# taz.de -- Lebende Pflanzen: Aber natürlich! | |
> Botanische Gärten sind aufwendig – und Genforschung ist der Industrie | |
> wichtiger. Brauchen wir die Gärten also noch? Unsere Autoren sagen: ja! | |
Bild: Die selten zu bestaunende Blüte eines Titanwurz am 26. Mai im Botanische… | |
Für den Naturforscher Albrecht von Haller war die Botanik der Königsweg zur | |
Erkenntnis: „Sie erhebt ihr Haupt über alle Wissenschaften empor. Die | |
Kenner der Thiere und Erze haben bey ihr, wie die Römer beim Aeropagus, | |
ihre Gesetze geholet und sich denselben unterworfen“. Auch der Botanische | |
Garten war wesentlich an dem beteiligt, was Max Weber dann die | |
„Entzauberung der Welt“ durch die Wissenschaft nannte. | |
Und heute? Genforschung ist der Industrie – und den Universitäten – | |
wichtiger als eine Biologie, die Organismen in ihren Beziehungen | |
untereinander betrachtet. | |
Diese Entwicklung, die die Botanischen Gärten gefährdet, thematisieren wir | |
in der [1][taz.am wochenende vom 28./29. Mai.] Denn sie und die sogenannte | |
Old-School-Biologie werden noch gebraucht. Wir haben bekannte Botaniker wie | |
Maximilian Weigend getroffen, Salsa-Nächte im Berliner Botanischen Garten | |
besucht und uns mit dem Verhältnis der Wissenschaft zum Garten beschäftigt. | |
Der Grünen-Politiker Anton Hofreiter, selbst Botaniker, sagt: „Ein | |
Botanischer Garten muss eine Arche Noah für den Erhalt der Artenvielfalt | |
sein!“ | |
## Eine Einführung ins Thema | |
Beim Sammeln, Klassifizieren und Benamen, dann auch Züchten und Kreuzen | |
setzte sich in der Pflanzenforschung das „Systema Naturae“ von Carl von | |
Linné durch. Es ist eine Art „Ständeordnung“, in der die Moose die Ärmst… | |
bilden, die Gräser die Bauern, die Kräuter den Adel und die Bäume die | |
Fürsten. | |
Auf meine Frage, ob Linnés „System“ noch gültig sei, antwortete der | |
Botaniker am Botanischen Garten, Dr. Zepernick: | |
„Ja und Nein. Linné hat ein sogenanntes Sexualsystem verwendet, das heißt, | |
er hat die Gestalt der Blüten zur Klassifizierung benutzt. Er hat bereits | |
gewusst, dass das ein künstliches System ist. Linné ging davon aus, dass | |
alle Lebewesen unveränderlich sind, das heißt, es gibt so viele Arten wie | |
Gott geschaffen hat. Inzwischen wissen wir, dass das nicht so ist, dass die | |
Lebewesen veränderlich sind, dass es eine Evolution gibt. (…) | |
Das Linnésche System ist also insofern künstlich, als damit etwas in | |
Schachteln gepackt wird – nach, ich möchte mal sagen, zufälligen Merkmalen. | |
Die zwar gut sichtbar sind, sofern die Pflanzen gerade blühen, die aber | |
keine natürlichen Verwandtschaften darstellen, und das wollen wir heute | |
haben. | |
Das hat auch schon bald nach Linné angefangen. Zum Beispiel hat Adalbert | |
von Chamisso, der hier von 1819 bis 1839 Pflanzenaufseher war, für die | |
Berliner Schulen ein Buch über die nützlichen und schädlichen Gewächse | |
herausgegeben. Chamisso hat darin bereits davon gesprochen, dass er die | |
natürlichen Verwandtschaftsverhältnisse der Pflanzen verwenden möchte, die | |
aber seien noch kaum bekannt, deswegen verwende er das Linnésche System, | |
aber an den Stellen, wo er weiß, wie die Pflanzen zusammenhängen, da nehme | |
er die natü¼rliche Verwandtschaftsordnung. | |
Inzwischen ist das immer weiter erforscht worden. Man arbeitet da zum | |
Beispiel mit dem Raster-Elektronen-Mikroskop, mit dem sich neue Merkmale im | |
Bereich der Oberflächenstruktur erschließen lassen. Es werden also immer | |
mehr Gestalt-Merkmale hinzugenommen – das geht bis in die Zellen und die | |
Anzahl der Chromosomen hinein.“ | |
## Der neue Geist der „Life Sciences“ | |
Diese „organismische Biologie“ bekommt es in der „Ökologie“ mit gerade… | |
einer Unzahl von grob bis subtil wechselwirkenden Arten und Ausdrucksformen | |
zu tun. | |
In der Genetik und Molekularbiologie dagegen gerade nicht um immer mehr | |
„Gestalt-Merkmale“, sondern um immer weniger. Zuletzt löst sich diese | |
Biologie vollends in Chemie und Physik auf. | |
Neulich fuhr ich von Würzburg nach Berlin mit einer angehenden Biologin. | |
Als ich ihr unterwegs von einem Baum im Botanischen Garten erzählte, | |
unterbrach sie mich und meinte: „Ich interessiere mich nicht für Lebewesen, | |
ich erforsche ein Enzym, und wenn ich meine Doktorarbeit fertig habe, dann | |
arbeite ich für den Rest meines Lebens an zwei Enzymen.“ | |
Diese Laborbiologin braucht im Gegensatz zu den Feldbiologen keinen | |
Botanischen Garten. Sie verkörpert den neuen Geist in den „Life Sciences“. | |
