# taz.de -- Nachruf auf Marvin Minsky: Der Uropa künstlicher Intelligenz | |
> Vom menschlichen Verstand hielt er nicht viel. Marvin Minsky brachte | |
> Maschinen das Lernen bei – und wurde zum Wegbereiter künstlicher | |
> Intelligenz. | |
Bild: Marvin Minsky in seinem Zuhause in Boston, April 2015 | |
„Marvin Lee Minsky, 88, verstarb am 24. Januar 2016 in Boston, | |
Massachusetts an einer Hirnblutung“, heißt es im unterkühlten Nachruf des | |
US-amerikanischen Magazins Wired. Es folgen die Namen der Eltern: Fannie | |
Reiser und Henry Minsky, Ortsmarken seiner akademischen Karriere: Studium | |
der Mathematik in Harvard, Doktor in Princeton, 1954; größte Leistungen: | |
Gründer des MIT Computer Science and Artificial Intelligence Laboratory | |
1959, und wichtigste Publikation: Perceptrons. | |
Zuletzt: „Minsky überlebte seine Frau Gloria; drei Kinder, Margret, Julie | |
und Henry Minsky“. Wenige Zeilen – das war’s. Nichts von Genie, Visionär, | |
Wegbereiter. Keine Gefühle, prosaisch, lieblos – fabriziert von einem Bot. | |
Wired beauftragt als Autor für den Nachruf einen Textroboter der Firma | |
Automated Insights, der aus Daten automatisiert Inhalt generiert – | |
sachlich, kompakt, nutzwertig. Marvin Minsky hätte dieser Nachruf gefallen. | |
Denn der freundlich kauzige Opa mit der riesigen Brille hielt den | |
Unterschied zwischen Maschinen und Menschen nur für einen temporären. | |
Nichts Grundlegendes. Eine Frage der Zeit, bis Computer so intelligent sein | |
würden wie Menschen. | |
Intellekt – so lautet das heilige Axiom der | |
Künstlichen-Intelligenz-Forscher, als deren Uropa Minsky gelten muss – | |
entspringt keinem göttlichen Odem, keinem unergründlichen Schöpfungsakt, | |
sondern ist prinzipiell erklärbar. Beschreiben lässt er sich in der | |
Universalsprache der Mathematik. Intelligenz muss in dieser Perspektive | |
künstlich herstellbar sein. | |
Die Erforschung der Künstlichen Intelligenz beginnt schon, bevor Marvin | |
Minsky mit seinen Kollegen den Begriff bei einer Konferenz 1956 in | |
Dartmouth prägt. 1943 entwickeln der Neurologe Warren McCulloch und der | |
Mathematiker Walter Pitts die „McCulloch-Pitts-Zelle“. Die erste künstliche | |
Nervenzelle, die Prinzipien ihres biologischen Vorbildes als mathematische | |
Funktion nachbildete. Sie gingen davon aus, „dass jede berechenbare | |
Funktion von einem Netzwerk von Neuronen berechnet werden kann“. Also | |
nahezu alles, was real ist. | |
## Eine Ratte namens „Snarc“ | |
Der Psychologe Frank Rosenblatt baute wenig später ein ganzes Netzwerk, das | |
als „Perceptrons“ berühmt werden sollte. Für all dies interessierte sich | |
der junge Harvard-Student Marvin Minsky. Gemeinsam mit seinem Kommilitonen, | |
dem Ingenieur Dean Edmonds, nahm er sich vor, ein künstliches Lebewesen zu | |
erschaffen. Eine Ratte, genauer genommen ein künstliches neuronales | |
Netzwerk, das das Verhalten einer Laborratte in einem Labyrinth simulieren | |
sollte. | |
Das Tier nannte er Snarc (“Stochastic Neural Analog Reinforcement | |
Calculator“). Es bestand aus 40 Neuronen, betrieben von mechanischen | |
Vakuumröhren, einem Motor und Teilen eines B-24-Bombers. Snarc interagierte | |
mit seiner Labyrinth-Umwelt und konnte aus Reizen „lernen“. Minsky war | |
nicht nur Informatiker, bevor es diesen Beruf überhaupt gab, er | |
interessierte sich auch für Psychologie. Das Vorbild von Snarc waren die | |
