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# taz.de -- Leistungskürzung und Grundgesetz: Keine unzulässige Abschreckung
> Ausreisepflichtige Asylbewerber erhalten weniger als das Existenzminimum.
> Verstößt das gegen Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts? Eher nicht.
Bild: Flüchtlinge vor der Landeserstaufnahmeeinrichtung in Karlsruhe
Karlsruhe taz | Ist es eindeutig verfassungswidrig, dass abgelehnte
Asylbewerber nur noch minimale Sozialleistungen bekommen sollen? Davon
gehen fast alle Kritiker aus – unter Verweis auf ein Urteil des
Bundesverfassungsgerichts von 2012. Wer sich unter Karlsruher Richtern
umhört, beginnt jedoch daran zu zweifeln. Am vergangenen Samstag trat das
Asylverfahrens-Beschleunigungsgesetz in Kraft, das der Bundestag Mitte
Oktober beschlossen hatte.
Wichtiger Punkt dabei: vollziehbar ausreisepflichtige Ausländer, die nicht
unverschuldet an der Ausreise gehindert sind, erhalten nur noch Unterkunft,
Ernährung sowie Körper- und Gesundheitspflege. Sonstige Leistungen erhalten
sie nur noch „soweit im Einzelfall besondere Umstände vorliegen“.
Damit sind in der Regel Leistungen des sozialen Existenzminimums (für
Telefonate, Verkehr, Medien, Kultur) ausgeschlossen. Die gleiche
Einschränkung gilt für Asylsuchende, die im Zuge der geplanten
EU-Verteilung von 160.000 Flüchtlingen einem anderen Staat als Deutschland
zugewiesen wurden.
Pro Asyl hält die Regelung für „verfassungswidrig“, da sie gegen
Menschenwürde und Sozialstaatsprinzip verstößt. Die Klagen von Flüchtlingen
will die Organisation aus einem Rechtshilfefonds unterstützen. Auch der
Deutsche Anwaltverein sprach von einem „offenen Verfassungsbruch“ und die
Grünen im Bundestag verwiesen auf „die klare Rechtsprechung des
Bundesverfassungsgerichts“.
## Urteil von 2012
Gemeint ist jeweils ein Karlsruher Urteil vom Juli 2012. Damals hatte das
Verfassungsgericht die Sätze des Asylbewerberleistungsgesetzes, die zwanzig
Jahre lang nicht erhöht wurden, für „evident unzureichend“ erklärt. Für…
Neuregelung gaben die Richter vor, dass das Existenzminimum nicht nur die
Sicherung der körperlichen Existenz, sondern auch die „Möglichkeit zur
Pflege zwischenmenschlicher Beziehungen und ein Mindestmaß an Teilhabe am
gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben“ umfassen müsse. Eine
„kurze Aufenthaltsperspektive“ rechtfertige ebensowenig eine Absenkung wie
„migrationspolitische Erwägungen“.
Ausdrücklich heißt es: „Die Menschenwürde ist migrationspolitisch nicht zu
relativieren.“ Eine Absenkung von Leistungen sei nur möglich, wenn für
bestimmte Gruppen konkret ein niedriger Bedarf nachgewiesen wird.
Dieses Urteil ist jedoch weniger eindeutig als es scheint. So stellt
Karlsruhe für die Frage, ob ein niedrigerer Bedarf besteht, nicht auf die
Begründung im parlamentarischen Verfahren ab, sondern ob sich eine
Absenkung der Leistungen überhaupt begründen lässt. Das heißt: die
Begründung könnte von der Regierung auch nach einer Verfassungsklage noch
nachgereicht werden.
Das Beschleunigungsgesetz ist also nicht deshalb verfassungswidrig, weil es
den niedrigeren Bedarf der vollziehbar Ausreisepflichtigen im Gesetzentwurf
nicht transparent herleitete. Auch macht nicht jede migrationspolitische
Erwägung das Gesetz verfassungswidrig. So ist im Gesetzentwurf der
Bundesregierung etwa davon die Rede, man wolle „Fehlanreize“ für das
Stellen von Asylanträgen reduzieren. Damit wird aber begründet, dass in
Erstaufnahme- und Gemeinschaftsunterkünften künftig in der Regel wieder
Sachleistungen statt Bargeld gewährt werden sollen.
## Nicht weniger als das Existenzminimum
Dies hat auch das Bundesverfassungsgericht nicht verboten. Es hat nur
untersagt, die Höhe von Sozialleistungen unter das Existenzminimum
abzusenken, um Flüchtlinge vor der Antragsstellung in Deutschland
abzuschrecken. Die Leistungsabsenkung für vollziehbar Ausreisepflichtige
ist aber nicht geeignet, Flüchtlinge mit rechtlich relevanten Fluchtgründen
von der Antragsstellung in Deutschland abzuhalten. Denn die
Leistungsabsenkung trifft nicht alle Flüchtlinge, sondern nur diejenigen,
deren Antrag bereits rechtskräftig abgelehnt ist und die auch sonst keinen
Abschiebeschutz erhalten haben.
Es geht hier also nicht darum, Wanderungsbewegungen nach Deutschland zu
vermeiden, sondern um die schnellere Ausreise derjenigen, die kein
Bleiberecht in Deutschland haben. Befragte Verfassungsrichter geben auch zu
bedenken, dass das Recht auf Existenzsicherung durch den deutschen Staat
nicht unbedingt schon durch die bloße Anwesenheit in Deutschland entstehe.
Wer kein Aufenthaltsrecht (mehr) habe und gefahrlos ausreisen könne, habe
möglicherweise gar keinen Anspruch auf Existenzsicherung in Deutschland.
So gesehen wäre sogar der ursprüngliche Plan von Innenminister Thomas de
Maizière verfassungsrechtlich diskutabel gewesen. Er wollte vollziehbar
Ausreisepflichtigen nur noch eine Fahrkarte und „Reisebedarf“ gewähren.
Dies hatte jedoch die SPD verhindert. Verfassungsklagen gegen das Gesetz
sind jedenfalls kein Selbstläufer, wie bisher weithin angenommen.
27 Oct 2015
## AUTOREN
Christian Rath
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