| # taz.de -- Zur Situation des Lexikons: Schlag nach! | |
| > Der Brockhaus ist tot, alle benutzen Wikipedia. Denn wer braucht schon | |
| > A–Z, wenn er nur F sucht? Trotzdem: Das Lexikon ist ein Erfolgsprinzip. | |
| Bild: Leere Regale, leerer Kopf. Bücher bleiben Statussymbol | |
| Menschen, die mit dem Internet aufwachsen, verbinden mit dem Brockhaus die | |
| verstaubte Bücherreihe, ganz oben auf Opas Regal. Die Zeiten, als man in | |
| der Schule lernte, dass man mit Wikipedia vorsichtig umgehen sollte, sind | |
| vorbei. Im letzten Jahr wurden knapp zwei Millionen Artikel in der | |
| deutschsprachigen Wikipedia gezählt. Ihr Vorteil ist nicht die Größe, | |
| sondern das Medium: überall zugänglich und aktuell. So lässt sich | |
| Halbwissen stetig erweitern und gleich wieder vergessen. | |
| Geschichtsschreibung wird hybrid, jeder kann sie bearbeiten. | |
| Warum dann noch Lexika? | |
| Im Frankreich des 18. Jahrhunderts kämpften die Herausgeber einer der | |
| ersten umfassenden Enzyklopädien um ihre Veröffentlichung: Die | |
| „Encyclopédie ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des | |
| métiers“ sammelte Beiträge von Musik bis Architektur, Metallurgie und | |
| Mineralogie. | |
| Die Texte wurden öffentlich verbrannt, den Initiator Denis Diderot sperrte | |
| man monatelang ein. Ein Jahr nach der Publikation wurde sie auf Befehl | |
| Ludwigs XV. verboten, um „Irrtum, Sittenverfall und Unglauben“ aufzuhalten. | |
| Es waren 142 Mitarbeiter, die insgesamt 72.000 Artikel zusammenbrachten: | |
| Die Enzyklopädie war revolutionär, sie war Teil der Aufklärung und der | |
| Französischen Revolution. | |
| Friedrich Arnold Brockhaus erwarb 1808 die Rechte an dem Lexikon und | |
| verlegte die postrevolutionäre Ausgabe in Leipzig. Bis 1913 wurden 300.000 | |
| Ausgaben im Deutschen Kaiserreich verkauft. 1928 erschien die 15. Auflage | |
| unter dem Namen „Der große Brockhaus“. Ein Name als Synonym für geballtes | |
| Wissen. Das Lexikon genoss gesellschaftlich hohes Ansehen. | |
| ## Revolutionäre Erfindung | |
| 2005 wurden von der 21. Auflage nicht einmal mehr 20.000 Exemplare | |
| verkauft, im Juni 2014 war nach knapp 200 Jahren Schluss. Die | |
| Gesamtausgaben mit einer Länge von bis zu 3,4 Metern lassen sich als | |
| Sammlerobjekte nur noch antiquarisch erwerben, ab 900 Euro aufwärts. Der | |
| Brockhaus-Verlag hat bereits ein neues Geschäftsfeld gefunden. Er | |
| präsentiert sich nun als kostenpflichtige Onlinerechercheplattform für | |
| Unternehmen mit „Qualität und Kompetenz“. | |
| Auch wenn das Geschäftsmodell Universallexikon am Ende ist: Im Aufbau | |
| bleibt das Lexikon ein Erfolg und Vorbild. Die sogenannte Lexikografie, die | |
| Machart eines Nachschlagewerkes, hat das wissenschaftliche Arbeiten und die | |
| Archivierung geprägt. Von Begriffserklärungen bis zu Literaturhinweisen | |
| wird alles ins Digitale übernommen. Querverweise nennt man heute | |
| Hyperlinks, den Index findet man im Wiki unter „siehe auch“. Das | |
| ursprüngliche Format überzeugt: Stichworte, alphabetisch oder thematisch | |
| geordnet, kurz und sachlich kommentiert. | |
| Schon immer hat dieser lexikalische Stil auch die Literatur inspiriert: Die | |
| Anordnung befreit vom Lesezwang, der Leser kann aufschlagen, wo er will, | |
| und sich einen Eintrag durchlesen. Einem Schlagwort folgt ein Text, der | |
| unterhalten kann, aber auch Wissen vermittelt. Schon Flaubert bezeichnete | |
| „Boucard et Pécuchet“, eine Geschichte nach Themenbereichen geordnet, als | |
| sein Meisterwerk. Später erscheint der „Lexikon Roman“ von Andreas Okopenko | |
| und bleibt nicht der einzige dieser Gattung. Während sich klassische Lexika | |
| immer schlechter verkaufen, sind unterhaltende Bücher in lexikalischer Form | |
| beliebt. Die heißen dann „Ein Mann. Ein Buch“ oder „Atlas der Länder, d… | |
| es nicht gibt“. | |
| ## Lexikon als Literatur | |
| Als der Stern Wikipedia und Brockhaus gegeneinander antreten ließ, gewann | |
| die Internetenzyklopädie in fast allen Disziplinen. Doch was das analoge | |
| Nachschlagewerk bieten konnte, waren seine verständlichen Einträge. Die | |
| Autoren waren geübt, wissenschaftliche Erkenntnisse lesbar zu machen. Sie | |
| beherrschten die Kunst, wegzulassen. Und auch im Mangel an Aktualität sehen | |
| manche eine Stärke. Christian Döring, der für den Editions-Verlag die | |
| Enzyklopädie von Diderot neu verlegt hat, sagt: „Es ist ein präzise | |
| gezeichnetes Bild der damaligen Zeitumstände. Wie wollen Sie das übers Netz | |
| vermitteln?“ | |
| Wer Fachwissen braucht, kommt auch heute am Gedruckten nicht vorbei, auch | |
| weil ein Großteil der Bibliotheken noch nicht digitalisiert wurde. Aber das | |
| ist nicht der einzige Grund: Ein volles Bücherregal ist ein Statussymbol. | |
| Vielleicht ist es nicht mehr der Brockhaus, sondern der Herrndorf-Schuber, | |
| der das Gelesene sichtbar machen soll. Doch das Prinzip bleibt: Der | |
| Besitzer will sein Wissen präsentieren und verewigen. | |
| Dazu passt, dass das Fachlexikon den Brockhaus abgelöst hat. Die Form des | |
| Lexikons ist zum Trägermedium für alle möglichen Stoffe geworden. Im Handel | |
| erscheinen Fitnessprogramme als „Krafttraining-Enzyklopädie“ oder, für die | |
| richtigen Fans, „Star Wars – Die illustrierte Enzyklopädie“. Es geht ums | |
| Sammeln. Es geht ums Prestige. | |
| 20 Mar 2016 | |
| ## AUTOREN | |
| Nils Elias Molle | |
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