| # taz.de -- Gefährlichkeitsbewertung von Häftlingen: „Algorithmen werden mi… | |
| > Der Statistiker Barry Krisberg wollte das US-Justizsystem fairer machen. | |
| > Im Interview erzählt er, wie seine Ideen genau das Gegenteil bewirkten. | |
| Bild: „Die meisten Straftäter sind eigentlich ziemlich ungefährlich.“ | |
| Mister Krisberg, Algorithmen berechnen in den USA, wie gefährlich einzelne | |
| Häftlinge sind. Wenn man diese Entwicklung zurückverfolgt, landet man | |
| irgendwann auch bei Ihrer Forschung als Kriminologe aus den Achtzigern und | |
| Neunzigern. Dabei gelten Sie doch als Gegner solcher Algorithmen. | |
| Barry Krisberg: Kennen Sie den Blues-Sänger Ray Charles? | |
| Klar. | |
| Mein Lieblingssong von Ray Charles heißt: „Look, what they‘ve done to my | |
| song, Ma” Mama, schau dir mal an, was die mit meinem Lied gemacht haben! | |
| Genauso geht es mir und so dürfte es auch Kollegen wie James F. Austin | |
| gehen. Was haben die nur mit unserem Song angestellt? | |
| Ja, was? | |
| Wir haben uns dieses kleine Programm ausgedacht, das ganz okay | |
| funktionierte. Seitdem hat es sich entwickelt – in unterschiedlichste | |
| Richtungen. Es wurde immer schlimmer. | |
| Vielleicht beginnen Sie mal ganz am Anfang. Mit Austin schrieben sie das | |
| Buch „Die Neuerfindung des Jugendstrafrechts”. | |
| Wir wollten Risikoschätzungen ins Justizsystem bringen, damit es fairer | |
| wird. Wir konnten damit nämlich zeigen, dass die meisten Straftäter | |
| eigentlich ziemlich ungefährlich waren. Wir wollten herausfinden: Bleibt | |
| jemand sauber, wenn man ihn auf Kaution rauslässt? Wer würde zur Anhörung | |
| erscheinen? Wer ein Verbrechen begehen? Uns war klar, dass die große | |
| Mehrheit straffrei bleiben würde. Deshalb haben wir uns überlegt: Wenn wir | |
| diese Einsicht möglichst groß machen, werden viele der Gefangenen | |
| freigelassen. Wir zogen also von Bewährungsbehörde zu Bewährungsbehörde, | |
| von Richter zu Richter, um zu zeigen, dass viele Häftlinge ungefährlich | |
| sind. | |
| Wie haben Sie das berechnet? | |
| Das war ganz simpel. Die einzigen Faktoren, die wir einbezogen haben, waren | |
| die Schwere des Verbrechens, die Anzahl früherer Verurteilungen und das | |
| Alter, in dem jemand den ersten Kontakt mit dem System hatte. Das waren die | |
| aussagekräftigsten. Zu den anderen zählten: Drogenabhängigkeit, familiärer | |
| Hintergrund. Unsere Philosophie war: Die Leute sollten allein nach der | |
| Schwere ihrer Tat verurteilt werden. Wir wollten nicht ihren Charakter und | |
| auch nicht ihre Herkunft beurteilen. Das war die Idee. Dann ging alles den | |
| Bach runter. | |
| Erzählen Sie! | |
| Ob jemand ein Drogenproblem hatte, war nicht besonders aussagekräftig. In | |
| der Hälfte der Akten fehlten diese Daten sogar. Die Behörden waren da nicht | |
| so hinterher. Wir wollten, dass die Leute im Gefängnis und die auf | |
| Bewährung bestimmte Dienste angeboten bekommen, nach möglichst objektiven | |
| Kriterien. Wir entwickelten also, und das war unser fataler Fehler, | |
| Instrumente, die die Bedürfnisse der Gefangenen ermitteln sollten. | |
| Aha. | |
| Wir wiesen dabei aber explizit darauf hin, dass diese Instrumente niemals | |
| für Gerichtsurteile oder Bewährungsentscheidungen verwendet werden sollten. | |
| Es ging lediglich darum, dass ein Bewährungshelfer alle wichtigen Faktoren | |
