# taz.de -- Schlagloch weißer Feminismus: Kopftuch inklusive | |
> Säkularen weißen Mittelschichtsfrauen steht ein Besitzanspruch auf | |
> Emanzipation nicht zu. Es fehlt eine Vision von Emanzipation, die | |
> verbindet. | |
Bild: Audrey Hepburn mit Kopftuch. Um manche Kopftücher wird mehr Gewese gemac… | |
Ist zum Kopftuch alles gesagt? Nicht ganz. Es ist Zeit, den Blick auf die | |
weißen Flecken dieser Debatte zu lenken. Weiß sind die Leerstellen im | |
wörtlichen Sinn, verraten sie doch eine eurozentrische Blässe vor allem | |
jener Argumente, die feministisch daherkommen. | |
Es fehlt uns ganz offensichtlich ein zukunftstaugliches Bild der befreiten | |
Frau – es fehlt eine Vision von Emanzipation, die in der | |
Einwanderungsgesellschaft über die Grenzen von Religion, Hautfarbe und | |
Lebensstil hinweg verbindend sein könnte. Wir sind fern davon, uns auf eine | |
Vorstellung von Selbstbestimmung einigen zu können, die auf | |
unterschiedliche Weise praktiziert werden kann, ohne dass wir den Respekt | |
der jeweils anderen verlieren. | |
Heute stehen sich gleichsam zwei kleine Frauenbewegungen feindselig | |
gegenüber. Junge Musliminnen wollen mit Kopftuch ihren beruflichen Ehrgeiz | |
verwirklichen. Ältere Feministinnen (meiner Generation) sehen in ihnen die | |
Speerspitze des Rückschritts, Symbole der Unterwerfung unter | |
patriarchalische Muster. | |
Bereits zu Beginn der Kopftuch-Debatte vor zwölf Jahren habe ich dafür | |
plädiert, die Frage der Selbstbestimmung in den Mittelpunkt zu rücken – und | |
dies scheint mir weiterhin die einzig sinnvolle feministische Position. | |
In der alten Bundesrepublik war es die Debatte über die Freigabe von | |
Abtreibung, die den Begriff Selbstbestimmung erstmals populär machte. Der | |
Streit währte nahezu zwei Jahrzehnte, an seinem Ende war Selbstbestimmung, | |
soweit sie den § 218 betraf, zwar nicht Gesetz, aber in der Gesellschaft | |
doch weithin gebilligt. Akzeptiert war damit die Grundlage des modernen | |
Frauenbildes: Dass eine Frau ein für sich selbst verantwortliches Wesen ist | |
– weder ein wildes Tier, das vor sich selbst in Schutz zu nehmen ist, noch | |
ein Werkzeug des Mannes ohne eigene Stimme. | |
## Selbstbestimmung ist nicht begründungspflichtig | |
Der Kopftuchstreit ist die zweite Marathon-Debatte, die ausschließlich | |
weibliches Verhalten betrifft. Nun aber ist gerade für Feministinnen | |
Selbstbestimmung nur als Nein zum Kopftuch denkbar, nicht als ein Wert, den | |
die Kopftuchträgerin genauso für sich in Anspruch nehmen kann. Und genau | |
das versperrt den Blick in die Zukunft. | |
Denn es wird über den Charakter dieses Tuchs niemals ein anderes | |
Einverständnis geben können als dieses: Wer es tragen möchte, soll es | |
tragen dürfen – wo auch immer. Alles andere wird umstritten bleiben, | |
[1][auch innermuslimisch]. Das Tuch als „Pflicht“ zu sehen, wird durch | |
religiöse Texte nicht ausreichend gedeckt – trotzdem sind Millionen Frauen | |
weltweit dieser Ansicht. Religion ist eben keine Frage von Logik. Die | |
Verschleierung ist vielmehr Ausdruck einer weiblich-muslimischen | |
Globalisierung. So wird es noch mindestens ein Jahrzehnt bleiben und dann – | |
wer weiß? | |
Unterdessen ist es völlig korrekt, wenn Musliminnen wie Fereshta Ludin die | |
Gründe ihrer Entscheidung nicht mehr öffentlich diskutieren wollen. | |
Selbstbestimmung ist nicht begründungspflichtig. | |
