| # taz.de -- Kolumne Die eine Frage: Ist Kretschmann ein Fundi? | |
| > Vor der UN-Klimakonferenz in Paris: Warum das Denken für eine | |
| > sozialökologische Transformation die Richtung ändern muss. Und zwar | |
| > schnell. | |
| Bild: Winfried Kretschmann auf dem Grünen-Parteitag | |
| Wenn die Reden zu fünfunddreißig Prozent aus den Worten „liebe Freundinnen | |
| und Freunde“ bestehen. Und ansonsten daraus, wer sich niemals nicht | |
| verbiegen lässt (man selbst) und wofür man sich alles schämt (für die | |
| anderen), dann ist? Richtig: Parteitag der Grünen. | |
| Manche Rednerinnen würden sagen: Der Knallgrünen. Da dieser Typus nicht zur | |
| Selbstironie neigt, aber sehr wohl zur Wortklauberei, entgeht ihm | |
| ausgerechnet das mehrfach Problematische dieses Begriffes. | |
| Es gab in Halle an der Saale auch kluge und nachdenkliche Sätze, so ist es | |
| nicht. Cem Özdemir hat sich zwei starke Reden schreiben lassen, mit denen | |
| er sich erkennbar als wirklicher Parteichef positionieren will. Es gibt den | |
| engagierten Realitätssinn der vielen, die in Landesregierungen täglich um | |
| Fortschritt oder Bewahrung kämpfen. Und es gibt daneben immer diesen Stream | |
| of blockiertes Denken, das unverdrossen so tut, als gehe es um moralische | |
| Einsicht der anderen im Kampf der Grünen Wahrheit gegen das | |
| Relativistische. Grüne Ratzingers. Not funny. | |
| ## Ganz oben in der Böll-Stiftung | |
| Und dann kommt man in den obersten Stock des Böll-Hauses in Berlin-Mitte. | |
| Hier denkt Ralf Fücks, der Chefintellektuelle der „Grünen-nahen“ Stiftung, | |
| wie das offiziell heißt. Das ist ein frappanter Kontrast zum Parteitag. Es | |
| ist faszinierend, zu verstehen, wie die Gedanken freier und gleichzeitig | |
| präziser werden, wenn das Denken radikal seine Richtung geändert hat. | |
| Man kann den Kampf für eine sozialökologische Weltgesellschaft und gegen | |
| den Klimawandel nicht von seinem eigenen geistigen Wohnzimmer aus denken. | |
| Schon gar nicht ökopater- oder ökomaternalistisch. Das versteht man bei | |
| Fücks. Man muss ihn aus Sicht der Treiber der Weltgeschichte in den | |
| kommenden Jahrzehnten sehen. Das sind die Milliarden, die in China, Indien | |
| und in anderen Ländern in die Mittelschicht aufsteigen wollen. Und werden. | |
| Die wollen nicht downsizen. Die wollen durchstarten. Und die ganz Armen | |
| wollen nicht Strom sparen. Die wollen Strom haben. In diesem Realismus wird | |
| sogar Baden-Württembergs Grüner Ministerpräsident Winfried Kretschmann zum | |
| Fundi. Zumindest wenn man ihn auf seinen legendären Satz reduziert: | |
| „Weniger Autos sind natürlich besser als mehr Autos.“ | |
| Fücks hält es für eine Falle, in weniger oder mehr Autos zu denken. Weil in | |
| diesem Denken das Problem nicht gelöst werden kann. | |
| ## Die einzige Schraube, an der wir drehen können | |
| Aus eurozentrischer und speziell urbaner Sicht kommt man da ja gerne mit | |
| den jungen Menschen, für die das Auto kein Statussymbol mehr sei und | |
| blablabla. Was interessiert den Chinesen, wenn in Europa ein Sack Reis | |
| umfällt? Was bringt das, wenn in Deutschland ein paar hunderttausend Autos | |
| weniger rumfahren? | |
| Weltweit werden es mit dem Aufstieg der globalen Mittelschichten erst mal | |
| viel mehr Autos, Millionen und Abermillionen mehr. Und es werden viel mehr | |
| Flüge, weil das beruflich und privat ja nun mal dazugehört. Wie keiner | |
| besser weiß als wir, und was wir uns auch nicht in Paris abverhandeln | |
| lassen, wäre ja noch schöner. | |
| Demnach ist die einzige Schraube, an der man drehen kann, die Energie, mit | |
| der wir bewegt werden. Der wahre VW-Skandal besteht nicht darin, dass bei | |
| den Stickstoff- und CO2-Emissionen betrogen wurde, sondern dass es in dem | |
| System des Verbrennens von Öl überhaupt keine Lösung gibt. Dass durch eine | |
| konzertierte Aktion von Autoindustrie, Politik und Bürger das Elektro-Auto | |
| hartnäckig als Problem denunziert wird, statt es als eine Lösung | |
| entschlossen voranzubringen. | |
| Wie weit man mit der Entkopplung von Wachstum hier und CO2-Ausstoß und | |
| Stoffverbrauch dort kommt, ist eine offene Frage. Wie weit man mit | |
| moralischem Wachstum kommt, ist dagegen klar: Nirgendwohin. | |
| 29 Nov 2015 | |
| ## AUTOREN | |
| Peter Unfried | |
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