Der bereits erfolgreiche Berater von Biotech-Unternehmen, William Bains, | |
äußerte dazu in der Zeitschrift „Nature Biotechnology“: | |
„Die meisten Anstrengungen in der Forschung und in der biotechnologischen | |
industriellen Entwicklung basieren auf der Idee, dass Gene die Grundlage | |
des Lebens sind, dass die Doppelhelix die Ikone unseres Wissens ist und ein | |
Gewinn für unser Zeitalter. | |
(…) Inzwischen führen die Genom-Datenbanken, die geklonten Proteine und | |
anderes Zubehör der funktionalen Genetik zu Werkzeugen, Produkten, | |
Einsichten, Karrieren und Optionen an der Börse für uns alle.“ | |
Eine Botanikerkarriere | |
Die organismischen Erkenntnisse der Old-School-Biologen sind dagegen für | |
die Börse ganz uninteressant. Deswegen werden die Botanischen Gärten auch | |
zunehmend für die Universitäten, die sie finanzieren müssen, zu einer | |
Belastung. | |
Dabei passiert jedoch Folgendes: „Wir verlieren unseren Sinn für das | |
Wesentliche“, wie der emeritierte Botanikprofessor D. zu Anjana Shrivastava | |
meinte, als er darauf zu sprechen kam, wie prekär die Lage der Botanischen | |
Gärten ist. Sie berichtet: | |
„Er kam wie fast alle Botaniker schon in jungen Jahren zu seinem Beruf, bis | |
heute geht er mit einem großen Rucksack durch die Stadt, genauso wie in der | |
Nachkriegszeit, als er jede Woche nach der Schule aus Tempelhof in den | |
Botanischen Garten lief. Der Vater eines Schulfreundes machte dort | |
Pflanzenführungen, und er hat nie eine verpasst. Als Schüler war er dabei, | |
als der große Mammutbaum aus China in die Erde gepflanzt wurde. | |
Am Besten gefielen ihm die Ausflüge mit dem Botaniker ins Umland, das | |
damals noch überall militärisch besetzt und deswegen nicht ohne Erwachsene | |
ausgekundschaftet werden konnte. Trotz der physischen und moralischen | |
Trümmer in der Stadt, die großen Eichen und die kleinen Adonisröschen | |
wuchsen ordentlich weiter, nach eigenen Gesetzen und ihre Blätter waren | |
schön zu studieren. | |
So sagte er sich an einem Sommertag: ‚Das kann ich!‘ und wählte dann einen | |
Beruf, in dem die besten Stunden seiner Kindheit sich fortsetzten, wie ein | |
Schatten an einem langen Sommertag, der immer länger wird.“ | |
Als die historische Gewächshausanlage der ehemaligen Königlichen | |
Gartenakademie in Berlin im November 2007 privatisiert wurde, wurde | |
Botanikprofessor D.s Lebenswerk zerstört. „Über die nächsten vier Monate | |
versuchte der Professor, wenigstens einen Teil seiner wissenschaftlich | |
bedeutsamen Sammlung von 23.000 südafrikanischen Pflanzen zu retten. Er | |
ging beinahe mit seinen Pflanzen unter, von denen heute nur noch Reste wie | |
die kleine Rosaorchidee mit der winzigen Zwiebelgirlande übrig sind“ (die | |
er der Interviewerin schenkte). | |
Der derzeitige Arbeitskampf | |
Die Mitarbeiter des Botanischen Gartens in Berlin wehren sich gegen das | |
erklärte Ziel des Akademischen Senats der Freien Universität, sich von | |
„sozialen Verpflichtungen“ zu befreien. | |
Eine von Günter Wallraff initiierte Gruppe namens „Work Watch“, die mit der | |
Gewerkschaft „verdi“ zusammenarbeitet, schrieb im Oktober 2015: „Die | |
drastischen Kürzungen der Landesmittel werden seit Jahren seitens der | |
Freien Universität ohne Rücksicht auf Verluste an den Botanischen Garten | |
weiter gegeben (…). 18 offene Stellen sorgen dafür, dass den Gärtnerinnen | |
und Gärtnern die Arbeit buchstäblich über den Kopf wächst. Der Garten | |
verunkrautet und Besucher beschweren sich! Beschäftigte der | |
Betriebsgesellschaft, eine 100prozentige Tochter der FU, verdienen bis zu | |
72 Prozent weniger als ihre Kollegen, die bei der FU angestellt sind, für | |
ein und dieselbe Arbeit!“ | |
Die FU hat für diesen Schritt eine Unternehmensberatung beauftragt: „Das | |
hat die Stimmung im Betrieb sehr gestört“, teilte der ehemalige | |
Betriebsleiter Volker Jakob Ende 2015 der taz mit. Kürzlich, am 8. Mai, | |
fand ein mehrtägiger Warnstreik der im Botanischen Garten Beschäftigten | |
statt. Es wurden Protestflugblätter für die Reinigungskraft des Gartens | |
Carolin Zoellner verteilt, die per Mail freigestellt wurde: „Ich soll zu | |
Hause bleiben, bei vollen Bezügen.“ | |
Die Titelgeschichte über Botanische Gärten, „Panik in der Botanik“, lesen | |
sie in der [2][taz.am wochenende vom 28./29. Mai 2016]. | |
27 May 2016 | |
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## AUTOREN | |
Helmut Höge | |
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