# taz.de -- Separatismus und Katalonien: Mehr als nur Mythen | |
> Viele Katalanen wünschen sich eine Loslösung von Spanien. Dahinter steckt | |
> neben Geschichtsbewusstsein auch die europäische Krisenpolitik. | |
Bild: Auch die Kleinen mit dabei: Unterstützer der Unabhängigkeitsbestrebunge… | |
MADRID taz | „Wir haben gewonnen“, feiert Artur Mas am Sonntagabend [1][das | |
Ergebnis der Wahlen] zum katalanischen Autonomieparlament. „Wir“, das ist | |
„Gemeinsam für das Ja“ (JxS) – eine offene Liste, auf der neben den | |
regierenden konservativen Nationalisten von Mas‘Linke sowie bekannte | |
Persönlichkeiten aus Zivilgesellschaft, Kultur und Sport angetreten waren, | |
unter ihnen Bayerntrainer Pep Guardiola. Das Sammelsurium von rechts bis | |
links hatte nur einen Programmpunkt: die Unabhängigkeit Kataloniens. | |
Nun wollen die Abgeordneten bis 2017 eine unabhängige „Republik Katalonien“ | |
errichten. „Wir haben gegen alle Widerstände gewonnen. Und das gibt uns | |
eine enorme Kraft und eine starke Legitimität, um das Projekt | |
voranzutreiben!“, ruft Mas. Die Menge antwortet mit Unabhängigkeitsrufen. | |
Der Schauplatz für die Wahlpartie war mit Bedacht gewählt. JxS feierte im | |
„Markt Born“ im Herzen Barcelonas. Hier befindet sich eine Gedenkstätte f�… | |
das, was den Katalanen als Beginn ihrer Unterdrückung durch Spanien vor 300 | |
Jahren gilt. Unter einer Markthalle wurden Ruinen zerstörter Häuser aus der | |
Belagerung Barcelonas am Ende des Erbfolgekriegs 1714 ausgegraben. Spanien | |
war bis Kriegsende eine Doppelmonarchie aus Kastilien und Aragón, das neben | |
dem heutigen Katalonien einen Großteil der Mittelmeerküste sowie die | |
Balearen umfasste. | |
Im Streit um den spanischen Thron schlug sich Kastilien auf die Seite der | |
Bourbonen, Aragón auf die der Habsburger. Die Bourbonen gewannen, Spanien | |
wurde zu einem einheitlichen Königreich. Aragón, so beklagen die Katalanen | |
bis heute, verlor seine teilweise wesentlich demokratischeren Strukturen. | |
Die Ruinen sind das Denkmal für den unermüdlichen Kampf der Katalanen, | |
Identität und Sprache zu bewahren. | |
## Moderner als das restliche Spanien | |
„Katalonien hat die Freiheit über alles geliebt“, heißt es in einem Brief | |
„An die Spanier“, den namhafte Politiker, Künstler und Intellektuelle von | |
JxS kürzlich in der Tageszeitung El País veröffentlichten, unter ihnen | |
Ministerpräsident Mas. „Katalonien hat beharrlich Widerstand gegen | |
Diktaturen aller Art geleistet“, erinnert der Text an die Zeiten unter der | |
Franco-Diktatur, als Sprache und Kultur der Katalanen unterdrückt wurden. | |
Doch was nur selten offen ausgesprochen wird: Es geht um mehr als die | |
Sprache und die Kultur. Die Katalanen sehen sich als moderner, europäischer | |
und mit mehr Unternehmergeist ausgestattet als das restliche Spanien. „Wir, | |
die katalanische Zivilgesellschaft, sind eine fortschrittliche, entwickelte | |
Gesellschaft, die es nicht nötig hat, sich auf etwas zu stützen, was im | |
Franquismus geschaffen wurde, etwas, was nur schwer zu zerschlagen ist“, | |
erklärt der bekannte Schauspieler Juanjo Puigcorbé in einem Video der | |
Katalanischen Nationalversammlung (ANC). | |
„Wenn wir weiterhin Katalanen bleiben wollen, haben wir nur eine Lösung, | |
einen eigenen Staat, der uns verteidigt“, erklärt auch Carme Forcadell, | |
Gründerin und bis Mai Vorsitzende der ANC. Das ist die Bürgerbewegung, die | |
