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# taz.de -- Debatte Boko Haram in Nigeria: Nur Chibok zählt
> Tausende Menschen werden aus den Händen der Terrormiliz befreit. Das
> interessiert nur wenige. Im Fokus steht eine bestimmte Gruppe.
Bild: Amina Ali Nkeki während ihres Besuchs beim Präsidenten
Es waren herzzerreißende Bilder. Nigerias Präsident Muhammadu Buhari beugt
sich über die kleine Safiya und lächelt das Mädchen vorsichtig an, nimmt es
schließlich sogar auf den Arm. Daneben steht ihre Mutter, die 19-jährige
Amina Ali Nkeki. Ihr Blick ist leer und wandert häufig zu Boden. Sie wirkt
wie eine Betrachterin, die mit der Szene nichts zu tun hat. Vermutlich wäre
die junge Frau nie in die „Villa“, so heißt der Präsidentensitz, gekommen
und hätte auch nie Präsident Buhari getroffen, wenn sie nicht zu den 276
Mädchen gehören würde, die in der Nacht zum 15. April 2014 aus der
staatlichen Schule von Chibok von der Terrormiliz Boko Haram entführt
wurden. Und vielleicht auch nicht, wenn Amina nicht das erste
Entführungsopfer gewesen wäre, das nach zwei Jahren Geiselhaft frei
gekommen ist.
Damit ist die junge Frau zum Symbol der Hoffnung und als eine, die überlebt
hat, zur Heldin geworden. Dass sie im Sambisa-Wald von einem Mitglied der
Bürgerwehr gefunden wurde, bedeutet: Die Mädchen von Chibok leben noch und
sind wohl nicht, wie mitunter angenommen, in die Nachbarländer verschleppt
und verkauft worden. Es zeigt auch, dass die Aktivisten der Bewegung
[1][#BringBackOurGirls] recht hatten. Ihr täglicher Protest, um die Mädchen
nicht zu vergessen, ist nicht vergebens.
Gleichzeitig verstärken die Bilder und das Interesse an Amina das Gefühl
der Zwei-Klassen-Gesellschaft in Nigeria, die selbst bei den Opfern der
mörderischen Terrorgruppe gilt. Denn seit gut einem Jahr sind bereits
mehrere tausend Mädchen, Jungen und Frauen aus den Händen der Terrorgruppe
befreit worden.
Bis heute gelingt es der Armee nach eigenen Angaben regelmäßig, Verstecke
der Mitglieder zu finden. Zahlreichen Geiseln schaffen selbst die Flucht,
denn längst nicht alle werden rund um die Uhr scharf bewacht. In den Camps
für Binnenflüchtlinge berichten sie, wie viele Wochen sie umhergeirrt sind,
wie sie um Nahrung betteln mussten, manchmal nur noch Unterwäsche trugen.
Viele wissen nicht, wo ihre Kinder sind, ob sie überhaupt noch leben oder
ob die Männer brutal erschossen wurden. Doch keines dieser Opfer ist in die
Villa eingeladen worden. Buhari muss sich mit einem Chibok-Mädchen
präsentieren.
## Schlechte Versorgung in staatlichen Camps
Doch es kommt noch schlimmer: Allein im Bundesstaat Borno, eine
nordöstliche Terrorhochburg, sind im vergangenen Jahr laut der staatlichen
Nothilfeagentur Nema 450 Kleinkinder aufgrund von schlechter Versorgung
gestorben – in staatlichen Flüchtlingscamps! Öffentliche Schulen haben
geflohenen Kindern und Jugendlichen häufig den Schulbesuch mit der
Begründung verweigert, dass Zeugnisse fehlen würden. Private Helfer
beklagen zudem, stark von Spenden aus dem Ausland abhängig zu sein. Von den
noch immer 2,4 Millionen Binnenflüchtlingen rechnet niemand mit einer
finanziellen Unterstützung bei Rückkehr und Wiederaufbau. Doch über all das
wird kaum gesprochen. Was zählt, ist Chibok.
