# taz.de -- taz-Serie Damals bei uns daheim: Die Vögelfütterer | |
> „Unsere gefiederten Freunde“ wurden als wertvoll erachtet. Als Verräter | |
> hingegen galten Italiener, der Spätherbst und Marlene Dietrich. | |
Bild: Kam irgendwo ein Winzvogel zu Schaden, dann begab sich ein Protestzug vor… | |
Genscher war Bundesreichspräsident und die Berliner Philharmoniker, eine | |
Art Vorgänger der RAF, terrorisierten das Land. Unsere Ikonen waren Uwe | |
Seeler, Leni Riefenstahl sowie der offensichtlich aus Leichenteilen | |
zusammengebaute Fernsehmoderator Peter Frankenstein, und von Oktober bis | |
April lag tiefer Schnee. Denn es war Winter. | |
Überall wurden Meisenknödel auf die Balkone gehängt, gespickt mit den | |
leckersten Speisen, ähnlich wie sie auch die Katholiken aßen, derweil der | |
wahrhaft Fromme an seinem Askesebrot mit Margarine nagte. Aus | |
unerfindlichen Gründen galten Vögel als wahnsinnig wertvoll. | |
Krepierte in der Kälte ein Obdachloser, krähte kein Hahn danach. Kam jedoch | |
irgendwo ein Winzvogel auch nur minimal zu Schaden, zog ein gewaltiger | |
Protestzug, „kein Urlaubsort, wo Vogelmord“ skandierend, vor die | |
italienische Botschaft. Die Italiener, so hieß es, fraßen die Singvögel | |
lebend mit Spaghettis. Nudeln als Beilage waren dekadenter Irrsinn, während | |
die Kartoffel (wohlgemerkt die Pellkartoffel und nicht ihr weibischer | |
Vetter, die Salzkartoffel!) die Speise Luthers, Arminius' und Friedrichs | |
des Großen war. | |
Auf keinen Fall durften sie hungern oder frieren: unsere „gefiederten | |
kleinen Freunde“, wie man sie nannte, vermutlich in Ermangelung anderer, | |
echter Kameraden. Die waren ja alle im Kriege gefallen, und wer noch lebte, | |
konnte ein russischer Spion aus der Ostzone sein. Auch die Verräterin | |
Marlene Dietrich spukte noch herum und Stiefmutter schwor Stein und Bein, | |
die rote Hexe habe versucht, ihr im Kaufladen ein Bein zu stellen. | |
Also scharte man sich mit den Stiefverwandten ums Vogelhäuschen und | |
bewunderte die wenigen Piepmätze. Bis auf ein paar Aaskrähen waren ohnehin | |
nur die Rekonvaleszenten geblieben, denn früher flog im Winter noch jeder | |
Spatz gen Süden, während heutzutage selbst so mancher Storch im Lande | |
bleibt, da ihm das Fehlen einer klar definierten Jahreszeit die | |
Orientierung raubt. | |
Damals gab es hingegen noch richtige Winter, nicht so einen Spätherbst für | |
Arme. Stiefvater schwärmte vom „Deutschen Winter, dieser ehrlichsten unter | |
den Jahreszeiten“. Mit Schnee bis zum Dach und fast hundert Grad unter | |
null. Wir Kinder rodelten die Bombentrichter hinunter, selbstverständlich | |
in kurzen Hosen und ohne Handschuhe – ein herrlicher Spaß! Wie die | |
Wehrmacht im russischen Winter, bloß kleiner und mit Schneebällen | |
bewaffnet. | |
Was waren wir für zähe, kleine Racker. Selbst beim strengsten Frost blieben | |
wir den ganzen Tag an der „früschen Luft“. Als ich kürzlich das Foto von | |
einem ertrunkenen Fuchs sah, den ein Jäger in einem Block aus dem Eis | |
geschnitten hatte, kehrten die Erinnerungen zurück: So sahen wir jeden | |
Abend aus, bevor wir im Waschkeller aufgetaut wurden. Erst danach ging es | |
in die Stiefkinderzelle, wo wir nach Nassreinigung, Stubenappell und | |
Nachtgebet in einen tiefen Schlummer voller Albträume fielen, aus deren | |
schlimmstem wir erst viele Jahre später erwachen sollten: unserer | |
Stiefkindheit. | |
30 Jan 2017 | |
## AUTOREN | |
Uli Hannemann | |
## TAGS | |
Damals bei uns daheim | |
Singvögel | |
Winterzeit | |
BRD | |
Damals bei uns daheim | |
Damals bei uns daheim | |
Familie | |
Kalter Krieg | |
Damals bei uns daheim | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
taz-Serie „Damals bei uns daheim“, Teil 24: Familiengeschichte | |
Stiefkinder waren Ausgeburt heiligen Hasses, damals Fundament jeder Ehe. | |
Kein Wunder, dass wir angesichts solcher Bedingungen überaus wohlgerieten. | |
taz-Serie „Damals bei uns daheim“: Die stille Zeit | |
Weihnachten war in unserem Stiefzuhause eine Fortsetzung des zweiten | |
Weltkriegs – mit den Waffen der schwarzen Pädagogik. | |
taz-Serie Damals bei uns daheim: Das Fest | |
Wenn die gesamte Stief-Verwandtschaft zusammenkam, gab es Himbeerschnaps | |
aus der Flasche und Sterbemusik aus dem Radio. Denn es wurde gefeiert. | |
taz-Serie Damals bei uns daheim: Lauwarmer Kriech | |
Die Stief-Oma erzählte gern vom Krieg – beziehungsweise „Kriech“. Auch w… | |
unser Kolumnist gar nicht wusste, was das eigentlich sein soll. | |
taz-Serie Damals bei uns daheim: Verkantet im Wurzelkanal | |
Besuch beim Zahnarzt, gleich nach dem Nürnberger Prozess – der | |
Patientensessel war ein ausrangierter elektrischer Stuhl der US-Armee. |