| # taz.de -- Die Wahrheit: Hölle hinter Hyazinthen | |
| > Scripted-Reality-Formate wie „Familien im Brennpunkt“ erzählen im TV | |
| > jetzt auch von den Erziehungsproblemen des Bildungsbürgertums. | |
| Bild: Die Kinder des Bürgertums werden aufgerieben zwischen Geigenstunden und … | |
| Die Kamera zoomt auf Katharina. Die 38-jährige Redakteurin liegt im | |
| Bademantel auf dem Sofa vor dem Fernseher und stopft welke Salatblätter aus | |
| einer Plastikbox in sich hinein. Zaghaft nähern sich zwei Kinder. | |
| „Mama, spielst du mit uns Memory?“, druckst Arthur, 7 Jahre. | |
| „Was’n jetzt wieder?“, herrscht die Mutter ihn an. „Ich schau Breaking … | |
| ihr Doofis! Und jetzt geht mir aus’m Bild!“ Das verzweifelte Schluchzen der | |
| kleinen Charlotte, 4 Jahre, wird mit einem düsteren Tocotronic-Song | |
| überblendet. | |
| Seit fünf Jahren zählt „Familien im Brennpunkt“ zu den Quoten-Garanten im | |
| Nachmittagsprogramm. Nach dem Scripted-Reality-Prinzip werden dort Szenen | |
| echten Familienlebens vor der Kamera nachgestellt. Bisher entstammten die | |
| Protagonisten fast ausnahmslos der Unterschicht. | |
| „Ein Fehler“, wie RTL-Chef Frank Hoffmann inzwischen selbstkritisch | |
| einräumt. „Ein Großteil der Kinder, die heute zum Seelenklempner müssen, | |
| entstammt gesicherten Verhältnissen. Leistungsdruck, Depressionen, | |
| Magersucht – alles Mittelschichtsphänomene. Bernd Lucke, Kai Diekmann, Uwe | |
| Mundlos – alles Kinder der Mitte! Eine Tatsache, die wir nicht länger | |
| ignorieren dürfen“, sagt Hoffmann, dessen Senderfamilie sich wie keine | |
| zweite als Spiegel der Realität versteht. | |
| Das beweisen auch die RTL-Laiendarsteller, die demselben Milieu entstammen | |
| sollen, das sie vor der Kamera verkörpern. | |
| „Am Anfang hatten wir noch Bammel, dass wir nicht genug privilegierte | |
| Leutchen finden, die bereit sind, ihre Lebenswelt darzustellen“, sagt | |
| Hoffmann. Doch das Gegenteil ist der Fall: Depressive Doppelverdiener, | |
| tablettensüchtige Ärztepaare, Anwalts-Papas mit brutal muskulösen | |
| Tennisarmen und schwangere Lehrerinnen mit Weißwein-Problem stehen | |
| Schlange. Die Mitte biete nicht nur genug irres Menschenmaterial, sondern | |
| auch genug irren Stoff: „Krawallgeschichten, kaputte Einzelschicksale, | |
| familiäre Albträume … die Verwahrlosung sozial inkompetenter Menschen, die | |
| rasende Verzweiflung, die gewaltsame Eskalation – all das gibt’s auch | |
| hier!“, frohlockt der RTL-Boss, erleichtert, selbst nicht mit allzu viel | |
| bildungsbürgerlichem Background gesegnet zu sein. | |
| ## Eloquente Darsteller aus dem Milieu | |
| Vor allem Scheidungs- und Sorgerechts-Kriege seien nirgends so wortgewaltig | |
| wie hier: „Du nichtsnutziger, opportunistischer, dauervögelnder – pieps!“ | |
| „Du widerliche, geldgeile, andersbegabte – pieps, pieps, pieps, pieps, | |
| pieps.“ | |
| Glucksend zeigt Hoffmann auf seinem Tablet ein paar brandneue Szenen. Die | |
| jüngste Folge, gestern frisch abgedreht: Die Kamera bahnt sich einen Weg | |
| durch die Tür einer geräumigen Jugendstilwohnung. Schon der Flur ist mit | |
| Markenspielsachen zugemüllt. Irgendwo, unter einem Haufen Duplosteine und | |
| Lernspielzeug, kauert der kleine Finn, sechs Jahre. Aus trüben, wässrigen | |
| Augen starrt das bleichgesichtige Wunschkind in die Kamera … | |
| Gesendet werden die frischen Familiendramen erst im Frühjahr 2015, wenn die | |
| komplette Staffel im Kasten ist. Die Testzuschauer sind jedoch schon jetzt | |
| aus dem Häuschen. | |
| Gerade schwebt eine riesenhafte Pfeffermühle mit Peugeot-Mahlwerk über dem | |
| Kopf einer Architektengattin, und Miriam G., eine arbeitslose Testguckerin, | |
| haut sich vor Lachen auf die Schenkel, dass die Flipstüte hochhopst: „Ich | |
| lach mich scheckig, die sind ja noch bekloppter als wir!“ | |
| Wenn die neue Staffel ein Quotenrenner wird, will Frank Hoffmann noch höher | |
| hinaus, immer höher, und die höchsten Sprossen der gesellschaftlichen | |
| Leiter erklimmen: hinein in den Geldadel, die richtig dreckigen Erbkriege, | |
| die Sauforgien der Bayreuther Festspiele und Champagnerschlachten hinter | |
| Gartenspringbrunnen, bis alle heulend und pitschnass in den Orchideen | |
| liegen. | |
| „Familien im Brennpunkt – das sind letztlich wir alle!“, resümiert Hoffm… | |
| salomonisch, ehe er sich wieder gackernd über sein Tablet beugt, und ein | |
| schöneres Schlusswort kann es für einen journalistischen Text nicht geben. | |
| 19 Aug 2014 | |
| ## AUTOREN | |
| Ella Carina Werner | |
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