# taz.de -- Zum 15. Geburtstag der Wikipedia: Zweifelsfreie Irrelevanz | |
> Wer ist wichtig genug, in der Enzyklopädie aufzutauchen? Unsere | |
> AutorInnen scheitern an den Ansprüchen, die Wikipedia an sie richtet. | |
Bild: Spieglein, Spieglein in der Hand, wer ist die Wichtigste im Land? | |
Bis zum 17. August 2014 um 19.28 Uhr fand ich mich eigentlich ganz gut. Ich | |
war Redakteurin, Autorin und Kolumnistin einer überregionalen Zeitung und | |
hatte gerade mein erstes Sachbuch veröffentlicht. Selbstbild: | |
dauerzweifelnd bis solide, mit Ausschlägen nach oben. | |
Dann bekam ich eine Mail. Absender: Google Alerts. Betreff: Google Alert | |
„Franziska Seyboldt“. Inhalt: „Wikipedia. Franziska Seyboldt (* 1984) ist | |
eine deutsche Journalistin. Sie studierte in Hamburg | |
Modejournalismus/Medienkommunikation und ist seit 2008 ...“ | |
Klick. Tatsache. Ein Wikipedia-Eintrag. Über mich! Warum auf einmal, und | |
wer hatte bitteschön, aber egal, jemand fand mich wohl neuerdings wichtig, | |
und das war jetzt erst mal kein Scheißgefühl, sondern eher eins wie eine | |
herzliche Massage, und zwar eine ausgiebige. | |
Fünf Stunden später war mein Eintrag gelöscht. Das kann man dort immer noch | |
nachlesen: „00:44, 18. Aug. 2014 Enzian44 (Diskussion | Beiträge) löschte | |
Seite Franziska Seyboldt (Fehlende enzyklopädische Relevanz bzw. | |
Darstellung selbiger).“ Fehlende Relevanz. Selbstbild: Marianengraben. | |
Die [1][Relevanzkriterien von Wikipedia] kann man nachlesen. Hab ich | |
gemacht. Sicherheitshalber die für Autoren und Journalisten, trifft ja | |
beides zu. Ich hatte nur nicht bedacht, dass der Anforderungskatalog einem | |
erst recht vor Augen führt, was man alles nicht erreicht hat. | |
## Keine besondere Bedeutung | |
Ich habe keinen renommierten Literaturpreis gewonnen. | |
Ich habe kein Standardwerk verfasst, das in reputablen Quellen als solches | |
bezeichnet wird. | |
Ich habe keine besondere Bedeutung oder Bekanntheit, etwa durch den Eintrag | |
in einem anerkannten, redaktionell betreuten Nachschlagewerk. | |
Ich habe nicht mindestens zwei Monografien der Belletristik/Schönen | |
Literatur oder vier nicht-belletristische Monografien (z.B. Sachbücher) als | |
Hauptautorin bei einem regulären Verlag veröffentlicht. | |
Ich bin keine Chefredakteurin eines relevanten Rundfunkveranstalters. | |
Ich bin keine leitende Redakteurin oder Ressortchefin einer großen | |
überregionalen Zeitung oder Zeitschrift in „klassischen Ressorts“ wie | |
Politik, Wirtschaft, Sport, Kultur oder Feuilleton. | |
Ich bin nicht Trägerin eines bedeutenden Journalistenpreises. | |
Ich habe nicht mindestens einen relevanten Skandal aufgedeckt. | |
Stimmt ja alles, aber aua! Und dann hinter jedem Satz dieses imaginäre: | |
Warum eigentlich nicht? Warum haben Sie keinen Preis gewonnen? Warum sind | |
Sie keine Ressortleiterin? Haben Sie denn gar keine Ambitionen? | |
## Selbstbild | |
Wem das noch nicht deutlich genug ist, kann sich zusätzlich die | |
[2][Kriterien für eine Schnelllöschung] durchlesen. Das ist das Löschen | |
einer Seite ohne vorherige siebentägige Löschdiskussion, was bei einer | |
Eintragsdauer von gerade mal fünf Stunden definitiv zutrifft. Da steht: | |
„Das dargestellte Lemma ist zweifelsfrei nicht relevant (Kleinstvereine, | |
vollkommen unbekannte Personen).“ Zweifelsfreie Irrelevanz. Selbstbild: | |
Marianengraben. Ohne Sauerstoffflasche. | |
Wikipedia ist der Spiegel, an dem man täglich vorbeiläuft, ohne | |
reinzuschauen. Weil man eh nur sieht, dass der Abdeckstift in den | |
Augenringen eine Ü-30-Party feiert und die Frau neben einem viel eleganter | |