Das zeigt auch die Befreiung eines zweiten Mädchens. Noch am Abend, an dem
Amina von Buhari empfangen worden war, verkündete die Armee ziemlich
überraschend, mit Serah Luka eine weitere Schülerin aus dem sehr entlegenen
Ort befreit zu haben. Dabei hatte es zuvor geheißen, zumindest ein Teil der
Mädchen sei noch zusammen. Merkwürdig, dass ausgerechnet eine Chibok-Geisel
unter den Befreiten war. Es könnte ein strategisches Spiel der Armee
gewesen sein. Amina wurde offenbar von einem Bürgerwehr-Mitglied aus ihrem
Dorf wiedererkannt und nicht von Soldaten befreit.
24 Stunden später zeigte sich, dass Serah Luka zwar in Chibok zur Schule
gegangen war, aber nicht zu jenen Schülerinnen gehörte, die gerade ihre
Abschlussprüfungen schrieben. „Wir freuen uns genauso über die Rückkehr
dieses Mädchens“, verkündete eine Aktivistin gegenüber dem Sender CNN zwar
anschließend. Begeisterung klingt anders.
In der Tat sind die jungen Frauen ein Gradmesser für die Regierung. Im
Kampf gegen Boko Haram wird sie immer daran gemessen werden, ob die
Chibok-Mädchen endlich gefunden und befreit sind. Deshalb klingen auch die
bereits im Dezember geäußerten Beteuerungen, der Kampf sei „technisch
gewonnen“, wenig enthusiastisch. Selbst wenn die Miliz auf dem Rückzug ist
und das Militär tatsächlich Tausende Menschen befreit hat, wird sich immer
wieder die Frage nach Chibok stellen.
## Versagen des Staates
Allerdings ist der Fall aber auch deshalb speziell, weil die Schülerinnen
nicht zu Hause bei ihren Eltern, auf den Feldern oder dem lokalen Markt
waren, sondern in staatlicher Obhut. Sie mussten ihre Abschlussprüfungen –
Schlüssel für die Zukunft – schreiben, obwohl in den Wochen zuvor häufig
über die Sicherheitslage diskutiert worden war. Mehr als alle anderen
Anschläge zeigt Chibok somit auch das Desinteresse und Versagen des
Staates, was sich nach dem 14. April 2014 noch fortsetzte. Es dauerte
knappe drei Wochen, bis sich der damalige Präsident Goodluck Jonathan
überhaupt erst zu der Entführung äußerte.
Amina könnte dem Militär nun hilfreiche Informationen aus erster Hand
liefern, so hofft man. Ihren Informationen zufolge sind 6 der 219 Mädchen
gestorben. Trotz der Hoffnung dürfte das bei vielen Eltern wiederum für
Angst und Ungewissheit sorgen. Sie soll auch gesagt haben, der Sambisa-Wald
und vor allem die übrigen Mädchen seien weiterhin stark bewacht.
Regierungskritiker interpretieren es so, dass ein multinationaler
Befreiungseinsatz unumgänglich ist. Tatsächlich ist weiterhin nur wenig
bekannt und Augenzeugin Amina schwer traumatisiert. Doch anstatt zur Ruhe
zu kommen, musste sie gemeinsam mit dem Präsidenten vor Fernsehkameras.
Für Serah Luka dürfte es unterdessen sehr gut sein, kein echtes
Chibok-Mädchen zu sein. Schon zwei Tage nach ihrer Befreiung hatte niemand
mehr Interesse an ihr. Sie wird nicht so vorgeführt wie Amina und die
kleine Safiya und hat hoffentlich bessere Chancen, die Grausamkeiten
irgendwann einmal aufarbeiten zu können.
12 Jun 2016
## LINKS
[1] https://twitter.com/search?q=%23BringBackOurGirls&src=tyah
## AUTOREN
Katrin Gänsler
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Boko Haram
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