| einbezog, wenn er einen Fall ansah. Wir wollten, dass Fälle ganzheitlich | |
| betrachtet werden. Plötzlich gingen aber viele davon aus, dass unsere | |
| Instrumente, die die Bedürfnisse der Häftlinge ermitteln sollten, | |
| irgendwelche Vorhersagekraft hätten. Dafür gibt es nur überhaupt keinen | |
| Hinweis. | |
| Aber haben Sie nicht selbst gesagt, dass sich manches mit klassischen | |
| Faktoren gut vorhersagen lässt? | |
| Wenn Sie sich die ausgefeiltesten Langzeitstudien ansehen – und die gibt es | |
| nur für Jugendliche – dann erklärt die beste von ihnen 20 Prozent eines | |
| Ausgangs. 80 Prozent sind absolut zufällig. Bei 80 Prozent der Fälle hat | |
| keiner eine Ahnung, was da los war. Und das ist die beste Studie, über | |
| mehrere Jahre, eine riesige Stichprobe. Irgendwann fing jedenfalls jemand | |
| an, diese Instrumente für Vorhersagen über künftige Kriminalität zu | |
| missbrauchen. Einfach so. Von da an wurde es immer schlimmer. | |
| Inwiefern? | |
| Kriminologen betrachteten nicht mehr nur die Bedürfnisse. Sie kamen | |
| plötzlich mit irgendwelchen Persönlichkeitsfaktoren daher. In vielen dieser | |
| Instrumente, die ja mittlerweile oft von privaten Firmen vertrieben werden, | |
| liegt der Fokus jetzt sehr stark auf Persönlichkeitstypen. Das basiert auf | |
| Studien des RAND Institutes, einer amerikanischen Denkfabrik. Das RAND | |
| Institute setzte die Idee einer kriminellen Persönlichkeit in die Welt. Die | |
| Idee also, dass es verschiedene kriminelle Persönlichkeitstypen gibt und | |
| dass Verbrechen gewissermaßen aus Denkfehlern entstehen. Kriminelle haben | |
| demnach eine verkorkste Logik. Man muss also nur prüfen, wie schlimm die | |
| Denkfehler sind und dann entsprechend reagieren. Dann kamen andere | |
| Wissenschaftler auch noch mit kriminogenen Faktoren an. Ich habe keine | |
| Ahnung, was das sein soll. Verbrechen und Verbrecher sind so | |
| unterschiedlich, dass es lächerlich wäre, sich irgendwelche kriminogenen | |
| Faktoren auszudenken. Glauben die wirklich, ein Wall Street-Händler und ein | |
| drogenabhängiger Autodieb hätten denselben Denkfehler? Das ist Quatsch. | |
| Grundsätzlich geht es aber erst einmal um die Einschätzung von Risiken. | |
| Das ist Versicherungslogik, angewandt auf das Justizsystem. Es gibt aber | |
| keine wissenschaftliche Evidenz, die das irgendwie stützt. Kennen Sie die | |
| Idee der großen Lüge? | |
| Die wäre? | |
| Wenn Sie eine Sache nur oft genug wiederholen, werden die Leute es schon | |
| glauben. Wenn Sie also genug Marketing betreiben, brav zu all den | |
| wissenschaftlichen Konferenzen gehen und in Zeitschriften publizieren, | |
| nimmt das nach einer Weile ein Eigenleben an. Wenn Sie mich fragen: Die | |
| meisten dieser Instrumente sind absolut wertlos. Hätte ich was zu sagen, | |
| ich würde sie alle restlos streichen. Aus soziologischer, aus statistischer | |
| Perspektive lässt sich vor allem eins sagen: Am besten lässt sich künftiges | |
| Verhalten vorhersagen, wenn man das aktuelle Verhalten betrachtet. Hält | |
| sich jemand an die Regeln? | |
| Im Gefängnis gelten allerdings andere Regeln als draußen. Wie | |
| aussagekräftig kann das Verhalten drin dann sein? | |
| Es hat sich mittlerweile ja eine ganze Industrie entwickelt. Die Leute | |
| haben kapiert, dass sie aus diesen Instrumenten ein Produkt machen können, | |
