# taz.de -- Die Wahrheit: Degrowth in Duisburg | |
> Wer oder was ist eigentlich dieses Postwachstum? Eine Modellstadt am | |
> Niederrhein macht bereits heute vor, wie Zukunft geht. | |
Bild: Zukunft heute: Die Frisuren werden länger getragen. | |
Alles hört irgendwann auf zu wachsen. Palmenblätter, Giraffenhälse, die | |
Haare von Anton Hofreiter, und auch wenn es noch kaum jemand glauben mag: | |
selbst die deutsche Wirtschaft. Die deutsche Wirtschaft wird in den | |
kommenden Jahrzehnten zusammenschrumpeln wie eine alte, faltige Clementine, | |
sagen sämtliche Wirtschaftsexperten voraus. Spätestens ab 2040 steht ein | |
gewaltiges Minuswachstum ins Haus, ist die Ära des Postwachstums Realität. | |
Eine „Gesellschaft des Weniger“, wie es der Zukunftsforscher Ulrich Beck | |
nennt, oder wie es die Bild-Zeitung in einer Überschrift zart metaphorisch | |
umschreibt: „Die Pommes werden kürzer.“ | |
Wen dabei noch nicht die Panik erfasst, wird möglicherweise bei Folgendem | |
hellhörig: „Das entspricht etwa dem Wohlstand der Bundesrepublik | |
Deutschland von 1980“, steht in einem postwachstumstheoretischen Essay | |
lapidar geschrieben. | |
Das muss man sich mal vorstellen. 1980! Menschenschlangen vor gelben | |
Telefonhäuschen, Aids-Kranke in stonewashed Jeans, die fahrig am | |
Zauberwürfel drehen, sowie Dosenmilch, Modern Talking und Helmut Kohl auf | |
allen drei Kanälen! | |
## Beim Flanieren immerzu Andreas-Gryphius | |
Lässt man heute den Blick durch die boomenden, glitzernden Innenstädte von | |
Hamburg, München oder Frankfurt, natürlich am Main, schweifen, scheint das | |
fernste Zukunftsmusik, übersteigt das jede Imaginationskraft. Wie also, | |
fragt man sich, kann man sich das vorstellen? Ja, wie? | |
Duisburg, Samstag sieben Uhr früh in der Innenstadt. Duisburg, das einst | |
boomende Ruhrpottstädtchen. Duisburg, wo die Neureichen das Geld mit vollen | |
Händen ausgaben, wo die Südfrüchte aus den glitzernden Kaufhäusern wuchsen | |
und der westdeutsche Chic zu Haus war. | |
Duisburg, wo man heute beim Flanieren immerzu Andreas-Gryphius-Zeilen | |
murmeln möchte: „Was wir für ewig schätzen, wird als ein leichter Traum | |
vergehn“, unterlegt mit einer traurigen Melodei von Xavier Naidoo. | |
Duisburg, die schrumpfende Pleitestadt, das Musterstädtchen in Sachen | |
Postwachstum. Duisburg, die Stadt, wo die Zukunft genau genommen schon da | |
ist. | |
Also sieben Uhr früh in der Innenstadt: ein paar bärtige Männer in | |
abgerissenen Anoraks streifen umher, sammeln Pfandflaschen. Geschäfte | |
stehen leer, Schaufenster sind vernagelt. Eine zerrupfte, schwanzlose Katze | |
aalt sich im Dreck. Vanitas-Feeling, wohin man blickt. | |
## „Kürzer, langsamer, weniger“ | |
Aber schaut man noch mal genauer hin, kann man noch etwas anderes sehen, | |
etwas Hoffnungsvolles, Faszinierendes: Duisburg steckt nicht nur knietief | |
im Postwachstum, sondern nimmt die Herausforderung auch an. Gelebtes | |
Postwachstum! | |
Ulrich Becks Credo „Weniger ist mehr“, in Duisburg zeigt es überall Blüte… | |
Weniger Infrastruktur. Weniger interessante Kulturveranstaltungen auf den | |
Plakaten der Litfaßsäulen. Weniger Stadtreinigungspersonal. Dem aktuell | |
noch immer propagierten Erfolgsmaßstab unserer Gesellschaft – „Weiter, | |
schneller, mehr“ – setzt Duisburg, trotzig und stolz, ein „Kürzer, | |
langsamer, weniger“ entgegen. Auch die Postwachstumsmaxime „Lokale | |
Strukturen stärken“ wird allerorten sichtbar. Zum Beispiel in den | |
Katakomben der Duisburger Sozialbehörde, die mit einer eigenen | |
Schnapsbrennerei auftrumpft. | |
Auch ein weiteres Postulat der Postwachstumsgesellschaft zeichnet sich hier | |
ab: Der „Wegwerfgesellschaft“ für immer ade zu sagen und Sachen endlich | |
wertzuschätzen. Und wirklich, die Duisburger gebrauchen Sachen länger. Zum | |
Beispiel die Frisuren. Oder die Lebenspartner. Zerknitterte Paare, Arm in | |
Arm in der Fußgängerzone, vom Leben gezeichnet, aber erstaunlich guter | |
Dinge. | |
Die gute Laune ist in Duisburg allgegenwärtig, vor allem samstagmorgens 7 | |
Uhr 35 in „Rosi‘sEck“. Lachen, fröhlicher Gesang, Tanz, wildfremde Mensc… | |
liegen sich in den Armen. Denn auch das prophezeien die | |
Postwachstumstheoretiker: Die Menschen werden mit sinkendem Wohlstand | |
wieder zufriedener. Es ist, als ob Duisburg die Lebensqualität seiner | |
Bürger nicht durch die olle Kamelle „Bruttoinlandsprodukt“ bemisst, sondern | |
eher in Form eines zeitgemäßen „Bruttonationalglücks“, wie es die Regier… | |
im fernen Buthan eingeführt hat, nur angepasst an deutsche Verhältnisse: | |
Spaß + Sex + Promille + X. Und – stonewashed Jeans, Vokuhilas, Dosenmilch | |
im Cappuccino – auch die Achtzigerjahre scheinen in Duisburg, wie bereits | |
prophezeit, überaus lebendig. | |
Ja, Duisburg ist eine Stadt, die den phantasmagorischen | |
Postwachstumsvisionen großer Denker wie Ulrich Beck oder Kai Diekmann | |
verblüffend nahe kommt. Aber ist das wirklich verblüffend? Ist es nicht | |
eher so, wie manche munkeln, dass der Ruhrpott eine künstliche Modellregion | |
ist, konzipiert unter idealen Bedingungen, um die Postwachstumsära im | |
Zeitraffer herbeizuführen und anderen Städten als Vorbild zu dienen? Ein | |
Zukunftslaboratorium, eine Versuchsratte, einzig und allein zu diesem Zweck | |
erbaut? Denkbar ist es. | |
4 Sep 2015 | |
## AUTOREN | |
Ella Carina Werner | |
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