Weltweit haben Frauen gezeigt, [2][wie viel Emanzipation mit Kopftuch | |
möglich ist]: Verschleierte Musliminnen wurden Regierungschefin, | |
Zentralbankdirektorin, Universitätspräsidentin, Chefärztin. Und weltweit | |
ist ebenso ersichtlich, wie [3][viel Emanzipation misslingen kann ganz ohne | |
Kopftuch]. Gerade Deutschland ist dafür ein Beispiel: gläserne Decken, | |
blockierte Aufstiegschancen, ungleicher Lohn, Quoten-Debatten. | |
## Kopftuch nur als Aufstiegsmodell suspekt | |
Uns, den säkularen weißen Mittelschichtsfrauen, steht ein Besitzanspruch | |
auf Emanzipation deshalb nicht zu. Auch nicht die [4][Arroganz, Frauen mit | |
einem muslimisch geprägten Lebensstil „Unterwerfung“ nachzusagen]. Es soll | |
Feministinnen geben, die 18 Ehejahre lang akzeptiert haben, dass Männer | |
genetisch unfähig sind, Kindersocken im Kleiderschrank zu finden. | |
Muslimische Frauen gehen, ebenso wie andere, Wege und Irrwege, und manchmal | |
ist beides erst im Nachhinein auseinanderzuhalten. | |
Suspekt ist das Kopftuch ja nur als Aufstiegsmodell. Nie hat jemand so viel | |
Gewese um die kaukasischen, griechischen, schwäbischen Großmütter mit Tuch | |
gemacht oder um die erste Generation der migrantischen Fabrikarbeiterinnen. | |
Die wirklich Unterdrückte war weniger anstößig als die Verschleierte auf | |
der Karriereleiter. Warum ist es so schwer, sich auf ein simples Prinzip zu | |
verständigen: Jede junge Frau sollte auf ihrem Weg in Beruf und Karriere | |
unterstützt werden? | |
Heute tragen selbstbewusste junge Frauen High Heels von einer Art, die wir | |
früher als Zeichen sexistischer Versklavung betrachtet hätten. Ihnen wird | |
keine „Unterwerfung“ vorgeworfen. Aktivistinnen lassen bei Protestaktionen | |
ihren Tanga sehen, wenn sie nicht gleich barbusig auf einen Altar springen. | |
[5][Das kann man fortschrittlich finden, muss es aber nicht]. Das Recht auf | |
Nacktheit ist in den westlichen Gesellschaften unbestritten; die Zeit, da | |
Entblößung einen progressiv-utopischen Gehalt hatte – Freikörperkultur, | |
Aktzeichnen – ist lange vorbei. | |
Die Kritik an der kapitalistischen Verwertung des weiblichen Körpers ist | |
heute leise geworden. Instinktiv schließen sich nichtmuslimische Frauen | |
gegen die Kopftuchträgerin lieber mit dem Kapitalismus zusammen als ein | |
Stück Religion zu akzeptieren. Warum [6][stört uns eine Werbung], die die | |
Frau zur Ware degradiert, so viel weniger als die Verhüllung, zu der sich | |
eine Frau selbst entschließt? | |
Differenz und Gemeinsamkeiten müssen in der Einwanderungsgesellschaft neu | |
bewertet werden. Ist häusliche Gewalt in muslimischen und in | |
nichtmuslimischen Familien substanziell verschieden? Und warum opfern sich | |
hier wie dort fast ausschließlich Frauen für die Pflege der Alten auf? Vor | |
allem aber: Gehen uns die Kümmernisse der „Anderen“ etwas an oder sind sie | |
nur Wasser auf unsere Mühlen der Abgrenzung? | |
Wer ohnehin gegen Moscheen ist, wird sich nicht mit Frauen solidarisieren | |
mögen, die dort für akzeptable Frauenbereiche eintreten. Und solange | |
Musliminnen bei anderen Frauen nur Missbilligung spüren, werden sie, um der | |
Islamophobie keine neue Nahrung zu liefern, ihre Benachteiligung lieber | |
kaschieren. | |
13 May 2015 | |
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## AUTOREN | |
Charlotte Wiedemann | |
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