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# taz.de -- taz-Serie Damals bei uns daheim: Stell dich nicht so an
> Angst vor prophylaktischen Mandeloperationen? Dagegen helfen am besten
> Backpfeifen. Oder gar nicht erst anstellen. Und frische Luft.
Bild: Stellte sich schon 1995 an: Michael Stich
Am Frühstückstisch blickte Stiefmutter nur ganz kurz von ihrer Zeitung
hoch: „Übrigens: Du kommst heute ins Krankenhaus. Stiefvati wird dich
nachher hinbringen. Aber bitte ausnahmsweise mal ganz ohne diese
Anstellerei!“
Ich fing an, zu heulen: „Aber ich bin doch gar nicht krank!“
„Siehst du?“ Stiefmutter jaulte schrill auf wie ein ins Fangeisen getappter
Koyote. „Du stellst dich wieder an!“ Ich also „stellte mich mal wieder an…
wie mein Wunsch, bitte einfach nur nicht zu sterben, interpretiert wurde.
„Anstellerei“ sagte man damals bei uns daheim zu verzärtelten Attitüden
jeglicher Art: Zum Beispiel, wenn meine Stiefgeschwister und ich bei einer
Mischwetterlage aus Hagel, Fliegeralarm und Erdbeben nicht „an die früsche
Luft“ wollten. Dann hieß es: „Wenn ihr euch weiter so anstellt, habt ihr
gleich einen echten Grund!“ Wir waren dankbar für diesen Hinweis, denn bei
aller Strenge wollten die Stiefeltern stets nur unser Bestes.
Auch konnte Stiefmutter im Anschluss an die obligatorische Tracht Prügel
schnell vergeben. Das war schon toll an ihr. Obwohl meine dummen Widerworte
sie zutiefst gekränkt haben mussten, erläuterte sie mir ruhig und geduldig
schreiend die Notwendigkeit der bevorstehenden Operation: Die Mandeln
mussten entfernt werden. Unbedingt. Wie bei allen anderen Stiefkindern.
Prophylaktisch riss man die nützlichen Filterorgane heraus wie Unkraut.
Mandeln waren schlecht, sie waren Feinde im eigenen Körper, schädlich und
überflüssig, das Böse schlechthin, das ausgemerzt werden musste. Fast
gewann man den Eindruck, der blinde Hass, der sich einige Jahre zuvor einen
äußeren Volksschädling imaginiert hatte, richtete sich nun nach innen gegen
den Leib der eigenen Stiefkinder.
## Mit stumpfem Messer
Zu viele Körperteile galten ohnehin als Luxus, eine Haltung, die sich durch
den allgegenwärtigen Anblick kriegsgeschädigter Veteranen noch verstärkte.
So war ich zuvor bereits an Schwänzlein und Ohren kupiert worden, um „an
der früschen Luft“ nicht ständig überall hängenzubleiben.
Wortlos fuhr mich Stiefvater zum Krankenhaus, ebenso wortlos lieferte er
mich dort ab. Nur eine Abschiedsbackpfeife ermahnte mich, mich ja nicht
„anzustellen“. Erst als die Rücklichter des VW Volkssturm weit genug
entfernt waren, ließ ich meinen Tränen der Verzweiflung freien Lauf.
Das Krankenhaus war eine billige Tierklinik, doch sie hatte sich schon bei
den anderen Eingriffen zur Zufriedenheit bewährt. Drinnen wurde ich mit
tausend weiteren Stiefkindern in einer Reihe an die Wand gestellt, wo uns
im Akkord mit einem stumpfen Messer die Mandeln herausgeschnitten wurden.
Der ehemals weiße Kittel des Stiefarztes war über und über mit Blut
besudelt. Ich erinnere mich noch an sein heiseres Lachen, als seine blutige
Hand nach meiner Gurgel griff. Danach erinnerte ich mich an gar nichts
mehr, bis ich mit schrecklichen Schmerzen in einem Holzverschlag erwachte.
Von draußen hörte man schon das furchtsame Quieken der nächsten tausend
Stiefkinder.
27 Apr 2016
## AUTOREN
Uli Hannemann
## TAGS
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