# taz.de -- „Verbrechensvorhersage“ in Bayern: Algorithmen gegen Gangster | |
> Seit Oktober testet die Polizei München eine Software, mit der sich | |
> angeblich Verbrechen vorhersagen lassen. Die erste Bilanz fällt positiv | |
> aus. | |
Bild: Kriminalhauptkommissar Günter Okon ist begeistert vom „predictive poli… | |
MÜNCHEN/OBERHAUSEN taz | An einem Verkehrskreisel am Rand von Oberhausen | |
stehen Supermärkte und ein schmuckloser Zweckbau. Er beherbergt das | |
Institut für musterbasierte Prognosetechnik. Trister Ruhrpott statt Silicon | |
Valley. Dennoch kann es gut sein, dass ein Teil der Polizeiarbeit von hier | |
aus in ein neues Zeitalter katapultiert wird. | |
In der gekachelten Küche des Büros sitzt Geschäftsführer Thomas Schweer auf | |
einem Hocker und raucht. Auf dem Tisch steht eine Tasse der | |
Polizeigewerkschaft. Schweer ist kein Computer-Nerd, sondern studierter | |
Soziologe und selbstständiger Kriminologe. Jeans und Turnschuhe hat er an. | |
„Menschen hinterlassen Muster“, sagt er. „Wir suchen nach bestimmten | |
Mustern.“ | |
Diese Aufgabe übernimmt nun eine Software mit Namen Precobs: Pre Crime | |
Observation System. Das Programm berechnet mit einem Algorithmus, wo in | |
Zukunft ein Wohnungseinbruch geschehen wird. Die Polizei Zürich setzt es | |
seit einem Jahr ein. 80 Prozent der Prognosen sollen zutreffend gewesen | |
sein. Polizeibehörden aus ganz Europa rufen deswegen bei Schweer an. | |
Mehrere Bundesländer signalisieren Interesse. Nordrhein-Westfalen prüft | |
verschiedene Programme. Mitte 2015 könnte eine Pilotphase beginnen. | |
## Institut könnte bald viel Geld verdienen | |
Schweers Firma expandiert deswegen. Demnächst sollen die Analysten mit den | |
Programmierern zusammensitzen. Interdisziplinäres Arbeiten – wie in | |
Amerika. Es herrscht Aufbruchsstimmung, denn das Institut könnte bald sehr | |
viel Geld verdienen. Für das Landeskriminalamt Bayern prognostiziert | |
Precobs seit Mitte Oktober in München und Mittelfranken, wo in Zukunft | |
Einbrecher zuschlagen werden. | |
Am Mittwoch zog das Bayerische Innenministerium Bilanz: Die ersten | |
Erfahrungen seien sehr vielversprechend, sagte Innenminister Joachim | |
Herrmann: „Ich bin optimistisch, dass sich Precobs bei uns weiterhin | |
bewährt und auf ganz Bayern ausgewertet werden kann.“ | |
Kriminalhauptkommissar Günter Okon sitzt in seinem Büro in einer | |
Außenstelle des Landeskriminalamtes in München und klappt seinen Laptop | |
auf. Der Ausschnitt eines Münchener Stadtviertels erscheint, Straßenzüge, | |
ein gestrichelter Kreis, mehrere Rechtecke: grün, gelb, blau und rot. Die | |
rot markierten Flächen zeigen, wo demnächst mit hoher Wahrscheinlichkeit | |
Einbrecher zuschlagen werden. Precobs rechnet. | |
## System schlägt Alarm | |
„In Mittelfranken hatten wir vorgestern einen Treffer“, sagt Okon. Das | |
System hatte Alarm geschlagen und ein Planquadrat ausgespuckt. Die | |
Polizeistreife fuhr hin, hielt einen Wagen an und machte einen Einbrecher | |
dingfest, der zur Fahndung ausgeschrieben war. „Mustergültig“, sagt Okon. | |
Der Kommissar ist für das Dezernat 53 tätig. „Intelligence Unit of Crime | |
Analysis“, steht auf seiner Visitenkarte. Schon seit 1999 nutzt das | |
Polizeipräsidium München das „Geografische Lage-, Analyse-, Darstellungs- | |
und Informationssystem“ (Gladis). | |
Eine Software, die Geodaten verknüpft und Hot Spots, also Brennpunkte der | |
Kriminalität, identifiziert. Die Karte mit roten Fähnchen hat damit | |
ausgedient. Auch damals war Okon federführend. Mit Precobs kommt der Faktor | |
