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# taz.de -- Damals bei uns daheim: Unendlich viel Qualm
> Früher wurde noch geraucht, und zwar immer und überall. Nur für uns
> Kinder waren Zigaretten tabu. Ist schließlich „wahnsinnig ungesund“.
Bild: Hüstel.
Selbst beim Mittagessen, in Wischwasser gedünsteten Blumenkohlstrünken mit
Pellkartoffeln, rauchten unsere Stiefeltern. Eine Kartoffel, eine Zigarette
und wieder eine Kartoffel. Oft auch alles auf einmal.
Das damalige Rauchverhalten wirkt heute bizarr. Man rauchte beim Sport und
beim Sex, in Bussen und Bahnen, Flugzeugen und Taxis, Kirchen und
Restaurants. Das Dessert, in der Regel mausetote Mandarinen aus der Büchse,
diente bloß dazu, die Kippe darin auszudrücken. Man fragte nicht nach einem
Aschenbecher, man sagte nur: „Bringen Sie uns den Nachtisch.“ Selbst auf
Intensivstationen durfte, nein, MUSSTE geraucht werden. Das sollte die
natürlichen Abwehrkräfte der Patienten anregen und sie an ein Leben nach
der Krankheit gewöhnen. Schließlich wurde draußen ja erst recht geraucht.
Ein Leben nach der Krankheit war allerdings selten. Die Medizin in der
jungen BRD steckte noch in viel zu kleinen Kinderschuhen. Bakterien, groß
wie Vogelspinnen, schlurften ungehindert durch die Patientenzimmer. Das
meist benutzte Instrument der Chirurgen war die sogenannte Stumpfsäge. Die
Spritzen sahen aus wie Maschinenpistolen und wirkten auch so. Dafür war
alles umsonst: Morphium, Kokain, Wundwasser, Heilwasser, Kräuterschnaps –
die Krankenkassen zierten sich nicht so wie heute.
Auch in der Kinderzelle wurde geraucht. Kamen unsere Stiefonkel und
Stieftanten zu Besuch, brachten sie uns Schokolade oder Bombenflugzeuge zum
Zusammenbauen mit und setzten sich zu uns in die Stiefkinderzelle. Während
sie nach der Schule fragten und uns beim Spielen zusahen, rauchten sie in
einem fort. Stiefgroßonkel Molfsee qualmte gar armdicke Zigarren aus
getrocknetem Katzenkraut.
Wäre der Raum ein Fußballplatz und die dichten Rauchschwaden der Nebel
gewesen, hätte ein verantwortungsvoller Schiedsrichter das Spiel spätestens
jetzt abgebrochen. Waren die Verwandten weg, mussten wir ohnehin gleich
wieder für den Rest des Tages nach draußen an die „früsche Luft“, wo
Freiluftraucher und die Abgase von verbleitem Hilfsbenzin, das wahlweise
auch getrunken wurde, uns den Rest gaben.
Für uns Kinder, obwohl vom Passivrauchen längst mit ausgewachsenen
Entzugserscheinungen gesegnet, waren Zigaretten vollkommen tabu. Das ist
nicht wie heute, da Eltern ihren Kindern zwar die Masernimpfung versagen,
weil sie ein Alu-Hütchen-Guru im Traum beraten hat, doch beim ersten Schuss
Heroin noch selbst mit Hand anlegen, aus Sorge das Kind könne sich aus
mangelnder Erfahrung im Gebrauch des Spritzbestecks verletzen.
„Wenn ich dich auch nur in der Nähe einer Zigarettenschachtel erwische,
zerquetsche ich dich wie eine Laus“, drohte Stiefmutter fast täglich. „Für
Kinder ist das wahnsinnig ungesund.“ Und blies mir mahnend den Qualm mitten
ins Gesicht. Ich hustete. „Siehst du“, triumphierte sie. Heute lebt von den
ganzen Akkordquarzern vermutlich nur noch Helmut Schmidt. Ich weiß, es
klingt verrückt, aber alle anderen sind inzwischen irgendwie krank geworden
und gestorben.
27 Apr 2015
## AUTOREN
Uli Hannemann
## TAGS
Kinder
Rauchen
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