# taz.de -- Angela Merkels Kurs und die Probleme: Die Strategie der Standhaften | |
> Die Macht der Kanzlerin erodiert. Nach der CSU zweifelt nun auch die SPD | |
> an Merkels Kurs, die Grenzen für Flüchtlinge offenzuhalten. | |
Bild: Muss Merkel ihren Kurs wechseln? Steht gar ihre Ablösung als Regierungsc… | |
## Merkels Befürchtung | |
Die Kanzlerin weigert sich beharrlich, die deutschen Grenzen für | |
Flüchtlinge zu schließen. Sie tut das, weil sie ein Szenario vermeiden | |
will, das die EU zerstören könnte. Entschlösse sich Deutschland, die | |
wichtigste Volkswirtschaft Europas, zu so einem Schritt, müssten andere | |
Staaten fürchten, auf Flüchtlingen sitzen zu bleiben. Österreich, | |
Tschechien, Slowenien und andere zögen nach und machten ebenfalls zu. | |
Merkel fürchtet also eine Kettenreaktion, an deren Ende eine Abkehr vom | |
Europa ohne Grenzkontrollen stehen könnte. Die Wirtschaft litte dann | |
erheblich, die Arbeitslosenzahlen stiegen. Ohne Schengen, die Freizügigkeit | |
der Arbeitnehmer und die Reisefreiheit „macht der Euro keinen Sinn“, warnte | |
EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker bereits. | |
Natürlich werden in Regierungen längst entsprechende Planspiele angestellt. | |
Zwischen Bundeskanzleramt und Italiens Regierung soll zum Beispiel | |
besprochen worden sein, welchem Staat es mehr schade, wenn am Brennerpass | |
plötzlich wieder Grenzkontrollen stattfänden. Aber klar ist auch: Wie sehr | |
das Ende von Schengen die EU tatsächlich treffen würde, ist unklar. Merkel, | |
das ist offensichtlich, will dieses Szenario mit aller Macht verhindern. | |
Schafft sie das? | |
## Merkels Strategie | |
Merkels setzt auf eine Doppelstrategie, um die Flüchtlingszahlen zu senken. | |
Ihre Koalition will Abschiebungen beschleunigen, sie hat außerdem mehrere | |
Asylrechtsverschärfungen beschlossen, die abschrecken sollen. Entscheidend | |
aber ist die Außenpolitik. Merkel will die Länder an der EU-Außengrenze, | |
die im Moment die Flüchtlinge einfach weiterleiten, dazu bringen, ihre | |
Grenzen hart zu kontrollieren. Außerdem arbeitet sie an einem Pakt mit dem | |
türkischen Präsidenten Erdoğan. | |
Die Türkei ist das wichtigste Transitland für Menschen aus Syrien. Einfach | |
gesagt soll Erdoğan die Grenzen zumachen und so die Balkanroute | |
austrocknen. Dafür bekäme er EU-Milliarden und ihm würden | |
Flüchtlingskontingente abgenommen. Zudem sollen die Flüchtlinge innerhalb | |
der EU-Staaten verteilt werden. | |
## Merkels Problem | |
Die Zahl der neu nach Deutschland kommenden Flüchtlinge ist im Vergleich zu | |
den Höchstständen des Vorjahres deutlich gesunken, von über 10.000 auf | |
ungefähr 3.000 am Tag. Das ist nur scheinbar ein Erfolg für diejenigen, die | |
eine Reduzierung gefordert hatten, tatsächlich aber eher auf das | |
Winterwetter zurückzuführen. Vor vier Wochen hatte Merkel auf dem | |
CDU-Parteitag um Geduld geworben, um mit den EU-Mitgliedstaaten eine | |
gemeinsame Lösung zu finden. Bisher ohne Ergebnis. | |
Italien weigert sich, seinen Anteil an den vereinbarten Zahlungen von drei | |
Milliarden an die Türkei zu leisten. Die wiederum geht nicht gegen | |