Zeit hinzu: die Vorhersage von Kriminalität. | |
Wenn Okon von Schweer spricht, klingt er voller Hochachtung. Er sagt: | |
„Doktor Schweer“. Er schätzt den Soziologen, weil der die Praxis kennt. Bei | |
einem Projekt der Deutschen Forschungsgemeinschaft begleitete Schweer | |
mehrere Jahre die Polizei in ihrem Alltag. Er war mit Zivilfahndern | |
unterwegs und verbrachte Nächte im Streifenwagen. Empirische Feldforschung, | |
bei der ihm im Jahr 2000 auffiel, dass viele Daten besser genutzt werden | |
könnten. Polizeiarbeit mit Statistik unterstützen: Die Idee von Precobs war | |
geboren. | |
## Muster wird sichtbar | |
Als Schweer noch Soziologie studierte, reagierte er wie viele seiner | |
Kommilitonen auf das Statistikprogramm SPSS: Er hatte wenig Lust, sich mit | |
diesem System zu befassen, das Sozialwissenschaftler nutzen, wenn sie Daten | |
erheben. Doch für seine Geschäftsidee war SPSS perfekt. Er fütterte das | |
Programm mit bestimmten Typen von Straftaten. | |
Dann stellte er fest, dass das „nächste Delikt zwei Tage später nur 200 | |
Meter entfernt auftrat“, sagt er. Ein Muster wurde sichtbar, das auf der | |
kriminologischen Theorie der „Near Repeats“ basiert: Bei Wohungseinbrüchen | |
schlagen die Täter unter bestimmten Voraussetzungen in der Nähe wieder zu. | |
Mit zwei befreundeten Programmierern verbrachte Schweer Abende und | |
Wochenenden mit Precobs, bis die erste Version 2009 in Duisburg vier Wochen | |
lang getestet wurde. Mit Erfolg. Okon und Schweer lernen sich bei einer | |
Tagung kennen, beide sind von dem Thema „predictive policing“ – | |
voraussagende Polizeiarbeit – begeistert. Dass so etwas funktioniert, | |
wussten sie von den Amerikanern. | |
## Echtzeitdaten von Kameras | |
Okon besuchte vor drei Jahren das LAPD, das Los Angeles Police Department. | |
Dort arbeitet die Polizei im „War Room“ mit Echtzeitdaten, die sie von | |
Verkehrs- und Überwachungskameras einspeist. „Das ist eine ganz andere | |
Nummer als bei uns“, sagt Günter Okon. Das LAPD nutzt das Programm PredPol. | |
Anfang des Jahres vermeldete der Hersteller, dass die Polizei erstmals | |
„einen Tag ohne (aufgezeichnete) Straftaten“ festgestellt habe. | |
Schon im August 2005 setzte das Memphis Police Department das Programm Blue | |
Crush des Marktführers IBM ein, um Verbrechen vorherzusagen. Nach eigenen | |
Angaben wurden bereits am ersten Tag 67 Drogendealer festgenommen. Die | |
Kriminalitätsrate soll in Memphis um 30 Prozent gesunken sein. IBM hatte | |
zuvor SPSS aufgekauft. Die Software, mit der auch Schweer sein Modell | |
entwickelte. | |
Viele US-Bundesstaaten und Städte nutzen seit Jahren diese Art von | |
Software, um aus sehr großen Datenbeständen Muster sichtbar zu machen. Big | |
Data heißt das Schlagwort, das weltweit Investoren beflügelt. | |
## Wenige Variablen für die Prognose | |
Bei Okons Precobs reichen wenige Variablen für die Prognosen: Ort, Zeit, | |
Art des Diebesgutes und der Modus Operandi, also wie der Einbruch | |
vonstattenging. Die Falldaten aller Einbrüche der vergangenen sieben Jahre | |
für München und den Großraum Nürnberg wurden eingespeist. Das entspricht | |
etwa 45.500 Delikten mit verschiedenen Variablen. | |
Täter agieren nach Kosten-Nutzen-Erwägungen, sagt Okon. Sie brechen nicht | |
ständig in Vierteln ein, wo Reiche wohnen, denn diese Gegenden sind oft | |
besser überwacht. Das Aufhebeln eines Fensters spricht für Profis, die | |
wieder zuschlagen und im Algorithmus als Muster erkennbar werden; eine | |
eingeschlagene Scheibe ist eher ein Aussschlusskriterium. „Ein | |
