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# taz.de -- taz-Serie Damals bei uns daheim: Verkantet im Wurzelkanal
> Besuch beim Zahnarzt, gleich nach dem Nürnberger Prozess – der
> Patientensessel war ein ausrangierter elektrischer Stuhl der US-Armee.
Bild: Der Zahnarzt fand immer eine Stelle, in die er seinen rostigen Drillbohre…
Nach einer Zeit, in der sich die Gesundheitsvorsorge weitgehend darauf
beschränkt hatte, möglichst nicht von Kugeln oder Bomben getroffen zu
werden, mussten sich Konzepte wie die Pflege und die Reparatur des
stiefmenschlichen Gebisses erst wieder neu entwickeln.
Wir benutzten Drahtzahnbürsten, mit denen man sonst Zündkerzen reinigte.
Das war auch nötig, bei einer Ernährung aus Pellkartoffeln, Zementbrot und
knorpeligem Aas vom Dreckschwein. Besser der Mund blutete, als dass man das
Zeug nicht mehr aus ihm herausbekam. Die bekannteste Zahnpasta hieß Ajona.
Sie schmeckte nach verfaulter Seife und wurde zunächst zur Abwehr von
Taubenbefall auf Hausdächern verwendet. Als Zahnpasta diente sie erst,
nachdem man beobachtet hatte, wie den verendenden Tauben der Schnabel
schäumte.
Kein Wunder, dass ich schon als Stiefkind schlechte Zähne hatte.
Stiefmutter schickte mich jeden Tag zum Zahnarzt, der trotzdem immer noch
eine weitere Stelle fand, in die er seinen rostigen Drillbohrer kurbeln
konnte, der sich dann jedes Mal tief im Wurzelkanal verkantete.
In seiner Zahnarztwerkstatt hielt er ein Stemmeisen ins offene Feuer, bis
es rot glühte. So wurde das Instrument vor der Behandlung steril gemacht,
um die Vorgaben des damaligen Bundesgesundheitsministers Kinski zu
befolgen, der sich zum utopischen Ziel gesetzt hatte, die Letalitätsrate in
Folge von Zahnarztbesuchen auf unter dreißig Prozent zu drücken.
Der Patientensessel war ein ausrangierter Elektrischer Stuhl, den ihm die
US-Army überlassen hatte, damit gleich nach dem Nürnberger Prozess exklusiv
für die Verurteilten der Praxisbetrieb wiederaufgenommen werden konnte.
Leider lieferte das alte Tötungsmöbel bald nur noch Schwachstrom, so dass
mir als einzige Betäubung ein beruhigendes Heiligenbildchen diente, auf dem
ein aus den Augen blutender Mönch auf der dornigen Erde kniend betete,
während hinter ihm ein halbes Dutzend Hexen auf dem Scheiterhaufen
brannten. Von meinen damaligen entsetzlichen Schreien, werde ich noch heute
regelmäßig aus Träumen geschreckt, wie ich sie meinem ärgsten Feind nicht
wünsche.
Und das war bloß der Stiefkinderzahnarzt, ein psychologisch geschulter
Softie (allerdings galt jeder als Softie, der nicht in Stalingrad gewesen
war), der dem kleinen Stiefpatienten noch vor Verklingen der
Schmerzensschreie das nächste Bonbon gab, obwohl er sich so angestellt
hatte.
Der Erwachsenenzahnarzt war viel schlimmer. Er trug zur Arbeit eine
schwarze Kapuze mit Schlitzen nur für die Augen. Kerben im Empfangstresen
bezeugten, wie viele er getötet hatte. Als Vertreter eines „unehrlichen“
Berufs musste er am Stadtrand wohnen, ebenso wie Gaukler, alleinerziehende
Mütter und die Halbprofis der noch jungen Fußballbundesliga. Sie alle
wurden nach ihrem Tod mit einem silbernen Pflock im Herz sakral
desinfiziert und in ungeweihter Erde verscharrt – ein Kompromiss mit der
CSU, die diese Prozedur eigentlich gerne schon zu Lebzeiten der Gottlosen
gesehen hätte.
28 Jun 2016
## AUTOREN
Uli Hannemann
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