Schleuser vor. Stattdessen schickt Ankara Kriegsflüchtlinge nach Syrien | |
zurück. | |
Doch Merkel bleibt dabei: Erst die europäischen Verhandlungen im Februar | |
und März abwarten, mit der Türkei verhandeln, dann – notfalls – einen Plan | |
B entwerfen. Das erste Quartal des Jahres, sagte ihr Generalsekretär Peter | |
Tauber am Montag, sei dafür entscheidend. | |
## Merkels Gegner I | |
Merkels größte Gegner sitzen nicht in der Opposition, sondern in ihrer | |
eigenen Partei. Es sind diejenigen, die seit Monaten einen schärferen Kurs | |
fordern, der Wirtschaftsflügel beispielsweise oder der Innenpolitiker | |
Wolfgang Bosbach. Schon auf dem Parteitag hatte der mit anderen | |
CDU-Mitgliedern eine Rückkehr zum Dublin-Verfahren und Grenzkontrollen | |
gefordert – der Antrag wurde abgelehnt, aber das Zeichen des | |
Gegen-Merkel-Seins blieb. Und wurde nun mit einem Brief erneuert, in dem | |
mehrere Dutzend Fraktionsmitglieder eine Kursänderung fordern. | |
Angela Merkel scheint das gelassen zu nehmen: „Abgeordnete müssen keine | |
Briefe schreiben“, sagte Peter Tauber am Montag, sie könnten schließlich | |
persönlich mit ihrer Vorsitzenden sprechen. | |
Deutlich ernster scheint Merkel das Drängen der Schwesterpartei zu nehmen: | |
Deshalb fährt sie auch zur Klausur der bayerischen Landtagsfraktion. Die | |
CSU hält an ihrer Obergrenze fest, damit für die AfD gar nicht erst eine | |
Lücke entsteht, in der sie sich rechts außen einnisten kann. Wohl deshalb | |
darf die CSU seit Wochen die Agenda der Asylrechtsverschärfungen diktieren, | |
ohne dass Merkel ein Machtwort spricht: Die CSU ist das Sprachrohr für | |
diejenigen Forderungen, die für Merkel und die CDU nicht laut äußerbar | |
sind. Eine Strategie, die nicht aufzugehen scheint, zeigen neueste | |
Umfragewerte. | |
## Ihre Gegner II | |
Mit Seehofers Dauerfeuer kämpft Merkel seit Monaten. Aber neuerdings | |
überholt auch die SPD Merkel von rechts. Sigmar Gabriel setzt sich von | |
Merkel ab und versucht so sicherzustellen, dass die SPD nicht mit einem | |
Scheitern ihrer Strategie verbunden würde. Um die Schließung von Grenzen in | |
Europa zu vermeiden, müsse es bei der Sicherung der Außengrenzen | |
vorangehen, sagte Gabriel am Montag nach einer Vorstandsklausur in Nauen. | |
Schon zuvor hatte er gefordert, bis zum Frühjahr müsse es ein wirksames | |
Abkommen mit der Türkei geben. Das klang schon fast wie ein | |
Seehofer-Ultimatum. | |
Es ist keineswegs so, als seien alle SPD-Funktionäre begeistert von Merkels | |
Diktum der offenen Grenzen. Die Sozialdemokraten stecken bei der | |
Flüchtlingspolitik in einem Dilemma. Ihr Programm verpflichtet sie | |
eigentlich zu einem linken Kurs. Aber in ihren Wählermilieus gibt es viele | |
Menschen, die sich vor Sozialkonkurrenz fürchten und Angst vor Flüchtlingen | |
haben. Seit Wochen betont Gabriel deshalb, dass der Staat eine doppelte | |
Integrationsaufgabe leisten müsse. Indem er Flüchtlinge integriere, aber | |
auch den Zusammenhalt der Gesellschaft garantiere. | |
## Die Messlatte | |
Was will die Bevölkerung? Eine vage Antwort darauf geben aktuelle Umfragen, | |
nach denen CDU und CSU stetig an Zustimmung verlieren – bei allen | |
