# taz.de -- Kolumne Damals bei uns daheim: „Ich bin durch“ | |
> Telefonieren war früher Schwerstarbeit. Hatte man wen erreicht, mussten | |
> alle was in den Hörer sagen. Nicht eine Sekunde durfte verlorengehen. | |
Bild: Telefoniert wurde nur am Sonntagabend, da war das Telefonieren noch billi… | |
Vor der Anschaffung eines Fernsehgeräts bildete der Telefonapparat das | |
logistische und spirituelle Zentrum unseres Stiefzuhauses. | |
Waschmaschinenschwer thronte das eiterfarbene Ungetüm auf einem | |
altarähnlichen Schrein im Flur. | |
Das Wählen dauerte länger als die Ziehung der Lottozahlen – und wie ein | |
Lottogewinn war es auch, traf man die gewünschte Nummer, denn meist blieb | |
die Wählscheibe auf ihrem langen Weg zurück zur Ausgangsposition mit | |
schürbelndem Geräusch irgendwo hängen. Dann konnte man wieder von vorn | |
anfangen. | |
Egal, ob man anrief oder angerufen wurde, so galt immer die ungeschriebene | |
Regel: Der Mann geht ans Telefon. Denn das Telefon war Technik, und Technik | |
war Männersache. | |
Außerdem konnte man ja nie mögliche Gefahren ausschließen – im Grunde | |
konnte alles jederzeit explodieren. „Ich bin durch“, verkündete Stiefvater | |
stolz, sobald er das Freizeichen vernahm. Er war schweißüberströmt. „Jetzt | |
geht jemand ran“, zischte er schließlich, und alle jubelten. | |
Holzleitungen | |
Wir schrien derart laut in den Hörer, dass es stattdessen auch gereicht | |
hätte, einfach das Fenster aufzureißen. | |
Vermutlich wäre so die Tonqualität sogar besser gewesen, denn durch die | |
Holzleitungen drang vom Geschrei am anderen Ende nur ein hohles Blubbern | |
wie von einem Ertrinkenden ans Ohr, selbst wenn der Gesprächspartner zwei | |
Häuser weiter wohnte – rein hypothetisch natürlich, denn unter zehn | |
Kilometern Entfernung ging man zu den Leuten hin und sprach mit ihnen. Denn | |
Sparen galt als die höchste Tugend, noch vor Keuschheit, Fleiß und | |
Antikommunismus. | |
Daher mussten alle reihum in den Hörer sprechen, bis die zehn guten | |
Pfennige, die ein Ortsgespräch nach achtzehn Uhr immerhin kostete, | |
abtelefoniert waren – egal ob mit guten Bekannten oder völlig Fremden. Das | |
war nicht anders als mit dem wöchentlichen Badewasser, es durfte ja nichts | |
verschwendet werden. | |
Leider gab es noch nicht viele Gesprächsthemen. Deutsch war ja immer die | |
Sprache der Forschung, des Geistes und der Mordkunst gewesen. Kommunikation | |
im Sinne von eitlem Geschwätz musste man erst widerwillig von den Besatzern | |
lernen, wollte man in der neu geordneten Welt nicht gleich wieder den | |
Anschluss verlieren. | |
Telefoniert wurde, außer in Notfällen wie Sturmflut oder Reichstagsbrand, | |
nur am Sonntagabend, da war das Telefonieren noch billiger. Allein die | |
Reichen hielten sich nicht daran. Man wusste ja, dass sie eigene | |
Arschpickelausdrücker und Leibnasenhaarbrenner beschäftigten. Doch als | |
obszönster Ausdruck ihrer Macht galt, dass sie ohne Ansehen der Tageszeit, | |
sooft und solange sie wollten, telefonierten. | |
Fräulein von Amt | |
Bei Auslandsgesprächen half ein Fräulein vom Amt. Aber wir riefen ohnehin | |
nie im Ausland an. Erstens kannten wir da keinen, zweitens war es zu teuer, | |
und drittens meldeten die Ausländer sich ja auch nicht bei uns. | |
Wahrscheinlich waren „die Tröpfe noch immer wegen des Kriegs beleidigt“, | |
wie Stiefvater erklärte. Aber wir hätten sie sowieso nur verstanden, wenn | |
sie Latein oder Altgriechisch gesprochen hätten, die einzigen | |
Fremdsprachen, die meine Stiefeltern in der Schule gelernt hatten. | |
4 Nov 2016 | |
## AUTOREN | |
Uli Hannemann | |
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