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# taz.de -- Die Wahrheit: Brigade Bumslokal
> Die Wahrheit-Frontreportage: Die kleine schleswig-holsteinische Gemeinde
> Niedermölsen sagt Nein zur Gentrifizierung und hat Erfolg.
Bild: Lieber müllig als idyllisch: Niedermölsen stinkt zum Himmel.
Ein älteres Paar in Barbourjacken schiebt in Niedermölsen, einer Kleinstadt
in Schleswig-Holstein, seine Rollkoffer vom Gleis in die Bahnhofshalle,
betrachtet den Abfahrtsplan. Schräg gegenüber liegt das „Saufeck“, eine
Kneipe, aus deren Mitte plötzlich ein dröhnender Knallfurz ertönt. Die
Männer an der Theke wiehern. „Ich sach ja: aus Speis und Trank wird Schweiß
und Gestank!“, grölt einer. „Nee. Aus Hackepeter wird Kacke später!“, e…
anderer.
Sie starren aus blutunterlaufenen Augen die Reisenden an, die spornstreichs
zurück Richtung Bahnsteig hasten. „Ganze Arbeit. Die kommen nich wieder“,
grinst Ulf Börde, Stadtrat von Niedermölsen, an der Theke und zieht das
Furzkissen unter seiner fleckigen Jogginghose hervor.
Ob Hamburg, Düsseldorf oder München – immer mehr deutsche Städte werden
Opfer der Gentrifizierung. Mietpreisspiralen drehen nach oben, geldgeile
Investoren, wohin man schaut. Längst auch in Berlin. „Da kann ich nur
sagen: Arme Säue!“, sagt Börde. „Früher war in Berlin ja mal richtig was
los. Feuchtfröhliche Nächte in Kreuzberg oder Friedrichshain … Und heute?
Hausgemachte Flammkuchen und skandinavische Kokser an jeder Straßenecke!“,
seufzt der Gentrifizierungskritiker und schüttelt wehmütig das
fettglänzende Haar. „Tja, Berlin. Verpasste Chancen. Fehler.“
Fehler, aus denen Niedermölsen gelernt hat. Niedermölsen bekämpft die
drohende Aufwertung aktiv. Börde bäumt sich auf. „Wir sagen: Mit uns nicht!
Wir sagen: Carlofts, Nil-Zigaretten und tragbare Computer sind in unserem
schönen Städtchen nicht willkommen! Wir sagen: Niedermölsen bleibt mal
schön, wie es ist! Nullachtfuffzehn, aber lebens- und liebenswert für seine
Bürger!“
Deshalb gibt es hier seit fünf Jahren die Bürgerbrigade: Fleißige Trupps,
die schichtweise an zentralen Knotenpunkten patrouillieren und jeden
anpöbeln, der neu ist. „Man muss wachsam sein“, raunt Börde und ext sein
drittes Weizen. „Jeder irr Guckende kann ein Kreativer sein, jeder
glutäugige Sakkoträger ein ausländischer Investor!“
Dann schaut er auf die Uhr, klatscht in die Hände. „Schichtwechsel!“ Und
los geht’s, im Stechschritt zu fünft Richtung Innenstadt. Übers
Kopfsteinpflaster, gesäumt von 24-Stunden-Kneipen, leeren Geschäften und
Fenstern, vor denen Bettlaken baumeln. Wer soll das hier aufwerten wollen?
„Das haben die Kreuzberger vor 15 Jahren auch gedacht“, brummt Börde, „u…
jetzt haben sie den Salat. Man muss die Zeichen der Zeit erkennen, ehe es
zu spät ist.“
## Pyramide aus Bierdosen
Niedermölsen ist gewappnet. Und alle machen mit. An Häuserwänden
Schmierereien mit den schönsten Rechtschreibfehlern („Leon, du Spasst!“).
Am Schwarzen Brett vor der Drogerie baumelt ein Zettel: „Einsamer sucht
Einsame zum Einsamen! Schnell melden unter 039 …“ Selbst die Stadtbücherei
ist mit im Boot. In den Auslagen prangen Titel wie „Endlich ohne Alkohol!“,
„Ich hör jetzt auf“ und „Seelentröster Alkohol“. „Genial, was?“, …
Börde im Vorbeieilen, „welcher Investor zieht da nicht wieder Leine?“
Niedermölsen ist konsequent. Keine Sanierungen. Kein Fahrradverleih, keine
Weißweinschorlen und keine Cafés mit gepolsterten Sitzen. „Bumslokale statt
Ben & Jerry’s – das ist unsere Devise!“, schnauft Börde, ehe sich vor dem
Einkaufszentrum KAUF EIN seine Schritte verlangsamen.
„Brigade halt!“ Der nächste Kontrollpunkt. Aus Bierdosen errichtet der
Trupp eine Pyramide. Andere Niedermölsener gesellen sich hinzu; ein paar
Arbeitslose, ein Studienrat, ein Kriegsveteran, ein paar Hausfrauen. „Unser
Ehrenamt schweißt uns zusammen. Und Spaß macht es auch!“, grinst Börde und
eröffnet das Dosenstechen.
Der Feind lässt nicht lang auf sich warten. Nach 78 Minuten taucht ein
Fremder mit Ray-Ban-Sonnenbrille und Anzug auf, blickt suchend nach links
und rechts. „Ein ausländischer Investor!“, flüstert ein Brigadist. „Ein
Hipster!“, raunt ein anderer. „Wie der guckt … als ob der hier wohnen
will!“, bangt Helga aus der Hausfrauenriege.
Börde erhebt sich, baut sich vor dem Neuling auf. „Hallo, der Herr!
Suchense was?“ – „Äh ja, den Puff ’Zur strammen Lisl‘!“ – „Ach…
lang“, brummt Börde, fast ein bisschen enttäuscht. Die Brigadisten lassen
den Eindringling ziehen.
„Der will doch nur das Gebäude aufkaufen“, wispert Helga und scharrt mit
den Pantoffeln, aber Börde winkt ab. Er sieht die Einkaufsstraße hinunter,
an der sich 1-Euro-Läden aneinanderreihen. Blickt in die staubige Ferne.
Noch ist alles beim Alten. Noch. Doch was immer auch kommen wird, was die
Zukunft bringt, aufgeben werden sie nicht.
„Das Image als Resterampe Ostholsteins werden wir auch weiterhin mit aller
Sorgfalt pflegen“, nickt Börde und kämpft mit seinem vierten Dosenbier.
„Wir haben bereits erfolgreich der Globalisierung getrotzt und dem Übergang
in die Dienstleistungsgesellschaft. Ich kann nur jede Stadt ermuntern,
aufzustehen und zu sagen: Mit uns nicht!“
17 Apr 2015
## AUTOREN
Ella Carina Werner
## TAGS
Schleswig-Holstein
Gentrifizierung
Deutschland
Duisburg
Oxfam
Papua-Neuguinea
Fotografie
Familie
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