Tierversuche des Begründers des Behaviorismus, Burrhus Frederic Skinner, | |
der in Harvard unterrichtete und der die berühmte „Skinner-Box“ erfand: | |
einen Käfig mit einem Schalthebel, über den man Futter bekommen kann, und | |
einer Lampe. Darin eine hungrige Ratte. | |
Skinner ging davon aus, dass sich Verhaltensweisen von Lebewesen erlernen | |
lassen – durch Belohnung dieser Verhaltensweise. Mit diesem „Reinforcement | |
Learning“ brachte er beispielsweise die Ratte dazu, den Hebel nur zu | |
betätigen, wenn das Licht brannte, und Tauben dazu, eine Acht zu laufen. | |
Minsky faszinierte die Strenge von Skinners Methodik. Die „Skinner-Box“ | |
isolierte das Versuchstier völlig von allen äußeren Reizen. So ließen sich | |
Einflüsse exakt kontrollieren und kleinste Verhaltensweisen belohnen. Er | |
hatte damit einen Automaten gebaut, mit dem er Tiere programmieren konnte. | |
Minsky wendete die Methode Skinners auf seine künstlichen Laborratten an – | |
mit Erfolg. „Mehrere Ratten interagierten auch miteinander. Wenn eine einen | |
guten Weg fand, tendierten die anderen dazu, ihr zu folgen. Wir waren | |
begeistert, wie aus so einem winzigen Nervensystem so komplexe | |
Verhaltensmuster hervorgehen konnten“, so Minsky. | |
Finanziert wurde Snarc übrigens von der US-Luftwaffe, wie Minsky sorglos in | |
einem Interview mitteilte. Auch die Erforschung und Entwicklung Künstlicher | |
Intelligenz wurde von Beginn an vom Pentagon finanziert. So auch das 1962 | |
gegründete Institut für Künstliche Intelligenz in Stanford und die | |
Institute am MIT, an denen Minsky später lehren sollte. Der Weg | |
militärischer Forschungsgelder für die Entwicklung Künstlicher Intelligenz | |
ließe sich bis in das Utah Data Center der NSA verfolgen. Heute sind | |
künstliche neuronale Netze der heiße Scheiß. | |
## Autos lernen sehen | |
Ironischerweise hatte gerade Marvin Minsky diesen Forschungszweig im wirren | |
Geäst der Künstlichen-Intelligenz-Forschung in den Winterschlaf versetzt. | |
In seinem Buch „Perceptrons“ skizzierte er künstliche neuronale Netze als | |
Irrweg. Heute jedoch fließt in diesen Forschungsbereich mehr Geld als | |
jemals zuvor. Künstliche neuronale Netze machen nicht nur Investoren im | |
Silicon Valley glücklich. Weltweit pumpen Banken wie Goldman Sachs, | |
Konzerne wie Toyota, Google, Facebook oder der chinesische Suchgigant Baidu | |
Milliarden in deren Entwicklung. | |
Mathematische Funktionen können Informationen in Zahlen repräsentieren. | |
Software, die die Funktion neuronaler Netze simuliert, lernt, aus Rohdaten | |
neue Software zu generieren, die Menschen längst nicht mehr verstehen. So | |
lernen Autos sehen und autonom fahren, Smartphones sprechen und Bilder | |
erkennen, aber auch Drohnen Ziele erfassen und Roboter töten. | |
Künstliche neuronale Netze können die Inhalte von Videos sprachlich | |
beschreiben, können „sagen“, was sie „sehen“ – und entwickeln sich m… | |
exponentieller Rechenleistung (ein Smartphone ist heute schneller als | |
Supercomputer der 1990er Jahre) immer weiter. In der Medizin setzen Firmen | |
wie IBM künstliche neuronale Netze bereits ein, um Krankheiten zu | |
diagnostizieren. Sie produzieren Forschungsergebnisse und Reden für | |
Politiker. | |
Und so wie Minsky schon Snarc dazu brachte, aus den rückgekoppelten | |
Informationen mit einem Belohnungsmechanismus neue Informationen zu | |