aussieht. Wenn einem doch der Spiegel vorgehalten wird, erschrickt man, | |
schüttelt sein Haar und geht weiter. Und überlässt Wikipedia den Koksern. | |
Die haben das verdient. | |
VON FRANZISKA SEYBOLDT | |
*** | |
„Ambros Waibel ist ein deutscher Schriftsteller.“ Darin stimmen Wikipedia | |
und mein Zahnarzt überein. Bevor er quartalsweise in meine Mundhöhle | |
eintaucht, stockt er kurz und fragt, an was für einem Buch ich gerade | |
arbeite. Und jedes Mal antworte ich: Ich schreibe keine Bücher mehr. Ich | |
bin Journalist. Schon lang. | |
Aber das „schon lang“ geht im Gurgeln des Absaugers unter. Und dann sagt | |
der Zahnarzt so was wie „Ach so, mhm“ – und hat damit den mit der Kasse | |
abrechenbaren menschelnden Part ausgeschöpft und kommt zum eigentlichen | |
Kernsatz: „Das wird jetzt ein bisschen wehtun.“ | |
Genauso wenig wie meinen Zahnarzt will ich Wikipedia überzeugen, was ich | |
bin. Im Netz schwirren Reste meiner Existenzversuche wie Satellitenschrott | |
durchs All. Irgendwann wird sich dieser Been-there-done-that-Müll zu einem | |
großen Haufen ballen und mir vor die Füße fallen. Dann bin ich vielleicht | |
schon tot, mache mich lächerlich oder werde doch noch berühmt. | |
Andererseits ist so [3][ein eigener Wikipedia-Eintrag] schon irgendwie | |
erwachsen – wie eine Kreditkarte. Obwohl, nein, meine Visacard macht den | |
Weg frei für Mietwagenbuchungen und Überschuldung. Der Wikipediaeintrag | |
lungert nur adoleszent herum. | |
Ich bin digitaler Legastheniker, ich verstehe diese Änderungsprotokolle | |
nicht, und wenn ich die quietschende Holztür zum Diskussionsbereich von | |
Wikipedia öffne, dann blicke ich in ein Kabinett gschftlhuberischen | |
Grauens, ein ekliger Schlund, aus dem mir Pestatem vergeudeter Lebenszeit | |
entgegenweht. Und ich rede hier nicht von der meinen. Denn von all den | |
Stunden, die ich mit kindlichen Tagträumen, jugendlichen Exzessen und | |
familienväterischen Existenzsorgen verplempert habe, steht bei Wikipedia | |
nichts. Bei Wikipedia bin ich straight. Nach abenteuerlichen Wanderjahren | |
wurde ich zu dem deutschen Schriftsteller, der ich heute noch bin. Bin ich | |
aber nicht. | |
## Wer ich sein wollte | |
Der wesentliche Grund, warum ich es zu einem Wikipedia-Eintrag gebracht | |
habe, ist, dass mich eines nie interessiert hat: es einmal zu einem | |
Wikipedia-Eintrag zu bringen. Ich hatte keinen Plan. Ich will nicht wissen, | |
wer ich bin. Und ich will mich vor allem nicht daran erinnern, wer ich | |
einmal habe sein wollen. | |
Denn was hieße denn jenes „Ambros Waibel ist ein deutscher Schriftsteller“? | |
Als ich aufhörte zu schreiben, war ich erschöpft, ausgelaugt, zerrüttet. | |
Dem, was Wikipedia behauptet, könnte ich gar nicht mehr gerecht werden. Und | |
es ist kein Argument, dass ich ja gerade einen Text verfasse. Dies hier | |
schreiben und „Schreiben“ – das ist wie Fischstäbchen braten und einen | |
Fisch fangen: ihn töten, ihn ausnehmen und schuppen; die Entscheidung zu | |
treffen, wie genau dieser Fisch zuzubereiten wäre, die Utensilien | |
bereitzustellen, die Zutaten zu besorgen, das Holz zu hacken. | |
Und dann vielleicht alles in die Tonne zu treten. Und wieder mit der Angel | |
rauszugehen, in den Regen, hungrig und allein. Der Zahnarzt in den | |
Buddenbrooks heißt übrigens Brecht. Steht zumindest bei Wikipedia. | |
VON AMBROS WAIBEL | |
15 Jan 2016 | |
## LINKS | |
[1] https://de.wikipedia.org/wiki/Wikipedia:Relevanzkriterien | |
[2] https://de.wikipedia.org/wiki/Wikipedia:Schnelll%C3%B6schantrag | |
[3] https://de.wikipedia.org/wiki/Ambros_Waibel | |
## AUTOREN | |
Franziska Seyboldt | |
Ambros Waibel | |
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