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# taz.de -- Zweieinhalb Jahre NSU-Prozess: Nebenkläger in der Defensive
> Die Empörung über ein erfundenes Opfer im NSU-Prozess ist groß. Beate
> Zschäpe und ihre Anwälte frohlocken. Jetzt drückt Richter Götzl aufs
> Tempo.
Bild: Spuren der Verwüstung nach dem NSU-Anschlag in der Kölner Keupstraße
München taz | Wolfgang Heer fackelt nicht lange. Nachdem Richter Manfred
Götzl am Mittwoch den Prozess eröffnet, ergreift der Anwalt von Beate
Zschäpe das Mikro: Er verlange eine dienstliche Erklärung von Götzls Senat.
Wann dieser, und wie, die Prozesszulassung von Meral Keskin geprüft habe,
der NSU-Geschädigten, von der ja nun bekannt sei, dass sie nicht existiere.
Heer trägt den Antrag nüchtern vor, die Schärfe aber liegt in den Worten.
Welche „Recherchen“ der Senat unternommen habe, warum ihm „Diskrepanzen“
nicht auffielen. Gleiches, verliest Heer, müssten die involvierten
Nebenklage-Anwälte erklären.
Von den Opferanwälten der Nebenklage meldet sich Sebastian Scharmer: Einen
Anspruch auf dienstliche Erklärungen bezweifele er „ganz stark“. Dann
interveniert Heers Kollege Matthias Grasel, seit Juli vierter Anwalt von
Beate Zschäpe. Er wisse nichts von dem Antrag und bitte um Unterbrechung.
Götzl reicht‘s:Er verordnet dem Prozess eine viertelstündige Pause.
Einen Auftakt mit derartigem Schmackes – das hat es lange nicht gegeben im
NSU-Prozess. Das hat seinen Grund.
Seit 234 Prozesstagen vertreten Scharmer und 63 weitere Anwälte die 94
Nebenkläger, die Hinterbliebenen, die NSU-Opfer in dem Münchner Großprozess
gegen Beate Zschäpe und vier ihrer mutmaßlichen Helfer. Die Anwälte
befragten Zeugen, bemängelten Fragen, beanstandetet. In der vergangenen
Woche aber wies Richter Götzl gleich 14 ihrer Anträge zurück und machte
deutlich: Er will zum Ende kommen.
## Die Mandantin gibt es nicht
Und dann kam der Fall Meral Keskin. Der zweite Schlag. Opferanwalt Ralph
Willms musste zugegeben, dass er zweieinhalb Jahre unberechtigt im Prozess
saß – denn seine Mandantin Meral Keskin gibt es nicht.
Am Mittwoch sind 51 Anwälte der Opfer gekommen, fast alle. Keiner will sich
vorwerfen lassen, er sei nicht engagiert dabei. Willms‘Platz bleibt leer.
Vergangene Woche hatte Richter Götzl die Geduld verloren. Zum dritten Mal
war Willms‘Mandantin Meral Keskin geladen. Zum dritten Mal war sie nicht
erschienen. Keskin soll angeblich 2004, als der NSU eine Nagelbombe in der
von vielen Deutschtürken bewohnten Keupstraße in Köln hochgehen ließ, vor
einem Restaurant geraucht und Schnittwunden erlitten haben. So stand es in
einem Attest.
Aber das Attest war gefälscht. Es gehörte offenbar einem anderen Opfer,
Attila Ö., der auch im Prozess vertreten wird und nachweislich verletzt
wurde. Nur der Name war ausgetauscht. Willms hatte seine Mandantin nie
gesehen, nie gesprochen.
Inzwischen hat Willms sein Mandat niedergelegt. Er sei einem Schwindel
aufgesessen, teilte er mit. Atilla Ö. habe ihm Keskin vermittelt, gegen
eine Provision. Er habe behauptet, Kontakt zu der in der Türkei lebenden
Frau zu halten. Nun aber, so Willms, sei klar, dass die Mandantin
„wahrscheinlich überhaupt nicht existent“ sei. 230 Prozesstage fiel ihm das
nicht auf.
## Anwälte unter Generalverdacht
Es ist das Thema im Gerichtssaal. Nun sind wieder viele Journalisten auf
der Tribüne. Genau darunter sitzen, eng an eng, die Anwälte der Nebenklage,
also die Opferanwälte, über denen jetzt ein Generalverdacht liegt. Wollen
sie nur Kasse machen auf Kosten der NSU-Opfer?
Nicht nur Anwalt Mehmet Daimagüler musste seine Mandanten beruhigen. Er
vertritt die Nürnberger NSU-Opfer Abdurrahim Özüdogru und Ismail Yaşar.„W…
kann man in so einem Verfahren Schindluder betreiben?“, echauffiert sich
Daimagüler.
Daimagüler hat sich schon im NSU-Untersuchungsausschuss des Bundestages
vorbereitet. Er reist regelmäßig in die Türkei, um seine Mandanten zu
treffen. „Es wird ein Schatten bleiben“, sagt er. „Das ist für alle, die
sich hier seit drei Jahren abrackern, zutiefst frustrierend.“
Barbara John, Ombudsfrau der Bundesregierung für die NSU-Opfer, beklagt:
„Ich kann gar nicht ausdrücken, wie empört die Angehörigen sind über dies…
Betrug.“ John hält Kontakt zu den Familien, hilft, wo es Hilfe braucht, bei
Behördenproblemen oder Reisekosten zum NSU-Prozess. Im Fall Ralph Willms
ist auch John ratlos.