Anti-Trigger“, sagt Okon. | |
Deswegen funktioniert die Software nur bei Delikten, die massenhaft | |
geschehen, Kfz-Diebstahl zum Beispiel. Taten Einzelner oder impulsive | |
Verbrechen lassen sich nicht vorhersagen. Bei Okon berechnete das System in | |
der ersten Phase für jeden Tag der sieben Jahre die Wahrscheinlichkeiten | |
erneuter Einbrüche in der Nähe – auf Grundlage der Theorie der „Near | |
Repeats“. | |
## 59 Gebiete mit hoher Einbruchswahrscheinlichkeit | |
Da das Programm zunächst mit Daten der Vergangenheit rechnete, konnte | |
abgeglichen werden, ob die Prognose mit der Realität übereinstimmte. Am | |
Ende spuckte Precobs für München 59 Gebiete mit hoher | |
Einbruchswahrscheinlichkeit aus. Okon sagt: „Das war zu 98 Prozent | |
deckungsgleich mit den Gebieten, mit denen wir diese Erfahrung haben.“ | |
Alles andere hätte ihn überrascht. | |
Mittlerweile fließen aktuelle Daten ein. Die Prognosen werden in das | |
sogenannte Vorgangsbearbeitungssystem der Polizei eingespeist. Damit | |
erstellen die Analysten täglich ihre Lageberichte und koordinieren die | |
Einsätze ihrer Kollegen. „Bisher“, sagt Okon, „haben sich drei von vier | |
Prognosen bewahrheitet.“ | |
Okon und Schweer legen Wert auf eine Feststellung: „Wir verwenden keine | |
personenbezogenen Daten“, sagt Schweer. „Wir verwenden reine Falldaten“, | |
sagt Okon. | |
## Potenzielle Gefährdete erhalten Warnanruf | |
„Das ist zwar richtig“, sagt Matthias Monroy, Mitarbeiter des | |
Linken-Bundestagsabgeordneten Andrej Hunko und Experte für die | |
technologische Aufrüstung von Polizei und Militär. Er sagt, durch | |
Polizeiarbeit mit Algorithmen würden künftig Personen, die sich in | |
identifizierten Gebieten aufhalten, leichter stigmatisiert. Schwarze oder | |
junge Menschen mit Kapuzenpullover würden vermutlich eher überprüft als | |
andere. | |
Der vermehrte Einsatz von Programmen wie Precobs würde den ohnehin | |
bestehenden Effekt verstärken. Zudem gibt es die Tendenz, bestehende | |
technische Infrastruktur auszuweiten. Auch in Amerika sei der Einsatz der | |
Software zu Beginn begrenzter gewesen. | |
Mittlerweile benutzt etwa die Polizei in Chicago Daten aus sozialen | |
Netzwerken wie Facebook und Twitter. 14.000 vermeintliche Gangmitglieder | |
überwachen die Beamten so. Der Algorithmus spuckt eine Liste mit etwa 400 | |
Personen aus. Die gelten als potenzielle Gefährder und bekommen einen | |
Warnanruf der Polizei: Man möge doch bitte kein Verbrechen begehen. | |
## „Wenn Sie mal auf so einer Liste stehen...“ | |
Kriminalhauptkommissar Okon findet das bedenklich: „Wenn sie mal auf so | |
einer Liste stehen, kommen sie nie wieder runter.“ So etwas, glaubt er, | |
wäre in Deutschland nicht möglich. | |
Gibt es schon Begehrlichkeiten beim Bundeskriminalamt? „Das BKA setzt keine | |
Prognosesoftware ein bzw. führt auch keine Tests dazu durch“, heißt es auf | |
Anfrage der taz. | |
Dem Abgeordneten Hunko teilte die Behörde mit: „Das BKA hatte Kontakt zu | |
den kriminalistisch-kriminologischen Forschungsstellen des | |
Landeskriminalamtes in Nordrhein-Westfalen sowie des Bayerischen | |
Landeskriminalamtes. Ziel war die Identifikation von Ansprechpartnern sowie | |
eine erste Information zu den dortigen Planungen im Zusammenhang mit | |
predictive policing.“ Offenbar hat die Bundesbehörde durchaus Interesse. | |
Schweer hat schon weitere Pläne, wofür Precobs noch einsetzbar wäre. Die | |
bleiben aber erst einmal Geschäftsgeheimnis. | |
26 Nov 2014 | |
## AUTOREN | |
Kai Schlieter | |
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