben‘.“ Alle fünf Massensterben v… | |
Arten davor waren Naturerscheinungen – der Asteroid, der die Dinosaurier | |
aus der Evolution ausradierte, zum Beispiel. Doch jetzt, sagt Hofreiter, | |
führten menschliche Einflüsse dazu, dass immer mehr Arten akut bedroht | |
seien. | |
Südamerikanische Frösche sterben massenhaft in den Regenwäldern wegen eines | |
importierten heimtückischen Pilzes namens Chytrid. | |
Korallenriffe, jene Oasen des Lebens im Ozean, sterben nach Millionen von | |
Jahren Wachstum an der Erwärmung und Übersäuerung des Meeres. | |
„Ohne die organismische Biologie wird die Menschheit nicht einmal eine | |
Diagnose der Situation in der Hand haben. Zur Biologie gehört das | |
Kennenlernen der Vielfalt.“ Und die, sagt er, würde in den botanischen | |
Gärten gezeigt, und die Studierenden würden darin geschult. | |
## Kein Rummelplatz | |
Maximilian Weigend läuft durch die Pflanzengeografie seines botanischen | |
Gartens. Er ist einer von Hofreiters Studienfreunden aus der Universität | |
Regensburg. Heute ist er Direktor der Botanischen Gärten in Bonn. | |
Er geht von den Sumpfbäumen aus den Südstaaten bis zu den südostasiatischen | |
Bäumen mit riesigen lila Blüten. | |
„Ein botanischer Garten ist kein Rummelplatz“, sagt der energische Bayer | |
Weigend. Die Events, die in vielen Gärten stattfinden, betrachtet er als | |
Verlustgeschäfte, weil sie so viel Kapital und Fachkräfte unentgeltlich | |
binden und weil sie seiner Meinung nach eher Verschleiß als Gewinn für den | |
Garten bringen. | |
Aber was dann? Maximilian Weigend sagt, die Zukunft der Gärten sei in | |
diesem Zeitalter des Artensterbens so wichtig, dass man sich ernsthaft | |
Gedanken über alternative Finanzierungen machen sollte. Die Bonner | |
Botanischen Gärten sehe er bei der Universität der Stadt gut aufgehoben, | |
sagt er. Dennoch, man müsse nachdenken darüber, ob es andere, geeignetere | |
Träger gibt als die Universität, die sich zur Industrie und nach | |
Drittmitteln streckt. | |
Als Präsident des Verbands Botanischer Gärten befürwortet er die gänzliche | |
oder teilweise Kommunalisierung der Gärten. Auch Stiftungen als Träger kann | |
er sich vorstellen. Nur nichts tun – das gehe nicht, sagt er mit Blick auf | |
die Schließung des Saarbrücker Gartens im April. | |
In Saarbrücken habe es schon vor vielen Jahren die ersten Warnzeichen | |
gegeben. „Viele Pflanzen wandern aus ihrem angestammten Gebiet, wenn das | |
Klima sich wandelt.“ So wie sich die Pflanzen dann eine neue Nische suchen, | |
so müssten auch die Gärten aufbrechen. Eine Hauptaufgabe in den nächsten | |
Jahren werde etwa die ökologische Bildung sein. | |
Weigend gehört, wie Hofreiter, einer jungen Generation von Botanikern an, | |
die als Entdecker unerforschter Gebiete zu verstehen sind. Entdecker, das | |
sind heute nicht mehr Leute auf der Suche nach der Nilquelle. Sondern auf | |
der Suche nach den evolutionären Folgen des menschlichen Einflusses in der | |
Welt; nach den Auswirkungen des Anthropozäns. Sie erforschen etwa die sich | |
entwickelnde Mobilität von Pflanzen, die sich ein neues Klima suchen | |
müssen; die Biodiversität. Botaniker sind heute so unentbehrlich für die | |
Klimawissenschaftler wie einst Anatomiker für die Ärzte der Renaissance. | |
Anton Hofreiter sagt: „Wir brauchen eine Offensive für die | |
Diversitätsforschung und dazu Lobbyarbeit. Dafür müssen neben den Gärtnern | |
und den interessierten Bürgern auch die Wissenschaftler gewonnen werden. | |
Die vorhandenen Gelder dürfen nicht nur für die Genetik und die | |
Molekularbiologie verwendet werden.“ | |
## Die Ekstase des Ablaichens und der Horror | |
Maximilian Weigend schimpft, während er durch den Botanischen Garten läuft, | |
zwischendurch auf die Hörigkeit gegenüber „Big Data“ bei der Vermessung d… | |
Welt des Klimawandels. Big-Data-Apologeten „denken, dass grottenschlechte | |
Daten über Pflanzen aussagekräftig werden, wenn man sie nur massenweise | |
erhebt“. | |
Das sei aber nicht so, sagt er, und da sind wir wieder bei den Anfängen der | |
botanischen Gärten, in Padua, im 16. Jahrhundert. Bei der intensiven | |
Beschäftigung mit dem Leben. Und bei der Sorge, dass diese kleine Ewigkeit | |
enden könnte. | |
Wer einmal eine tropische Nacht auf einem Korallenriff erlebt hat, in der | |
Zeit des Massenablaichens, das in nur einer orgiastischen Nacht des Jahres, | |
zu Beginn des Sommers, stattfindet, der hat die Ekstase und den Horror | |
gleichzeitig erlebt: die Ekstase über ein natürliches und immer | |
wiederkehrendes Wunder, wenn rosafarbene Eier plötzlich millionenfach durch | |
das Wasser nach oben pulsieren. Und den Horror über den drohenden Verlust | |
dieser Unterwasser-Oasen, die Millionen Organismen im kargen tropischen | |
Gewässer am Leben erhalten. | |
Wie die Korallenriffe spielen die botanischen Gärten eine helfende und | |
revitalisierende Rolle, jetzt, da unsere Welt an Arten immer ärmer wird. | |
Es sind beide Wunder vom Zerfall bedroht. | |
2 Jun 2016 | |
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