am katalanischen Nationalfeiertag in den letzten Jahren immer wieder mehr | |
als eine Million Menschen auf die Straße brachte und die Strategie der | |
offenen Liste JxS ausgearbeitet hat. Als Beweis, dass Madrid die Katalanen | |
noch immer assimilieren will, dienen unter anderem die Verfassungsklage der | |
Partido Popular (PP) von Spaniens Regierungschef Mariano Rajoy gegen ein | |
neues Autonomiestatut aus dem Jahr 2006 sowie ein Schulgesetz, das die | |
katalanische Sprache bei der Bildung zurückdrängen will. | |
## Sparpolitik stärkt Wunsch nach Unabhängigkeit | |
Doch es sind nicht nur diese Mythen des kleinen wehrhaften Völkchens, die | |
den Wunsch nach Unabhängigkeit in den letzten Jahren haben zunehmen lassen. | |
Es ist die Krise und die Sparpolitik. „Spanien bestiehlt uns“, lautet einer | |
der wohl am meisten wiederholten Sätze von Separatisten jedweder Couleur. | |
„Katalonien stellt 16 Prozent der Bevölkerung Spaniens, produziert 20 | |
Prozent des Reichtums, bezahlt 24 Prozent der Steuern und erhält nur 10 | |
Prozent der staatlichen Ausgaben“, rechnet Lluis Pérez, Soziologe und | |
Forscher an der Universität Pompeu Fabra in Barcelona, in seinem Text, „Ein | |
Dutzend Gründe, wegen derer die Katalanen unabhängig werden müssen“, vor. | |
Mas, der ebenso wie Rajoy in Madrid Sozialleistungen kürzte und öffentliche | |
Dienstleistungen privatisierte, nutzt dieses Argument geschickt. Würde | |
Katalonien alle Steuereinnahmen behalten, wäre die Austerität nicht nötig | |
gewesen. Kein Wort darüber, dass die reichen Regionen Spaniens die ärmeren | |
unterstützen. Dies kam, so zeigen die Ergebnisse vom Sonntag, bei den | |
Wählern an. | |
Dass auch linke Politiker Mas und den Seinen trotz der verheerenden | |
Sparpolitik und unzähligen Korruptionsfällen zur Seite stehen, mag | |
verwundern. Doch dahinter steckt politisches Kalkül. Für die | |
Republikanischen Linken Kataloniens (ERC) und die Volkseinheit (CUP) ist | |
Spanien ein hoffnungsloser Fall – aber sie glauben fest daran, ein | |
unabhängiges Katalonien reformieren zu können. Sie reden von einem sozial | |
gerechteren Land, von einem Land ohne Korruption. | |
## Opfer zunehmender Verdrossenheit | |
„Die sozialen Auswirkungen der Krise wurden geschickt genutzt, um die | |
Verärgerung klassenübergreifend zu nutzen, indem sie zu einem Konflikt | |
zwischen Katalonien und Spanien gewendet wurde“, schreibt der ehemalige | |
Präsident des EU-Parlaments, der Sozialist und Verteidiger für den Verbleib | |
seiner Heimat Katalonien in Spanien, Josep Borrell. Dies dürfte nicht | |
zuletzt der Grund sein, warum auch viele Einwanderer aus dem restlichen | |
Spanien sowie deren Nachfahren für die Unabhängigkeit Kataloniens | |
eintreten. | |
Vom nationalistischen Teil des Diskurses einmal abgesehen, gleichen die | |
Argumente denen der Empörten, die 2011 überall in Spanien Protestcamps | |
einrichteten und deren politischer Ausdruck im restlichen Spanien die | |
Protestpartei Podemos ist. „Die Ergebnisse dieser Wahlen können die | |
Ankündigung einer globalen Krise unseres politischen Systems sein, Opfer | |
einer zunehmenden Verdrossenheit, als Folge der Korruption und dem Fehlen | |
eines Projekts für die Zukunft“, warnt der Herausgeber der spanischen | |
Tageszeitung El País in seinem Leitartikel am Tag nach den Wahlen in | |
Katalonien. | |
28 Sep 2015 | |
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## AUTOREN | |
Reiner Wandler | |
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