gewinnen, die kein Mensch zuvor programmiert hatte – also: zu lernen –, tut | |
dies heute das „Deep-Q-Network“. Ein künstliches neuronales Netz der Firma | |
Deepmind, die Alphabet, dem Mutterkonzern von Google, gehört. | |
2015 gelang es dem System, in verschiedenen Atari-Spielen übermenschliche | |
Fähigkeiten zu erlangen. Ohne jede Programmierung. Das System sah wie ein | |
Mensch am Bildschirm zunächst nur einen Pixelnebel und lernte, diesen zu | |
interpretieren, verstand eigenständig die Logik der Spiele und entwickelte | |
Strategien, um sie zu gewinnen. Der Motor war auch hier eine | |
„Belohnungsfunktion“. In diesem Fall eine reelle Zahl, auf deren | |
Maximierung das System eingestellt war. „Reinforcement-Learning“ heißt | |
dieser komplexeste Ansatz der Künstlichen-Intelligenz-Forschung auch heute | |
noch. Systeme lernen völlig eigenständig – wie ein Kind. Marvin Minsky war | |
erfreut. | |
27 Jan 2016 | |
## AUTOREN | |
Kai Schlieter | |
## TAGS | |
Pentagon | |
Schwerpunkt Künstliche Intelligenz | |
Computer | |
Psychologie | |
Politikbetrieb | |
Schwerpunkt Rassismus | |
Schwerpunkt Angela Merkel | |
NSA | |
Schwerpunkt Künstliche Intelligenz | |
Schwerpunkt Überwachung | |
Schwerpunkt Überwachung | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
ChatGPT und Fachkräftemangel: KI hat Bock auf Arbeit | |
Eine neue Studie des Bundestages befasst sich mit Vorteilen des | |
Sprachgenerators. Mit ihnen will man auf den Fachkräftemangel reagieren. | |
Künstliche Intelligenz: Der drohende Daten-Kolonialismus | |
Künstliche Intelligenz (KI) wird vielfach als Lösung für zahlreiche | |
Probleme gepriesen. Doch die KI ist kein Allheilmittel, warnen Experten. | |
Fehlende Innovationen in Deutschland: Not made in Germany | |
Deutschland hinkt in der Robotik hinterher, sagen Experten. Auch bei der | |
Integration von Flüchtlingen fehlt es an pfiffigen Ideen. | |
Wertvollstes Börsen-Unternehmen: Alphabet schlägt Apple | |
Google-Mutter Alphabet hat Apple den Rang als teuerstes Unternehmen der | |
Börsenwelt abgelaufen – obwohl der Konzern in einigen Sparten hohe Verluste | |
macht. | |
Vorschlag der Großen Koalition: Datenschutz bei autonomen Autos | |
Bei computergesteuerten Autos soll es staatliche Vorgaben zum Datenschutz | |
geben. Der Bundestag diskutiert über den Vorschlag. | |
Britische und US-Geheimdienste: Israelische Drohnen ausspioniert | |
„Operation Anarchist“: GCHQ und NSA werteten nach einem Medienbericht Daten | |
israelischer Militärdrohnen aus. Das hat auch Konsequenzen für die | |
Bundeswehr. | |
Computer besiegt Mensch: Go, Google, Go! | |
Das Spiel Go galt als größte Herausforderung für künstliche Intelligenz. | |
Jetzt gelang es einem Computer erstmals gegen einen Profi-Spieler zu | |
gewinnen. | |
Künstliche Intelligenz: Professor Helbing und seine Mission | |
Dirk Helbing will mit künstlicher Intelligenz die Welt handhabbar machen. | |
Der Physiker knüpft dazu seit Jahren weltweit ein Netzwerk. | |
Berechnung des Alltags: Wir sind Algorithmen-Zombies | |
Algorithmen steuern uns alle fern. Sie bestimmen Entscheidungen, ohne dass | |
wir es merken, und machen uns so manipulierbar. | |
Künstliche Intelligenz: Mensch, gib mir deine Daten | |
Die Entwicklung künstlicher Intelligenz ist ein altes Militärprojekt. Nun | |
sprechen Forscher von einer Revolution. Gefahr oder Chance? |