# taz.de -- taz-Serie „Damals bei uns daheim“: Die stille Zeit | |
> Weihnachten war in unserem Stiefzuhause eine Fortsetzung des zweiten | |
> Weltkriegs – mit den Waffen der schwarzen Pädagogik. | |
Bild: Um fünfzehn Uhr ging es zur Christmesse in die Kirche | |
Sie nannten es „die stille Zeit“: Stiefmutter schrie uns nur noch mit | |
sieben Achteln der üblichen Lautstärke an. Auch die tägliche Tracht Prügel | |
von Stiefvater wirkte, wenngleich nicht in der Wucht, so doch in ihrer | |
Intention irgendwie sanftmütiger als sonst, geradezu melancholisch. | |
Einem unbeteiligten Beobachter wäre wohl das Bild eines Bauern in den Sinn | |
gekommen, der gewissenhaft und gottesfürchtig das Korn drischt. | |
Nur leider waren wir Stiefkinder nicht unbeteiligt. Und so schwebte uns | |
nichts anderes vor, als der Wunsch, dass die unbeschreibliche Gewaltorgie | |
endlich enden möge, damit wir unsere Platzwunden stillen konnten. Sonst | |
hätte es die nächste Tracht von Stiefmutter gegeben, weil wir den Teppich | |
mit Blut „vollferkelten“. | |
Im Grunde war Weihnachten in unserem Stiefzuhause eine Fortsetzung des | |
zweiten Weltkriegs, nur anstelle von Panzern und Bomben mit den Waffen der | |
schwarzen Pädagogik. Die man damals nicht so nannte – dazu hätte es | |
schließlich erst mal eine weiße geben müssen. Man erzog halt die | |
Stiefkinder und wenn eines dabei starb, machte man ein neues. Es war nicht | |
so wie heute, da Kinder nach dem Raubmord an einer Rentnerin obendrein noch | |
beschenkt und belobigt werden. | |
## Singen, Beten, Maulhalten | |
Um fünfzehn Uhr ging es zur Christmesse in die Kirche. Die war eiskalt – | |
wir waren schließlich evangelisch. Der Pfarrer schrie von der Kanzel, bis | |
ihm Schaum vor dem Mund stand. Dazwischen Singen, Beten, Maulhalten – die | |
Tortur dauerte an die drei Stunden. | |
Wieder daheim warteten wir in der Stiefkinderzelle, bis uns das Heulen der | |
Weihnachtssirene ins Wohnzimmer rief. Dort brannte der Baum bereits | |
lichterloh. Wir stellten uns der Größe nach auf. Dann musizierten meine | |
Stiefbrüder Ulrich-Peter, Ulrich-Mühe und Horst-Ulrich sowie meine | |
Stiefschwestern Marionette, Raute und Hirntrud auf Arschgeige, Backpfeife | |
und Maulschelle. Mir als Jüngstem war kein Musikinstrument zugeteilt. | |
Stattdessen musste ich ein hundertseitiges Gedicht auf Altaramäisch | |
vortragen. | |
Wer sich versprach oder verspielte, den erwartete zur Strafe die | |
Bescherung. Jemand hämmerte draußen mit beiden Fäusten gegen die | |
Wohnungstür, Stiefvater öffnete und ein Gigant mit schwarzer Henkerskapuze | |
stürmte herein. „Nun bekommt ihr eure Geschenke“, drohte der Weihnachtsmann | |
mit Stiefgroßonkel Molfsees Stimme. | |
Wir duckten uns furchtsam, da wir schon wussten, was nun kam: Er griff in | |
den Sack, holte eine Stahlrute hervor und ließ sie auf unseren kleinen | |
Leibern tanzen wie einen Derwisch. „Wunschzettel, Arschlecken, hier habt | |
ihr euren Denkzettel, ihr vermaledeiten Stiefkröten“, dröhnte der Heilige | |
und alle lachten. | |
Bevor wir mit unseren neuen Striemen spielen durften, gab es noch das | |
Weihnachtsessen: Wasser und Brot für uns Stiefkinder, während sich die | |
Stieferwachsenen an einem Hasen delektierten. Stiefvater hatte den halb | |
verhungerten und erfrorenen Nager mit seinem VW Volkssturm von der | |
Landstraße gefegt, obwohl er sich längst ergeben hatte. Dazu gab es | |
Pellkartoffeln. | |
27 Dec 2016 | |
## AUTOREN | |
Uli Hannemann | |
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