Instituten liegen sie unter 40 Prozent. Die Ironie daran ist: So sehr sich | |
die Union auch darum bemüht, keine Wähler an die rechtspopulistische AfD zu | |
verlieren, umso beliebter wird die kleine Partei. Aktuell schafft sie es in | |
einigen Umfragen bereits auf elf Prozent. | |
Aber ist das der Union wirklich so unrecht, wie sie immer sagt? Vermutlich | |
kaum, denn letztlich könnte die AfD in Rheinland-Pfalz und | |
Baden-Württemberg für die CDU als Vehikel zurück in die Regierung dienen: | |
Treffen die Umfragen in den Ländern zu, würde die AfD tatsächlich in beiden | |
Landtagen einziehen. Weder Rot-Grün noch Schwarz-Gelb bekämen dann eine | |
Mehrheit – für eine Große Koalition würde es aber in beiden Fällen dank d… | |
AfD reichen. Vielleicht deshalb beginnt sich die rheinland-pfälzische | |
Spitzenkandidatin Julia Klöckner von Merkel abzusetzen. Sie steht nur noch | |
halbherzig hinter ihr: „Es hat ja keiner einen Vorschlag, wer wirklich eine | |
Alternative sein könnte.“ | |
## Die Alternativen | |
Merkels Kritiker eint, dass sie zwar lautstark Fristen setzen und andere | |
Lösungen fordern. Aber sie benennen die Konsequenzen nicht ehrlich. Selbst | |
wenn man das eingangs erwähnte Szenario geschlossener Grenzen für | |
hinnehmbar hält, haben die Rebellen in der Union ein taktisches Problem. | |
Darf die Union kurz vor der Bundestagswahl eine beliebte Kanzlerin fallen | |
lassen? Wer macht es dann? Oder kann Merkel ihren Kurs ändern, ohne | |
zurückzutreten? | |
Für einen gezielten Putsch gibt es in der Union – trotz aller Kritik – | |
keine Hinweise. Wolfgang Schäuble ist der erfahrenste CDU-Minister, er hat | |
mehrmals erkennen lassen, dass er in der Flüchtlingspolitik anderer Meinung | |
ist als Merkel. Aber Schäuble weiß um die Probleme einer anderen Lösung, | |
außerdem ist er ein großer Freund Europas. Er belässt es bei Sticheleien, | |
etwa indem er den vergifteten Vorschlag unterbreitet, die Flüchtlingskrise | |
über einen EU-weiten Benzin-Soli zu finanzieren – womit man die Menschen | |
zuverlässig gegen die Flüchtlinge aufbrächte. Aber gleichzeitig lobt er | |
Merkel, wo er kann. Sein Ego ist zweifelsfrei groß genug, zu glauben, | |
keiner könne besser Kanzler als er. Aber dass er aktiv am Sturz Merkels | |
arbeitet, darf bezweifelt werden. | |
Ein Kurswechsel der Kanzlerin ist nicht ausgeschlossen, auch wenn sie sich | |
in der Flüchtlingsfrage so klar positioniert hat wie noch bei keinem | |
anderen Thema. Merkel hat ihre Politik immer wieder den Stimmungslagen der | |
Deutschen angepasst. Wenn die Flüchtlingszahlen im Frühjahr weiter steigen, | |
wenn die Skepsis in der Bevölkerung wächst, dann könnte Merkel einlenken. | |
Sie könnte auf die Weigerung der EU-Partner zur Kooperation verweisen. | |
Zudem wäre denkbar, die Grenzen nur für bestimmte Personengruppen zu | |
schließen, auch von Obergrenzen müsste keine Rede sein. Für Merkel wäre | |
eine gesichtswahrende Lösung wichtig, es dürfte nicht aussehen, als gebe | |
sie Seehofer oder Gabriel nach. Aber das wäre dann nur noch eine zu | |
verhandelnde Selbstverständlichkeit. | |
19 Jan 2016 | |
## AUTOREN | |
Christina Schmidt | |
Ulrich Schulte | |
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