# taz.de -- Schlagloch Terror in Mali: Selbstverliebte Opfer | |
> Beim Anschlag auf das Radisson Blu in Bamako wurden keine Franzosen | |
> getötet. Der Terror bedroht vor allem die Lebensweise von Maliern. | |
Bild: Schwer bewaffnete Soldaten vor dem Radisson Blu in Bamako. | |
Vielleicht muss man die Geschichte vom Radisson Blu doch anders erzählen. | |
Erinnert sich jemand? 20. November, Bamako, Mali. Angriff auf das Hotel | |
Radisson Blu, versuchte Geiselnahme. Am Ende 22 Tote und die Behauptung: | |
Dies war ein weiterer Anschlag auf Frankreich – eine Woche nach den | |
Massakern von Paris. Denn Frankreich kämpft in Mali gegen den Terror, | |
kämpft für den Westen, sprich: für unsere freiheitliche Lebensweise. | |
Könnte es sein, dass sich alles anders verhält? Könnte es sein, dass ein | |
Anschlag in Mali zunächst einmal ein Anschlag auf die Malier ist und ein | |
Angriff auf ihre Lebensweise, nicht auf unsere? Entwickeln wir also | |
versuchsweise ein anderes Narrativ, entlang bisher bekannt gewordener | |
Fakten. | |
Es war kein Franzose unter den 22 Toten vom Radisson Blu. Die Ausländer | |
unter den Opfern verteilten sich wie folgt: sechs Russen, drei Chinesen, | |
zwei Belgier, je ein Amerikaner, Israeli, Senegalese. Sechs Opfer waren | |
Malier. Zu Tode kamen auch die beiden Angreifer, ebenfalls Malier. | |
## Die antifranzösische Spur | |
Manche Medien bezeichneten das Radisson Blu als ein Luxushotel, es läge in | |
einer Zone von Botschaften und Ministerien. Wer Bamako nicht kennt, mag | |
sich vorgestellt haben, die Täter seien in einen Hochsicherheitsbereich | |
vorgedrungen. Tatsächlich ist in Mali das normale Leben mit seinen | |
Lehmgassen immer gleich um die Ecke – noch ist es jedenfalls so. Ein paar | |
Gehminuten vom Radisson Blu entfernt befindet sich das bescheidene Büro von | |
Malis Hohem Islamischem Rat, dessen Vorsitzender Besuchern den Weg so zu | |
erklären pflegte: am Radisson Blu rechts. | |
Was bisher über die Täter bekannt wurde, passt wenig zum Medienbild vom | |
professionellen Anschlag mit der Handschrift al-Qaidas. Den malischen | |
Ermittlern zufolge waren die zwei im Radisson Blu erschossenen Männer die | |
einzigen Angreifer; zwei junge Malier, die zuletzt in einem Viertel im | |
Osten Bamakos wohnten. Zwei weitere Verdächtige wurden verhaftet; die heiße | |
Spur bestand darin, dass einer von ihnen einem Angreifer einen | |
Telefonkredit aufs Handy geschickt hatte. So wird heutzutage in armen | |
Gesellschaften Geld transferiert. | |
Nach dem Angriff auf das Radisson Blu reklamierten zwei Gruppen die Tat für | |
sich. Die westlichen Medien nannten nur al-Murabitun, eine Al-Qaida-nahe | |
Zelle, von einem Algerier geführt. Dieser Name war Journalisten bereits | |
geläufig; außerdem passte er ins Narrativ vom antifranzösischen Charakter | |
des Anschlags. Was man heute über dessen Ablauf weiß, macht jedoch die | |
zweite Selbstbezichtigung glaubwürdiger. Ihre Urheber sind Einheimische, | |
und die Spur dieser Miliz führt uns mitten hinein in die jüngste malische | |
Tragödie. | |
## Örtliche Milizen | |
Die Massina-Befreiungsfront besteht aus jungen Kämpfern, die zur Ethnie der | |
Peulh gehören, ein halb nomadisch lebendes Hirtenvolk. Massina war im 19. | |
Jahrhundert ein islamisches Reich im Gebiet des heutigen Zentralmali, von | |
