| # taz.de -- Radfahren in Berlin: „Ich rate zum Helm“ | |
| > Unfallforscher Siegfried Brockmann über die Ursachen schwerer | |
| > Fahrradunfälle, Notbremsassistenten, Alleinunfälle und eine mangelnde | |
| > Infrastruktur. | |
| Bild: Morgens ist die Welt noch in Ordnung | |
| taz: Herr Brockmann, die Zahl der Unfälle, an denen Radfahrer beteiligt | |
| sind, nimmt stetig zu. Woran liegt das? | |
| Siegfried Brockmann: Die Zahl der Menschen, die mit dem Rad unterwegs sind, | |
| wächst ständig. Man braucht sich nur mal an eine Kreuzung in der Innenstadt | |
| zu stellen. Die Entwicklung der Infrastrukturmaßnahmen müsste mit der | |
| Radverkehrsentwicklung Schritt halten. Das tut sie aber nicht. Anders als | |
| bei Pkw-Insassen ist die Zahl der getöteten und schwerverletzten Radfahrer | |
| gleichgeblieben. | |
| Was sind bei den Todesfällen die Ursachen? | |
| Häufigste Todesursache ist eine Kollision mit einem Pkw. Am zweithäufigsten | |
| ist ein Alleinunfall. An dritter Stelle kommen die Lkws, dazu gehören die | |
| berüchtigten Tote-Winkel-Unfälle, bei denen der Fahrer rechts abbiegt und | |
| das Rad neben sich übersieht. An vierter Stelle steht die Kollision mit | |
| einem anderen Radfahrer. Generell kann man sagen: In zwei Dritteln aller | |
| Fälle ist der Pkw oder Lkw schuld. Rechnet man allerdings die Alleinunfälle | |
| hinzu, sind über 60 Prozent der Unfälle mit verletzten und getöteten | |
| Radfahrern auf eigenes Verschulden zurückzuführen. | |
| Was bedeutet Alleinunfall? | |
| Das sind zumeist Stürze ohne Fremdeinwirkung. Der Auslöser ist oft banal: | |
| ein Schlagloch, die Tasche, die am Lenker baumelt, ein Zweig in den | |
| Speichen, eine Bordsteinkante, an der man hängen bleibt. Oder man war zu | |
| schnell und hatte sein Rad nicht im Griff. | |
| Wie kollidieren Auto- und Radfahrer am häufigsten? | |
| Die häufigste Kollision verläuft annähernd frontal. Der Radfahrer kommt von | |
| links oder rechts und das Auto trifft ihn relativ in der Mitte. Dafür wird | |
| gerade die Technik des Notbremsassistenten für Pkw entwickelt. | |
| Was hat es damit auf sich? | |
| Wenn der Autofahrer nicht rechtzeitig reagiert, wird automatisch eine | |
| Notbremsung eingeleitet. Natürlich wird es solche Unfälle weiterhin geben, | |
| aber die Geschwindigkeit beim Aufprall wird geringer sein. Die Chance, heil | |
| davon zu kommen, wird dadurch größer. Allerdings dauert es bestimmt noch | |
| bis 2018, bis die Technik auf den Markt kommt. | |
| Gibt es so etwas auch für die Türen? Die Gefahr, gegen eine Autotür zu | |
| fahren, die plötzlich von innen geöffnet wird, ist ja auch sehr groß. | |
| Einige Autohersteller entwickeln gerade ein System, das den Autofahrer | |
| warnt, wenn er die Tür betätigt und draußen gerade ein Rad oder Auto | |
| vorbeikommt. Das Problem ist, dass die Tür oft sehr schnell aufgerissen | |
| wird. Der Alarm würde dann zu spät einsetzen. Der Radfahrer wäre da schon | |
| an der Tür. | |
| Welche Fehler von Radfahrern führen zu Unfällen? | |
| Radfahren in der falschen Fahrtrichtung auf dem Radweg ist mit Abstand | |
| Unfallursache Nummer eins. Autofahrer an Kreuzungen und Einmündungen | |
| rechnen nicht damit, dass jemand von der anderen Seite kommt. Auch unter | |
| den Radfahrern kommt es zu Kollisionen, wenn welche in der falschen | |
| Richtung unterwegs sind, aber auch beim Überholen. Zu Problemen führt | |