Die Verteidiger von Beate Zschäpe nutzten am Mittwoch das Momentum. Endlich
wieder die Chance zu einer Offensive. Habe die Bundesanwaltschaft, fragt
Anwalt Wolfgang Heer in den Saal, nicht schon 2013 das Attest von „Meral
Keskin“ angezweifelt? Bundesanwalt Harald Diemer hatte früher Zweifel und
könnte sich jetzt loben. Aber er stellt sich hinter das Gericht, sagt
später über Heers Antrag, dass eine dienstliche Erklärung „in der
Strafprozessordnung nirgends vorgesehen“ sei. Heer antwortet, es gehe ihm
doch nur um „Aufklärung des Sachverhalts“. Es muss die Nebenkläger
schmerzen: Die Verteidiger der seit zweieinhalb Jahren schweigenden Zschäpe
als Aufklärer.
Beate Zschäpe selbst verfolgt den Disput gelöst, stellenweise fast
belustigt. Zurückgelehnt im Stuhl, lauscht sie, grinst zwischendrin. Einmal
geht es nicht um sie.
## Ermittlungen gegen Willms
Es geht um Willms, der verteidigt sich nur noch über seinen Anwalt. Im
Prozess fiel Willms nie auf. Der umgängliche Mann aus Eschendorf in
Nordrhein-Westfalen saß 15 Jahre für die CDU im Stadtrat. Er gab das Mandat
ab – wegen der Belastung durch den NSU-Prozess.
Nun ermittelt die Staatsanwaltschaft Köln wegen Betrug, das BKA befragte
Attila Ö. Jemand hat 5.000 Euro aus dem Entschädigungsfonds der
Bundesregierung für „Meral Keskin“ kassiert. Willms droht der Verlust
seiner Anwaltszulassung, er wird Tagesgelder und Reisekosten zum Prozess
erstatten müssen, mehrere zehntausend Euro.
Zum Glück, sagen sie im Prozess, sei Willms in München so untätig
geblieben, habe nie Anträge oder Fragen gestellt. Alles andere hätte die
Zschäpe-Verteidigung wohl noch mehr beflügelt: Anfragen von einem, der gar
nicht am Prozess hätte teilnehmen dürfen.
Anwalt Scharmer will sich nicht mehr mit Willms aufhalten. Er vertritt die
Tochter des in Dortmund ermordeten Kioskbesitzers MehmetKubaşlik. Ihn
ärgert die Ablehnung seiner jüngsten Anträge durch Richter Götzl. Scharmer
hat überall in der Republik Opfer von Rechtsextremen vertreten, er gehört
zu den fleißigsten Antragstellern im Prozess.
Auf seiner Internetseite fasst er viele Verhandlungstage zusammen. Im
Prozess wollte er noch einen Dortmunder Neonazi anhören, die
Telefonüberwachung eines Thüringer V-Manns auswerten oder einer der
Mordwaffen des NSU, einer Bruni, nachgehen – Götzl lehnte es ab. Das, klagt
Scharmer, sei „alles andere als Aufklärungswille“.
Ein erstaunlicher Vorwurf, wenn man bedenkt, dass Götzl bisher mehr als 500
Zeugen befragen ließ – Neonazis, BKA-Ermittler, Urlaubsbekannte des
NSU-Trios. Im Prozess wurde sogar über Zschäpes Katzen Lilly und Heidi
gesprochen und am Mittwoch darüber, welche Rolle Neonazis namens „Monty“
oder „Storchi“ spielten.
## Viel Raum für die Nebenkläger
Das Nachhaken im Detail ist auch den Nebenklägern und Opferanwälten zu
verdanken. Immer wieder legten sie Anträge nach, baten um die Ladung neuer
Zeugen. Und Götzl lenkte mit der Zeit ein, gewährte den Nebenklägern immer
mehr Raum.
Scharmer etwa gelang es, den Brandenburger V-Mann Carsten S. in den Prozess
zu holen und den Verfassungsschützer, der S. betreute. Am Ende ließ Götzl
gar die Geheimdienstpapiere beschlagnahmen, die der Verfassungsschützer
mitbrachte. Carsten S. hatte Hinweise auf Helfer des NSU gegeben – die in
den Behörden folgenlos versickerten. Es war einer dieser Momente, in denen
klar wurde, dass die Anklage nicht ganz stimmt: Der NSU war kein isoliertes
Trio. Es gab Unterstützer, über Jahre, die Wohnungen beschafften,
gefälschte Pässe, Waffen.
Nun aber reicht es Götzl. Seine jüngste Botschaft: Wir haben genug Beweise,
um die Angeklagten zu verurteilen. Götzl steht damit nicht allein. Die
Bundesanwaltschaft drängt schon länger auf ein Ende. Die Verteidiger
Zschäpes werfen den Nebenklage-Anwälten vor, diese hätten die Anklage
längst aus den Augen verloren und würden das Verfahren „politisieren“.
Es ist der alte Disput, der wieder aufbricht: Kann dieser Prozess mehr als
nur die Verbrechen aufklären, die den Angeklagten zur Last gelegt werden?
Aber auch Ombudsfrau Barbara John betont, dass sich viele Opferfamilien
endlich ein Ende des Prozesses und ein Urteil wünschen. „Das Gericht könnte
noch drei Jahre weiterverhandeln“, sagt John, „es wird leider nicht alle
Fragen aufklären.“
Mehmet Daimagüler sieht das anders. Das plötzliche Eiltempo Götzls nennt er
„unverantwortlich“, solange es noch ernstzunehmende Spuren gebe. Sein
Kollege Sebastian Scharmer stimmt ein. Der Prozess habe bereits
nachgewiesen, dass der NSU Helfer hatte. „Da können wir doch nicht
stehenbleiben, sondern müssen dem nachgehen, wer das war.“
7 Oct 2015
## AUTOREN
Konrad Litschko
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