Peulh gegründet. Den alten Namen zu verwenden, erinnert die Hüter magerer | |
Rinder an einstige Glorie; dazu kommt der ideologische Sud, den ein paar | |
radikale Prediger verbreiten. Die Miliz der Hirten ist ein neues Phänomen. | |
Ihre Kämpfer, auf bloße 170 geschätzt, fahren bewaffnet auf Mopeds durch | |
staubige Dörfer und verbreiten die Botschaft: Wer nicht für uns ist, ist | |
gegen uns; und wer gegen uns ist, ist ein Kafir, ein abtrünniger Muslim. | |
Örtliche Autoritätspersonen werden vertrieben, Kasernen der Armee | |
angegriffen. Parlamentarier trauen sich kaum mehr in die Gegend. | |
Allerdings wurde ein Anführer der Miliz jüngst verhaftet; der Angriff auf | |
das Radisson Blu könnte die Rache gewesen sein. Was genau am jenem 20. | |
November geschah, werden wir nie erfahren. Die Berichterstattung über | |
Terrorakte besteht zumeist aus ideologisch gefälligen Zuschreibungen. Die | |
Realität im leidgeprüften Mali passt dort nicht hinein. | |
Bei Spiegel Online war nach dem Attentat zu lesen: „Blutige Kämpfe gehören | |
in Mali seit Jahren zum Alltag.“ Ein Satz wie ein Fußtritt; er befördert | |
ein ganzes Land in den Orkus. | |
Tatsächlich ist Gewalt in Mali ein junges Phänomen, die Gesellschaft ist | |
nicht gerüstet dafür. Die meisten Malier sehen mit fassungslosem Schrecken, | |
dass ihr Molenbeek nun im Binnendelta des Niger liegt. Und wie der | |
westliche War on Terror in der fragilen Struktur eines Vielvölkerstaats zu | |
Verwerfungen führt, die neue Gewalt gebären. | |
Zur Illustration nur ein Detail: Steigbügelhalter der Dschihadisten, die | |
2013 den Norden des Landes besetzten, war eine säkulare Tuareg-Miliz, mit | |
der Frankreich bis heute kooperiert. Die Hirten der Peulh schufen sich ihre | |
eigene Miliz zunächst zur Selbstverteidigung gegen eben jene | |
Tuareg-Kämpfer. So komplex ist die Lage in Mali. Das Wichtigste aber ist: | |
Die „Befreiungsfront“ der Peulh entstand wie andere Milizen erst nach der | |
Intervention durch die französischen Streitkräfte – sie ist Teil des | |
politisch-militärischen Fallouts dieser Intervention. Es gibt heute, anders | |
als 2013, einen genuin einheimischen Terrorismus in Mali. | |
## Fallout der Intervention | |
In einem Bericht des malischen Geheimdienstes, den die Zeitschrift Jeune | |
Afrique kürzlich auswertete, heißt es: „Die militärischen Operationen haben | |
zu einer Zerstückelung der dschihadistischen Szene geführt […]. Die | |
terroristische Bedrohung dauert an und hat sich über die ganze Ausdehnung | |
des nationalen Territoriums verbreitet, mit neuen Gruppierungen in Zentral- | |
und Südmali.“ | |
Wie seltsam: Die wohlhabenden Gesellschaften des Westens, deren Regierungen | |
den Terrorismus zumindest zum Teil mit gezüchtet haben, gefallen sich heute | |
darin, auf Cocktailpartys von der Bedrohung ihrer Lebensweise zu reden. Den | |
armen Gesellschaften ist solch selbstverliebter Opferdiskurs fremd. Dabei | |
ist ihre Lebensweise viel mehr bedroht. Denn die Armen verlieren das | |
wenige, was sie hatten: den innergesellschaftlichen Zusammenhalt, die | |
Gelassenheit, das Laisser-faire. Das Vertrauen in den Nachbarn. | |
Statt Trikolorefähnchen brauchen wir neue Narrative. In denen Égalité | |
überhaupt wieder denkbar wird. | |
14 Dec 2015 | |
## AUTOREN | |
Charlotte Wiedemann | |
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