| außerdem, dass auf den Radwegen zunehmend Lastenräder und Räder mit | |
| Anhängern unterwegs sind. Die sind deutlich breiter. Auf einem Radstreifen, | |
| der in der Regel 1,50 Meter breit ist, kann man sich kaum ausweichen. Und | |
| dann kommt hinzu, dass wir im Radverkehr längst keine homogenen | |
| Geschwindigkeiten mehr haben. | |
| Stimmt. Immer mehr Leute fahren Rennrad. | |
| Wir haben sehr sportliche Radfahrer, die ohne Elektrounterstützung locker | |
| Geschwindigkeiten von bis zu 35 Stundenkilometern auf ebenen Strecken | |
| erreichen. Dazu braucht man kein Rennrad. Und diese Leute sind auf | |
| derselben Strecke unterwegs wie die Rentnerin, die 10 km/h fährt. | |
| Problematisch sind in meinen Augen die Senioren, die mit diesen Pedelecs … | |
| … also Elektro-Bikes … | |
| … in der Innenstadt herumstrampeln. | |
| Ab welchem Alter sprechen Sie von Senioren? | |
| Ab 75. Statistisch. Auch ein 50-Jähriger kann schon große Ausfälle haben | |
| und ein 80-Jähriger kann noch topfit sein. Ich will beileibe nicht allen | |
| 75-Jährigen unterstellen, sie könnten nicht mehr Rad fahren. | |
| Worum geht es dann? | |
| Der Punkt ist, dass die Senioren zumeist schon mit dem Radfahren aufgehört | |
| hatten, weil ihnen für größere Strecken bereits Puste und Muskelkraft | |
| fehlten. Mit den Pedelecs kommen sie jetzt wieder. | |
| Keine Altersdiskriminierung, bitte! | |
| Das liegt mir fern. Die überwiegende Käufergruppe von Pedelecs sind aber | |
| nun mal Senioren. Ich prangere das nicht an, das ist ja auch ein Teil der | |
| Mobilität, die wir immer fordern. Aber sie geht auch einher mit einer | |
| größeren Gefährdung für alle Beteiligten. | |
| Sollten die Schnellen nicht ohnehin besser auf Straße? | |
| Das tun die meisten jetzt schon, wenn der Platz auf dem Radweg zu eng wird. | |
| Es gibt ja auch schon etliche Radfahrstreifen auf der Fahrbahn. | |
| Fahrradfahren auf der Straße ist übrigens immer dann zulässig, wenn am | |
| Radweg nicht das blaue Hinweisschild steht. Viele Autofahrer wissen das | |
| nicht und hupen. Langfristig ist aber zu fragen, ob 1,50 Meter Breite | |
| ausreichen, wenn der Radverkehr weiter zunimmt. | |
| Wie lautet Ihre Prognose? | |
| Das Ende der Fahnenstange ist noch lange nicht in Sicht. Wenn | |
| beispielsweise parallel zur S-Bahn-Trasse Steglitz–Zehlendorf ein | |
| Radschnellweg gebaut wird, werden bestimmt viele Leute aus den | |
| Randbezirken, die jetzt noch mit dem Auto zur Arbeit in die Innenstadt | |
| fahren, aufs Rad umsteigen. Die treffen sich dann alle in der City. Das | |
| heißt, dass wir einen Radverkehrs-Anteil bekommen, für den wir überhaupt | |
| nicht gerüstet sind. | |
| Plädieren Sie als Unfallforscher eigentlich für eine Helmpflicht? | |
| Nein. Die Polizei hat wahrlich genug zu tun, um auch das noch zu | |
| kontrollieren. Ich halte es mit Artikel 2 des Grundgesetzes … | |
| … der freien Entfaltung der Persönlichkeit. | |
| Genau. Erwachsene Individuen sollen selbst entscheiden dürfen, wie | |
| gefährdet sie sein wollen. Trotzdem würde ich immer dazu raten, Helm zu | |
| tragen. Das Risiko, bei einem Unfall eine schwere Kopfverletzung zu | |
| erleiden, ist mit Helm mehr als drei Mal geringer als ohne. | |
| 18 Oct 2015 | |
| ## AUTOREN | |
| Plutonia Plarre | |
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