| mit Copyright drauf. Manchmal ist das wirklich die reinste Abzocke. Wenn | |
| Sie eines dieser Produkte nutzen, Yasi etwa, für Jugendstraftäter, zahlen | |
| Sie für jeden einzelnen Fall. Wie bei Apple Music kauft man also kein | |
| Produkt, man erwirbt lediglich das Recht, es zu nutzen. | |
| Ihren Kollegen zufolge sind die Ergebnisse statistisch betrachtet | |
| verlässlich. | |
| Die Statistik an sich zweifle ich auch gar nicht an. Wenn Sie Regressionen | |
| rechnen, heißt das doch einfach nur: Je mehr Variable ich hinzufüge, | |
| Verhalten im Knast, Teilnahme an Programmen, Verhältnis zur Familie, desto | |
| näher komme ich der Vorhersage eines individuellen Falles. Der Kern des | |
| Problems ist doch aber: Die Variablen selbst sind völlig unzulänglich und | |
| inakkurat. Wenn Sie sich die Akten ansehen, grauenhaft! Keine psychischen | |
| Faktoren, man weiß nichts über die Süchte der Häftlinge, fast nichts über | |
| ihre Ausbildung. Es fehlen also die Daten, um dem Einzelfall gerecht zu | |
| werden. | |
| Warum kaufen dann alle solche Programme? | |
| Das wurde wirklich aggressiv vermarktet, bei Richtern und | |
| Bewährungsbehörden. Eine Spur Naivität ist vermutlich auch dabei. Alle | |
| wollen das neueste Produkt auf dem Markt kaufen. Es verschafft einem | |
| außerdem politische Deckung. Wenn ich Sie als Vorsitzender einer | |
| Bewährungsbehörde freilasse und Sie stellen etwas an, dann ist das mein | |
| Fehler. Aber wenn Sie einem Computer die Entscheidung überlassen, ist der | |
| Computer schuld. Es gibt also auch einen politischen Antrieb, das zu | |
| fördern. Man kann sich dahinter verstecken. | |
| Viele kritisieren außerdem, dass diese Algorithmen die Diskriminierung | |
| Schwarzer fortsetzen, selbst wenn der Faktor Race gar nicht offiziell | |
| verwendet wird. | |
| Lassen Sie mich mal was zu Race sagen: Jeder Wissenschaftler wird Ihnen | |
| versichern, dass das ein völlig unbedeutender Faktor ist. Race ist eine | |
| Funktion von sozialer Klasse, Ökonomie, von kulturellen Mustern, diverseste | |
| Dinge fließen da ein. Race in Berechnungen zu verwenden, wäre also ein | |
| wirklich grobes Konstrukt. Wir haben für eine Studie mal Akten untersucht, | |
| um herauszufinden, wie akkurat die ethnischen Zuweisungen waren. Können Sie | |
| alles wegschmeißen! Gerade wenn in einem Viertel Asiaten und Latinos | |
| nebeneinander leben. Da ordnete dann ein Polizist die Leute irgendeiner | |
| Rasse zu. Was er ja gar nicht kann. Völliger Irrsinn. Als wir dann die | |
| Zuordnungen mit den Selbstbeschreibungen der Leute verglichen, gab es so | |
| gut wie keine Treffer. Kambodschaner erschienen als Latinos, Philippinos | |
| noch stärker, weil die manchmal spanische Nachnamen haben. Schwarze | |
| ploppten in allen Kategorien hoch. Eine absolut willkürliche Veranstaltung. | |
| Das ist aber nicht alles. | |
| Nein? | |
| Die Algorithmen bestrafen Leute besonders hart, die bei ihrer Tat sehr jung | |
| waren und ein schweres Verbrechen begangen haben. Das Alter bei der ersten | |
| Tat ist ein enorm mächtiger Faktor in den Gleichungen. Die Rückfallquote | |
| sinkt nämlich, je älter man wird. Ein 16-Jähriger kann so wie ein | |
| Erwachsener verurteilt werden. Dem hilft ein Algorithmus überhaupt nicht. | |
| 23 Oct 2015 | |
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| Johannes Gernert | |
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