# taz.de -- Alltagsforscher übers Abendbrot: „Der ganze Tag kommt auf den Ti… | |
> Das Abendbrot kennt keine Hierarchien. Es ist die demokratische Mahlzeit | |
> schlechthin, finden zwei Alltagsforscher. | |
Bild: 155,9 Meter Abendbrot: Rekord-Essen in St. Peter Ording im Sommer 2015. | |
taz: Frau Günther, Herr Wagner, wie wird man Abendbrotforscher? | |
Ingke Günther: Das liegt eigentlich auf der Hand, wenn man sich mit | |
Alltagskultur und Kochen beschäftigt wie wir. Aber begonnen haben wir, als | |
wir 2009 nach Gravenhorst zu einem Projekt eingeladen wurden, das sich mit | |
partizipativer Kunst beschäftigte. | |
Und welche Forschung stellen Sie an? | |
Jörg Wagner: Wir begreifen das als Feldforschung: Das heißt, wir gehen vor | |
Ort und treffen Menschen, die Abendbrotkultur pflegen oder auch nur | |
Erinnerungen daran haben. Es geht darum, ins Gespräch zu kommen. Wir laden | |
ein oder werden eingeladen, am privaten Abendbrottisch Platz zu nehmen. | |
Nehmen Sie den Begriff dabei wörtlich? Abendbrot sagt man ja nicht überall | |
in Deutschland. | |
Ingke Günther: Manchmal heißt es Nachtmahl, in der Schweiz auch „Café | |
Complet“. Gemeint ist aber damit das Bild des traditionellen Abendbrots. | |
Also die kalte Mahlzeit, die mit Brot verbunden ist. Doch wenn der | |
Gastgeber warm isst, dann ist das für uns auch Abendbrot. Es ist einfach | |
ein Bild, um ins Gespräch zu kommen, über das Leben in seiner Verfasstheit, | |
Fragen nach: Wie arbeitet man? Wie isst man? Wie sieht das Essen zwischen | |
Arbeit und Freizeit aus? Das hat sich natürlich geändert. Um diese | |
Änderungen geht es uns. | |
Jörg Wagner: Was gemeint ist, wird im Übrigen überall verstanden, auch wenn | |
die Mahlzeit anders benannt wird. | |
Auch wenn das Abendbrot gar nicht mehr so alltäglich ist? | |
Ingke Günther: Es geht um Erinnerungen. Die hat eigentlich jeder. Und wir | |
stellen fest, dass Essensrituale in bestimmten Lebenssituationen | |
auftauchen, aber auch wieder verschwinden können. Studierende etwa setzen | |
sich selten zu einer bestimmten Zeit an den Tisch, aber wenn Kinder da | |
sind, kann sich das wieder ändern. | |
Was ist denn das Besondere am Abendbrot? | |
Jörg Wagner: Es ist eine Scharniermahlzeit zwischen Arbeitsalltag und | |
Freizeit. Man trifft sich, und das Ende ist offen. Beim Frühstück ist man | |
immer auf dem Sprung, mittags meist unterwegs. Im Verhältnis dazu hat das | |
Abendessen eine spezielle Qualität, die es für unsere Arbeit interessant | |
macht. | |
Ingke Günther: Das Abendbrot ist die demokratische Mahlzeit schlechthin. | |
Weil nicht einer in die Küche verbannt wird und kochen muss. Sondern die | |
Zutaten stehen auf dem Tisch, und jeder bereitet sich sein Essen selbst zu. | |
Für uns ist das auch als Künstler spannend. Denn es entstehen beim | |
Abendbrot unterschiedliche Collagen. Und weil oft zum Beispiel auch Reste | |
mit auf den Tisch kommen, ist das viel kreativer als man denkt. | |
Jörg Wagner: Man hat eine große Gestaltungshoheit über seinen Teller. Es | |
ist keine Essenszubereitung, die von Kompetenz bestimmt ist. Jeder baut | |
sich zusammen, was er mag. Da kommen auch Kinder zum Zug. Und weil es keine | |
bestimmte Menüfolge gibt, isst man recht entspannt so vor sich hin. Das ist | |
eine ziemliche gute Voraussetzung, damit der ganze Tag auf den Tisch kommt. | |
Und hier wird es für uns als Alltagsforscher interessant. | |
Wie ist denn diese Art der Mahlzeit entstanden? | |
Jörg Wagner: Natürlich ist da die brotbasierte Kultur in Deutschland | |
wichtig. Das ist anders als in Frankreich oder Italien, wo man schon lange | |
abends warm isst. Sicher hängt die Entstehung mit Arbeits- und | |
Lebensbedingungen zusammen, die sich inzwischen auch wieder ändern. In | |
Deutschland wurde lange mittags in der Kantine gegessen, abends reichte | |
kalte Küche. Aber warum das so ist, und warum es die Unterschiede zu | |
anderen Ländern gibt? Bisher ist uns dazu keine soziologische Forschung | |
begegnet. Wir können da als künstlerische Forscher nur Vermutungen | |
anstellen. | |
Was ist am Ende das Ziel? Sie haben von partizipativer Kunst gesprochen. | |
Aber handelt es sich auch um partizipative Forschung? | |
Ingke Günther: Das kann man so sagen. Es braucht manchmal nur kleine | |
Störungen, um über den eigenen Alltag nachzudenken. Sie entstehen, wenn wir | |
uns mit an den Tisch setzen. Und dann kommt das Gespräch auf bestimmte | |
Teller, bestimmte Geschmäcker oder die Wurstsorten. Und natürlich | |
dokumentieren wir am Ende auch, wenn uns bestimmte Zitate signifikant | |
erscheinen. | |
Jörg Wagner: Wir führen inzwischen auch Abendbrotkongresse durch. Da kommen | |
Menschen zusammen, die sich sonst kaum begegnen würden. Und die über das | |
Thema eine gemeinsame Gesprächsbasis finden. Das ist für beide Seiten sehr | |
spannend und führt auch zu gemeinsamen Erkenntnissen über Alltagsrituale. | |
Gibt es ein Beispiel? | |
Jörg Wagner: Nehmen wir das Endstück. Es ist das Teil, dass man unbedingt | |
haben will, wenn das Brot frisch ist, aber niemand, wenn das Brot alt ist. | |
Wir können diese Beobachtung objektivieren. | |
Dann können Sie auch sagen, ob das Abendbrot noch lebendig ist. Für mich | |
persönlich ist es eher die Ausnahme als die Regel. | |
Ingke Günther: Es hat seine dominante Rolle verloren. Das Abendbrot ist | |
eine Mahlzeit von vielen geworden. Das liegt ganz einfach daran, dass die | |
Arbeits- und Lebenswirklichkeiten sehr viel diverser geworden sind. Aber | |
bei Älteren und in Familien mit Kindern ist es doch noch die Regel. Und wir | |
stellen fest, es gibt auch wieder eine Rückbesinnung, vor allem in den | |
städtischen Milieus, überall dort, wo über neue Bäckereien jetzt wieder | |
Brotkultur entwickelt wird. | |
Dann müssen wir keine Angst davor haben, dass das Abendbrot ausstirbt? | |
Ingke Günther: Das glauben wir nicht. Dafür ist das Konzept, gemeinsam am | |
Tisch die Mahlzeit zuzubereiten und zu essen, zu bestechend. Und die | |
Bilder, die Menschen vom Abendbrot in den Köpfen haben, sind sehr lebendig. | |
16 Nov 2015 | |
## AUTOREN | |
Jörn Kabisch | |
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