# taz.de -- taz-Serie Damals bei uns daheim, Teil 9: „Vom Osten angestiftete … | |
> Ich durfte nur einmal am Tag fünf Minuten glotzen. Erinnerung an eine | |
> Zeit, als auch Erwachsene nach elf Uhr nur Testbild sehen konnten. | |
Bild: So unattraktiv wie möglich gestaltet: das Testbild. Foto: Archiv | |
Fernsehen war für mich das Größte. Doch leider hielten meine Stiefeltern | |
den Fernseher in einer Art Safe unter Verschluss. Ich durfte nur einmal am | |
Tag ausgesuchte fünf Minuten glotzen: „Algebra I“ im Schulfernsehen des | |
Dritten Programms. Unkontrollierter Fernsehkonsum – da waren sich | |
Stiefvater und Stiefmutter einig – würden das noch weiche stiefkindliche | |
Hirn mit Elektrostrahlen und Fehlinformationen zersetzen und mich zum | |
sabbernden Kretin stempeln. | |
Den Erwachsenen erging es wenig besser. Der Staat fühlte sich noch | |
verantwortlich für den gesunden Schlaf seiner Bürger und erzog sie durch | |
Fernsehverbote. Immerhin hatten sie ja tatsächlich was ausgefressen: den | |
Krieg verloren und diese nicht ganz hasenreine Sache mit den Juden, über | |
die man allerdings schon nicht mehr sprach. | |
Abends um elf war Sendeschluss. Die Nationalhymne ertönte vor einer Flagge, | |
von der man notdürftig das Hakenkreuz abgeknibbelt hatte. SchwarzWeiß-Rot | |
oder Schwarz-Rot-Gold konnte man ohne Farbe sowieso nicht unterscheiden. | |
Bis zum folgenden Nachmittag wurde ein Testbild ausgestrahlt, das man | |
mithilfe jahrelanger Tierversuche so unattraktiv wie möglich gestaltet | |
hatte. Generationen von Laborratten waren dabei vor Langeweile eingegangen. | |
Doch es gab durchaus Leute, die den Fernseher nach Sendeschluss anließen | |
und weiter auf das Testbild starrten. Man munkelte auch von Rauschgift. Für | |
meine Stiefeltern waren Menschen, die nachts fernsahen, jedenfalls nur | |
„Halbstarke“, die „vom Osten angestiftet“ waren. | |
## Oberfläche aus Gehorsam und Drill | |
„Gnade dir Gott, wenn du so wirst wie die. Dann kommst du für immer ins | |
Gefängnis“, warnten die Stiefeltern. Sie mussten meine unterschwellige | |
Sympathie für die Nonkonformisten gespürt haben. Ich war schon damals ein | |
starkes und eigenwilliges Stiefkind. Zunächst natürlich nur weit unter der | |
Oberfläche aus Gehorsam und Drill. | |
Erst später gelang es mir, mich umfassend zu befreien. Mit 23 Jahren | |
rauchte ich eine halbe Zigarette und als ich 40 war, wurde ich auf der | |
Straße von einer Prostituierten angesprochen: „Na?“ Natürlich schritt ich, | |
ohne zu antworten, hastig weiter. Doch von da an lernte ich, fünf gerade | |
sein zu lassen. Ich belegte ein und dasselbe Brötchen mit Schinken und Käse | |
– meine Stiefeltern wären ob dieser lukullischen Eskapade in Ohnmacht | |
gefallen. | |
Ich ging in ein Speiserestaurant, obwohl mein Herd nicht kaputt war, | |
einfach nur so. Ich trank ein Bier, nicht gegen den Durst, sondern weil ich | |
– ich sage das hier ganz offen – den Rausch spüren wollte und die Freiheit, | |
die er mir verschaffte. Auf einmal war alles so einfach. Die Stiefeltern | |
hatten es gewiss gut gemeint, doch die Zeiten haben sich nun mal geändert. | |
Ich erwarb sogar ein rotes Hemd, wie es heute viele tragen, bevor mich | |
erneut der Mut verließ. Aber ich verwahre es sicher im Schrank, aus dem ich | |
es jederzeit hervorholen könnte, um damit durch die Straßen zu tanzen, als | |
wäre es die normalste Sache der Welt. Das ist der Traum, für den ich lebe. | |
6 Dec 2015 | |
## AUTOREN | |
Uli Hannemann | |
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