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# taz.de -- Kolumne Damals bei uns daheim, Teil 13: Stiefelternsprechtag
> Ich hatte rumgekaspert. Und das Fräulein hatte es verraten. Und wegen mir
> würden nun alle vor die Hunde gehen.
Bild: Beim Turnen bei Herrn Gontermann stürzte ich mich mit dem Kopf voran von…
Nächsten Mittwoch ist Stiefelternsprechtag“, eröffnete mir Stiefmutter am
Wochenende. „Da werde ich dann mal ein paar Wörtchen mit Fräulein
Schöllerings wechseln. Und wehe, da kommt dasselbe raus wie letztes Jahr:
dass du wieder nur rumgekaspert und nicht aufgepasst hast. Dann gnade dir
Gott!“
Sofort sackte mein kleines Herz tief in den Keller. Der
Stiefelternsprechtag im Stiefkindergarten fand jedes halbe Jahr statt. Es
war der mit Abstand angstbesetzteste Termin in meinem noch so jungen Leben.
Zahnarzt spielte noch keine Rolle – die Milchzähne faulten einfach
schmerzfrei weg. Beim Turnen bei Herrn Gontermann verschaffte mir längst
ein Trick Erleichterung: Stürzte ich mich mit dem Kopf voran von der
Sprossenwand, merkte ich nicht mehr viel vom Rest der Stunde. Ähnliches
galt für den Wanderurlaub in Österreich, nur dass hier ein steiler Berg die
Sprossenwand ersetzte.
Doch der Stiefelternsprechtag war das Grauen. Je näher der Mittwoch rückte,
desto mehr glich ich nur noch einem vor furchtbarer Vorahnung wimmernden
Bündel. Am Mittwochabend starrte ich schließlich schicksalergeben aus dem
Fenster in die drohende Dunkelheit hinaus, aus der Stiefmutter jeden Moment
auftauchen konnte.
## Rachegöttin
Dann, klapp, flog die Tür auf und sie stand einer Rachegöttin gleich im
Raum. Die Zwohundertwattbirne in der Küche schien ihr Haupt in einen
Feuerkranz zu tauchen. Sie schrie und raste wie ein Hexe auf dem
Scheiterhaufen. Dann schlug sie zu.
Sie schlug mit beiden Händen, mit einem Teelöffel, einer Axt und
schließlich einer Abrissbirne. Dem wachsamen Blick meiner Stiefeltern
räumlich entronnen, hatte ich nichtsnutziger Wicht wohl geglaubt, ich könne
machen, was ich wolle.
Also hatte ich rumgekaspert. Das Fräulein hatte es verraten. Dazu standen
meine Noten auf der Kippe. Im Basteln, wo ich aus Knete statt dem
Sportpalast bloß einen Hundehaufen hinbekam. Im Singen, wo mir nur ein
klägliches Fiepen entwich. Im Marschieren, wo ich an der „früschen Luft“
stets aus der ordentlichen Zweierreihe fiel.
Wenn ich so weitermachte, setzte ich die bevorstehende Einschulung aufs
Spiel. Ich käme ins Stiefkinderheim, einer Einrichtung, die gemeinsam von
der Kirche, unorganisierten Päderasten und denjenigen Alt-Nazis, denen es
in Südamerika zu warm war, betrieben wurde.
## Vogelfreie
Wenn unsere Nachbarn, Verwandten und Stiefvaters Arbeitskollegen im
Rassenamt, wie die Ausländerbehörde noch bis in die späten 70er hinein
genannt wurde, davon Wind bekämen, wäre unsere Familienehre
unwiederbringlich befleckt.
Stiefvater würde entlassen und unser Mietverhältnis automatisch enden. Der
VW Volkssturm, der Pellkartoffelvorrat im Keller und all unsere Habe fiele
an den Staat. Wir müssten die Stadt verlassen, uns von Würmern und Gras
ernähren, jeder dürfte uns aus einer bloßen Laune heraus auslöschen, wie
einen Kommunisten oder Radfahrer, einfach so, wir wären vogelfrei. Und das
alles nur, weil ich im Stiefkindergarten rumgekaspert hatte.
29 Mar 2016
## AUTOREN
Uli Hannemann
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