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# taz.de -- Berechnung des Alltags: Wir sind Algorithmen-Zombies
> Algorithmen steuern uns alle fern. Sie bestimmen Entscheidungen, ohne
> dass wir es merken, und machen uns so manipulierbar.
Bild: Wir sind alle ferngesteuert – auf die eine oder andere Weise
Berlin taz | „Wir sind zunehmend ferngesteuert“, schreibt Dirk Helbing.
Viele Entscheidungen, die Menschen treffen und die sie für ihre eigenen
halten, „sind längst von Algorithmen vorherbestimmt“. Klingt weit
hergeholt? Ist es aber nicht.
Dirk Helbing veröffentlichte seine Position nicht etwa im Yps-Heft, sondern
in der aktuellen Ausgabe von Science, einer der angesehensten
Wissenschaftszeitschriften der Welt. Auch ist Helbing kein
Verschwörungstheoretiker, sondern Leiter des Bereichs Computational Social
Science (so eine Art Informatik der Gesellschaft) der ETH Zürich – einer
der besten Universitäten Europas.
„Personalisierte Informationen, Empfehlungssysteme und die dahinter
stehenden Algorithmen ermöglichen eine Fernsteuerung unserer Handlungen
durch reflexhafte Reaktionen. Das hebelt bewusstes Entscheiden weitgehend
aus“, sagt er.
In seinem Beitrag für die Nature bezieht er sich etwa auf China. Das Regime
führt dort ein Ratingsystem ein, das anhand des Surfverhaltens den Zugang
der BürgerInnen zu bestimmten Berufen regelt. Mit einer Punktzahl, die den
Personalausweis ergänzt. Wer die falschen Seiten aufruft oder auch nur
digitalen Kontakt zu den „falschen“ Menschen pflegt, wird für berufliche
Positionen gesperrt oder von Reisezielen ausgeschlossen.
## Suchmaschinen steuern Wähler
Algorithmen sind also längst das probate Mittel einer kybernetischen
Menschensteuerung. Ist alles nur in merkwürdigen Staatsformen möglich? Von
wegen. NSA, globale Überwachung, Big Data.
Anhand von Massendaten lässt sich Verblüffendes prognostizieren:
menschliches Verhalten etwa. Versicherungen können sehr genau mögliche
Krankheiten vorhersagen. Das LKA München setzte Algorithmen ein, um
Verbrechen zu identifizieren, bevor sie geschehen. Der Algorithmus von
Facebook sortiert, was deren NutzerInnen sehen und was nicht.
Im Sommer 2014 veröffentlichte der Konzern die Ergebnisse eines
Menschenexperiments. Facebook war es gelungen, den Gemütszustand von
689.000 Usern positiv wie auch negativ durch eine Variation des Algorithmus
fernzusteuern. Unbemerkt, denn die User wurden erst im Nachhinein
unterrichtet. Die weltweite Kritik war vernichtend.
Und dann gibt es ja noch diesen Konzern, der sich neuerdings – „im Anfang
war das Wort“ – Alphabet nennt: Google. Der Verhaltenspsychologe Robert
Epstein beschrieb kürzlich, wie durch unbemerkte Variation der
Google-Algorithmen Wahlen bereits heute entschieden werden. Er nennt das
den „Suchmaschinen-Manipulations-Effekt“ (SEME). Denn über 90 Prozent der
User berücksichtigen bei Google-Suchen nur die erste Seite der
Trefferlisten. Davon schauen rund 50 Prozent nur die ersten zwei
Suchtreffer an.
Marktführer von Suchmaschinen können den Ausgang der US-Präsidentenwahl
entscheiden, so Epstein. Zwanzig Prozent der unentschlossenen Wähler ließen
sich gezielt in die eine oder die andere Richtung fernsteuern. Und
unentschlossene Wähler entscheiden oft, wer gewinnt. Bei 50 Prozent aller
US-Präsidentschaftswahlen lagen die Unterschiede zwischen den Kandidaten
bei weniger als 7,6 Prozent der Stimmen.
## Lernende Maschinen
„Manipulierte Suchergebnisse sind eine Bedrohung für die Demokratie“, sagt
Epstein. Deutschland müsse seine Führungsrolle in Europa nutzen und sich
dafür einsetzen, dass Suchergebnisse bei Wahlen streng reguliert werden und
nicht dafür benutzt werden können, Wahlen zu entscheiden. Die USA
diskutieren bereits über die Regulierung von Algorithmen.
Helbing übertreibt also nicht, wenn er von einer Fernsteuerung spricht. Das
Problem ist allerdings komplizierter: Denn Algorithmen werden immer
komplexer. Sie reprogrammieren sich bereits selbst. Machine Learning nennt
sich das – oder künstliche Intelligenz.
Programmieren dient der Automatisierung von Prozessen. Die Automatisierung
der Programmierung bedeutet also eine Automatisierung der Automatisierung.
Klingt nach Niklas Luhmann und ließe sich auch als Definition von
Kontrollverlust verwenden.
3 Nov 2015
## AUTOREN
Kai Schlieter
## TAGS
Schwerpunkt Überwachung
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