# taz.de -- Damals bei uns daheim: Affenzirkus | |
> Totstellen half nichts. Ich musste zum Turnverein – also einem kaum | |
> entnazifizierten Reichsverweser mit Trillerpfeife gehorchen. | |
Bild: Rohe Kartoffeln. Yummy | |
„Ich habe dich beim Turnen angemeldet." Stiefmutters Ansage hatte einen | |
unheimlichen Hall in der Waschküche im Keller, wo meine Stiefgeschwister | |
und ich mit roten aufgescheuerten Händen die Schmutzwäsche auf dem | |
Waschbrett rubbelten. „Nächsten Montag in der Turnhalle bei Herrn | |
Gontermann. Ich bringe dich hin.“ | |
Ich flehte, schrie und weinte. Mehrere Tage lang stellte ich mich auch tot, | |
aß nicht, atmete nicht, lag nur da. Doch es half nichts: Ich wurde zum | |
Turnen geschickt. Weil ich angeblich zu dick zu werden drohte, mit über | |
fünfundzwanzig Kilo bei einer Größe von zwölfhundert Millimetern trotz | |
„früscher Luft“ und vorsorglichen Essenentzugs. Nun ja, die „früsche Lu… | |
machte eben Appetit – ich stahl dann halt, was ich zum Leben brauchte. | |
Wie eine Ratte zwängte ich mich durch die Oberlichter in die Keller der | |
Nachbarn, fischte ihre Kartoffeln aus dem Holzlattenverschlag und aß diese | |
roh in einer Hast, gegen die ein Piranhaschwarm die behagliche Genussfreude | |
einer auf der Wiese vor ihrem Landhaus tafelnden italienischen | |
Großindustriellenfamilie ausstrahlte. | |
„Turnen“ bedeutete, dass ein kaum entnazifizierter Reichsverweser mit | |
Trillerpfeife eine Rotte dicklicher Stiefkinder drillte, die in | |
Marschformation antraten, um anschließend durch eine kalte und staubige | |
„Turnhalle“ gescheucht zu werden, über Matten, die nach Fußkäse stanken, | |
und durch einen Gerätepark, wie er einheitlich auch für Hundesportplätze, | |
Springreitparcours sowie die Rekrutenausbildung des US Marine Corps in | |
Gebrauch war. | |
Es gab eine Streckbank, einen Barren und mehrere Galgen. Außerdem ein Seil, | |
an dem man hing, bis man herunterfiel. Dann pfiff Herr Gontermann schrill | |
in seine Pfeife und schrie einen so lange an, bis das Weiße aus den Ohren | |
trat. Das verschaffte den anderen stets eine willkommene kleine Atempause. | |
Am Ende wurde tatsächlich gespielt. Aber nicht Fußball, ein Sport, der | |
meinen Stiefeltern zutiefst suspekt war, da dort Leute Bier tranken, sangen | |
und sich freuten. Außerdem war Sport nicht zum Geldverdienen da. Das war | |
Affenzirkus. Dabei bekam doch auch Herr Gontermann drei Mark für jedes der | |
unglücklichen Stiefkinder, die er Montag für Montag durch die Halle hetzte. | |
Stattdessen spielten wir Völkerball. Sport hatte der „Abhärtung“ und der | |
„Beweglichkeit“ zu dienen, nicht dem Spaß. „Spaß“ war etwas für Leut… | |
jung starben oder im Gefängnis saßen. Sie hatten zum Beispiel gesungen, | |
Bier getrunken und sich gefreut. Allerdings zu früh. Nun sahen sie, was sie | |
davon hatten. Beim Völkerball wurden wir in kleine Felder gesperrt, aus | |
denen man nicht weglaufen durfte. | |
Dann bekam man Medizinbälle an den Kopf geworfen, bis man blutete. Der | |
Einzige, der daran Spaß hatte, war ein Mitschüler aus der Parallelklasse, | |
Felix Magath, der – welch Treppenwitz – später als bekannter Fußballtrain… | |
reüssieren sollte. Wer als Letzter stehen blieb, hatte gewonnen und durfte | |
die Fußkäsematten zusammenrollen. Das Turnen war beendet. Bis zum nächsten | |
Montag. | |
20 May 2015 | |
## AUTOREN | |
Uli Hannemann | |
## TAGS | |
Kartoffeln | |
Felix Magath | |
taz.gazete | |
BRD | |
Turnhallen | |
Kalter Krieg | |
Damals bei uns daheim | |
Damals bei uns daheim | |
Fahrrad | |
Österreich | |
Gott | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
taz-Serie Damals bei uns daheim: Lauwarmer Kriech | |
Die Stief-Oma erzählte gern vom Krieg – beziehungsweise „Kriech“. Auch w… | |
unser Kolumnist gar nicht wusste, was das eigentlich sein soll. | |
Kolumne Damals bei uns daheim, Teil 13: Stiefelternsprechtag | |
Ich hatte rumgekaspert. Und das Fräulein hatte es verraten. Und wegen mir | |
würden nun alle vor die Hunde gehen. | |
taz-Serie Damals bei uns daheim: Diese Scheidungskinder | |
Mit Kindern, deren Eltern nicht mehr zusammen waren, spielte man nicht. Da | |
hatte meine Stiefmutter Recht. Gut, dass sie mir das früh beibrachte. | |
taz-Serie Damals bei uns daheim: Dubiose Radfahrer | |
Meinem Stiefvater waren Erwachsene, die sich offenbar kein Auto leisten | |
konnten oder ungeeignet waren, eines zu bedienen, höchst verdächtig. | |
Damals bei uns daheim: Die frühen Tage | |
Früher war alles anders. Da wurde Schwangeren Alkohol verabreicht, die | |
D-Mark war was wert – nur Streichhölzer waren immer schon tabu. | |
Damals bei uns daheim: Urlaub in Österreich | |
Urlaubsgefühle bedeuteten: Verzweiflung, panische Angst, bis hin zum | |
Wunsch, auf der Stelle zu sterben – Ferien in Österreich eben. | |
Damals bei uns daheim: Stieftante Gisela | |
Erst mit über 40 Jahren stieß ich auf dem Dachboden zufällig auf eine | |
skelettierte Leiche, die eine altmodische Damenhandtasche festhielt. |