# taz.de -- taz-Serie Damals bei uns daheim: Das Fest | |
> Wenn die gesamte Stief-Verwandtschaft zusammenkam, gab es Himbeerschnaps | |
> aus der Flasche und Sterbemusik aus dem Radio. Denn es wurde gefeiert. | |
Bild: Familienfeiern waren wie Reichsparteitage, nur mit weniger und umso böse… | |
Gern erinnere ich mich an unsere Stieffamilienfeiern. Anlass war meist | |
irgendwas mit Gott oder Deutschland. Für einen Tag wurden wir Stiefkinder | |
aus Gummistiefeln und Lederhosen herausgelöst und in echte Schuhe sowie | |
winzigkleine Cordhosen und Kleidchen hineingetan. Wir genossen diese | |
seltenen Momente, da man uns wenigstens wie Menschen anzog, wenn schon | |
nicht so behandelte. | |
Die gesamte Stiefverwandtschaft war zu Gast. Es war wie ein | |
Reichsparteitag, nur mit weniger, dafür umso böseren Menschen. Die | |
Stiefgroßeltern. Stiefgroßonkel Molfsee. Stiefonkel und Stieftante | |
Kackwurst. Meine Stiefvettern Horst, Heinz und Hans, die Stiefbasen Edith | |
und Erika und über alle wachte grinsend Stieftante Gisela, deren Skelett | |
man eigens für diesen Tag vom Dachboden geholt und auf Hochglanz gewienert | |
hatte. | |
Daneben ramenterten ein paar – da sie wie verwest und schon mal ausgegraben | |
aussahen, rochen und sich leider auch noch so benahmen – wohl ebenfalls | |
längst tote Stiefverwandte mit Pickelhauben durch den Raum, soffen | |
Himbeerstiesel aus der Flasche und weigerten sich, ordentlich mit Besteck | |
zu essen. Damals nannten wir sie „Stiefurgroßeltern“, doch schon bald | |
sollte sich, beeinflusst durch Film und Popkultur, zunehmend der Begriff | |
„Zombie“ durchsetzen. | |
## „Der gute Strom“ | |
Zur Erbauung lief ausnahmsweise der Radioapparat. Im Stiefdeutschen | |
Rundfunk kam entweder Sterbemusik von Rembrandt oder ein Sprecher schnarrte | |
im Wochenschauton über das harte Los der Ostvertriebenen. Selbst das | |
Deckenlicht war eingeschaltet – genau für solche Anlässe wurde „der gute | |
Strom“ den Rest des Jahres über gespart. Wer damals bei uns daheim was | |
sehen wollte, musste „eben die Augen aufsperren“, wie Stiefmutter schalt, | |
wenn sie nachts vom Gerumpel unserer Treppenstürze auf dem Weg zur Toilette | |
gestört wurde. Dann gab es obendrein noch Dresche. | |
„Jetzt lasst uns fröhlich sein“, ergriff Stiefvater das Wort und drehte die | |
Trauermusik weiter auf, bis sie beinah Zimmerlautstärke erreichte. Wie auf | |
Kommando gingen die Mundwinkel nach oben, die sonst immer streng auf | |
Halbmast hingen. Doch heute nicht, da wurde ja gefeiert. Natürlich war man | |
in der welschen Mimik nicht geübt, so dass alle wirkten, als habe man | |
Kriegsgefangenen mit Gewalt die Münder lachender Clowns aufgeschminkt. | |
## Lecker Sohse | |
Kosten und Mühe wurden zwar gescheut, aber eben nicht im üblichen Maß. Wie | |
sonst auch gab es Kartoffeln, Fleisch und (so gesprochen:) Sohse. Doch | |
anstatt vom Hundefriedhof, stammte das Fleisch diesmal von einem, sowohl | |
der Konsistenz als auch der vagen Identifizierung wegen, pauschal | |
„Wildgulasch“ genannten Tier, das Stiefvater zur Feier des Tages frisch mit | |
seinem VW Volkssturm überfahren hatte; zuweilen wurden sogar Erbsen aus der | |
Büchse dazu gereicht: ein Fest! „Hmmm“, machte Stiefvater mit vollem Mund. | |
„Kartoffeln, Fleisch und Sohse. Die Deutsche Küche ist doch die beste der | |
Welt!“ Zackig riss er den rechten Arm nach oben. Wir waren schließlich | |
unter uns – da wollte man sich auch mal so richtig wohlfühlen. | |
26 Sep 2016 | |
## AUTOREN | |
Uli Hannemann | |
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