# taz.de -- „König Lear“ in Hamburg: Monstrositätenschau der Eitelkeiten | |
> Auf dem Sonnendeck sind alle Humanisten: Karin Beier bringt die | |
> Fellini-Adaption „Schiff der Träume“ im Hamburger Schauspielhaus auf die | |
> Bühne. | |
Bild: Aus Afrika kommt die Rettung für eine zu Tode amüsierte Gesellschaft: F… | |
Brachial deutlich dafür, einfach dagegen oder mutig zweideutig: Zum Thema | |
Flüchtlinge haben die Hamburger Sprechtheaterleuchttürme gerade Kunst und | |
PR in völlig unterschiedliche politische Richtungen ausgesendet – und | |
eindeutige Antworten erhalten. | |
Am Deutschen Schauspielhaus wollte Karin Beier mit Federico Fellinis | |
„Schiff der Träume“-Filmstoff von 1983 nicht einfach eine multikulturell | |
gleichberechtigte Gesellschaft auf die Bühne träumen. Sie verweigert den | |
kanzlerischen Wir-schaffen-das-Tonfall und zerfleddert die | |
Alles-wird-gut-Komödie zu einem kabarettistischen Bilderbogen. Notizen aus | |
Deutschlands elitärer Provinz, denen ganz bewusst die klaren Botschaften | |
fehlen. | |
Während am Thalia Theater der für April 2016 gebuchte Regisseur Alvis | |
Hermanis die Uraufführung seiner „Russland.Endspiele“ absagte, was das Haus | |
zur Eigenwerbung und den lettischen Theatermann zur Deutlichkeit | |
veranlasste: „Nach Gesprächen mit Thalia-Leuten habe ich verstanden, dass | |
sie nicht offen sind für abweichende Meinungen. Sie sehen sich als | |
Refugees-Welcome-Zentrum. Jawohl, ich will da nicht mitmachen.“ | |
Das begründet Hermanis mit seiner aktuellen Situation: in jenem Pariser | |
Stadtteil zu leben und zu arbeiten, der kürzlich Opfer der Massaker des | |
„Islamischen Staates“ geworden ist: „Das Gefühl im Alltagsleben ist wie … | |
Israel. Permanente Paranoia. Sogar noch schlimmer als dort, weil die | |
jüdische Gemeinschaft als erste die Stadt verlässt“, schreibt Hermanis. | |
„Überall umgeben uns Bedrohung und Angst. Wir alle sind traumatisiert von | |
dem, was hier geschah. Als Vater von sieben Kindern bin ich nicht bereit, | |
in einer weiteren potenziell gefährlichen Stadt zu arbeiten. Bekanntlich | |
stammten die Täter von 9/11 aus Hamburg.“ | |
Hermanis geht gedanklich noch einen Schritt weiter: Da alle Terroristen | |
auch Flüchtlinge seien, so wie er selbst, der einst in New York um | |
politisches Asyl bat, sei es befremdlich, so ließen sich seine Andeutungen | |
interpretieren, wenn man will, diese durch humanitäre Angebote auch noch | |
einzuladen. Ausgelöst hat er mit diesen Nichtgedanken vor allem einen | |
Shitstorm: Hermanis wurde ganz rechts außen an den Rassisten-Pranger | |
gestellt. Ob er da hingehört? Keine Ahnung. Ob er sich so äußern darf? Auf | |
alle Fälle! | |
Thalia-Intendant Joachim Lux sieht in dem Vorgang, wie tief Europa derzeit | |
gespalten ist. Genau das wiederum zeigt Karin Beier. Ihre Regie ist ein | |
Abgesang an den eh schon nekrophil vor sich hin vegetierenden Kontinent. | |
Ein Panoptikum abendländischer Luxuskultur stolziert übers Deck des | |
Traumschiffs „CS Europa“. Ein Orchester will zur Seebestattung ihres | |
verstorbenen Dirigenten dessen Opus magnum „Human Rights Nr. 4“ aufführen, | |
was zur hasserfüllten Generalabrechnung aller mit allen gerät. | |
Egomaniedämmerung. | |
Träg gewordene Einsamkeitskörper präsentieren teilweise in Slapstickmanier | |
eine Monstrositätenschau der Eitelkeiten: Typen-Comedy als Hochkulturspott. | |
Frei von dramaturgischer Stringenz und psychologischer Entwicklung. Bis | |
schließlich die Totenasche über die Bühne ins Publikum staubt und | |
Scherzkekse dazu gereicht werden. So zerstreut kenne man den Maestro gar | |
nicht … Aber Rettung naht der zu Tode amüsierten Gesellschaft: Das im | |
Mittelmeer kreuzende Schiff nimmt gekenterte Flüchtlinge auf. Das ist schon | |
bei Fellini so. | |
Bei Karin Beier sind es Afrikaner, die bisher auf Kampnagel und am Theater | |
Bremen die Performances von Gintersdorfer/Klaßen mitgestaltet haben. Nun | |
mischen sie in direkter Publikumsansprache die europäische Depression mit | |
allem auf, was Afroklischees hergeben: Fröhlichkeit, Humor, Tanz, Erotik … | |
Das Schauspielhaus wollen sie auch gleich übernehmen – nur noch | |
Publikumswünsche spielen, also klassisch adrette Klassiker ohne Nackte. | |
In einer Art Lecture Performance werden schließlich | |
Degenerationserscheinungen unserer Kultur an der Psychopathologie | |
derjenigen Menschen festgemacht, die nicht mit ihresgleichen, sondern | |
lieber mit Hunden oder Katzen ihr Dasein verbringen, also mit Lebensmitteln | |
– derart würde ja andernorts solches Getier funktionalisiert. | |
Wie ein Tribunal über die Willkommenskulturshow entwickelt sich der Abend, | |
zeigt gefühlte Zuneigung, gespielte Solidarität – und dann gleich die | |
Behauptung, man habe das komplette Kreuzfahrtschiff gebucht, also auch das | |
Sagen. Zusammen singen und tanzen ist prima, abgelegte Kleidung spendieren | |
selbstverständlich. Auch werden im Publikum geschnorrte Handys verschenkt, | |
damit die Afrikaner das auf ihrem Kontinent unter ausbeuterischen | |
Bedingungen abgebaute Coltan zurückbekommen. | |
Aber dann ist auch gut, dann möchte die gelangweilte Überflussgesellschaft | |
wieder unter sich sein. „Wenn ich euch jetzt meine Kabine überlasse, werdet | |
ihr früher oder später das ganze Schiff haben wollen!“ Es gibt nur noch | |
Lippenbekenntnisse gegen die Abschiebung. Denn „es gibt auch ein Recht auf | |
Überforderung“. Was Lina Beckmann zum Anlass einer hasserfüllten | |
Publikumsbeschimpfung nimmt. Wechselt aber sofort die Rolle und behauptet: | |
Der ganze Abend sei nur ein „Integrationstraining Deutschland – Afrika“ | |
gewesen. | |
Das ist der Clou: das ständige Hin und Her von pro und contra | |
Flüchtlingsaufnahme – angesichts all der Missverständnisse, Ressentiments, | |
kollektiven Ängste und dem durchaus ernsten Bedürfnis, helfen zu wollen. | |
Groß denken, klein handeln. Rat- wächst sich zu Hilflosigkeit aus. Kippt in | |
Selbsthass: „Auf dem Sonnendeck sind wir alle Humanisten.“ Nicht schön. | |
Aber vielleicht Stand der Dinge. Die Polarisierung zu beschreiben, dafür | |
ist Theater da. | |
11 Dec 2015 | |
## AUTOREN | |
Jens Fischer | |
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