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# taz.de -- taz-Serie Damals bei uns daheim: Dubiose Radfahrer
> Meinem Stiefvater waren Erwachsene, die sich offenbar kein Auto leisten
> konnten oder ungeeignet waren, eines zu bedienen, höchst verdächtig.
Bild: Helme? Gab‘s damals nicht
Speziell in der Stadt galten Radfahrer als wunderliche Exoten, die nur
störten. Sie besaßen keinerlei Rechte, selbst das auf körperliche
Unversehrtheit war aufgehoben. Wer sich in Gefahr begab, kam darin um – das
wusste man spätestens seit Stalingrad. Fahrradwege gab es nicht, noch nicht
einmal das Wort existierte. Eher hätte man Pfade für die vielen
Schäferhunde eingerichtet, die überall schon wieder unterwegs waren, als
hätte es den Nationalsozialismus nie gegeben.
„Sind die irre?“, fragte Stiefvater jedes Mal, wenn er einen Fahrradfahrer
auch nur aus der Ferne sah. Mehrfach umkreiste er ihn mit unserem
Volkswagen „Sturmwind“, bis er wie ein Habicht zustieß. „Aufpassen“, r…
er anschließend dem am Boden liegenden Opfer zu, bevor er kopfschüttelnd
weiterfuhr. „Wie sinnlos die ihr Leben riskieren“, murmelte er auf der
Weiterfahrt. „Das macht mich traurig und wütend.“
Und nicht nur ihn. Erwachsene Menschen, die sich offenbar kein Auto leisten
konnten und zu dumm oder charakterlich ungeeignet waren, eines zu bedienen,
waren höchst verdächtig. Anstatt einer ehrbaren Arbeit nachzugehen,
erschummelten sie sich ihren Lebensunterhalt mit wenig gottgefälligen
Gaukeleien. Faule Gesellen – heute spräche man von „Kreativen“ –, die …
Stiefmutter Fensterscheiben an Regierungsgebäuden zerschlugen und ihr Pipi
in Becher hinein machten, aus denen sie dann kleinen Jungs zu trinken
gaben, bevor sie diese brieten. Dabei waren sie die ganze Zeit nackig und
hielten sich beim Husten nicht die Hand vor den Mund. Ich solle mich bloß
von ihnen fernhalten!
Kein Wunder also, dass man versuchte, Radler zu töten, wo man konnte. Das
klingt zunächst vertraut, doch der große Unterschied war, dass man sich
weder Mühe gab noch geben musste, die Tötung als Unfall zu tarnen, so wie
das heute aus, ich glaube, versicherungsrechtlichen Gründen üblich ist. Die
meisten Liquidierungen erfolgten natürlich auf der Straße, doch konnte es
auch passieren, dass Stiefvater spätabends einen Radler dabei überraschte,
wie der den Kartoffelkeller als Abstellraum für seine Kasperschaukel
missbrauchte.
## Danke für jedes neue Opfer
Schwer atmend und blutüberströmt erschien Stiefvater danach wieder im
Wohnzimmer. „Ich hab schon wieder einen erwischt“, sagte er, doch seiner
Stimme fehlte jeglicher Triumph. Er achtete die Schöpfung Gottes, und wenn
es sein musste, dass er eine Ratte vergiftete, eine Laus zerquetschte oder
einen Radfahrer erschlug, so ließ der heilige Ernst, mit dem er diese
schwere Pflicht erledigte, denselben Respekt erahnen, wie ihn der
indianische Jäger dem toten Elch erweist, wenn er ihm mit einem Ehrentanz
für sein Fleisch dankt.
Stiefvater ließ sich von Stiefmutter ein Bier bringen und setzte sich vor
den Fernseher. „Aktenzeichen XY … ungelöst“. Mehrere liederliche junge
Mädchen waren nach Tanzvergnügungen von ihrem jeweiligen Begleiter ermordet
und in Baggerseen versenkt worden. In Schwarzweiß wirkte das noch
trauriger, als es ohnehin schon war. Stiefvater seufzte.
31 Oct 2015
## AUTOREN
Uli Hannemann
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