| # taz.de -- Die Wahrheit: Adjektive auf Papua-Neuguinea | |
| > Lernen von den Nachbarn: In der Südsee lebt das Volk der Yimas. In ihrer | |
| > Sprache haben sie nur fünf Eigenschaftswörter. | |
| Bild: Zukunft heute: Die Frisuren werden länger getragen. | |
| „Die schöne Gräfin strich das lange, schwarzglänzende Haar aus dem | |
| ebenmäßigen Gesicht und schlich die kalte, dunkle Treppe herab, hinab in | |
| den modrig feuchten Keller, wo ein glimmendes Funzellicht ihr flackernd den | |
| Weg wies …“ | |
| Über 10.000 Adjektive gibt es im Deutschen. Und es werden täglich mehr. | |
| Denn für jedes veraltete Adjektiv, das stirbt, werden drei neue geboren. | |
| Und wenn man doch mal denkt, das war’s, haut irgendein mittelloser | |
| Lohnschreiber ein „suboptimal“ oder „sarrazinesk“ heraus und kurbelt die | |
| Produktion wieder an. | |
| In der Sprache der Yimas, einem Völkchen von 300 Menschen in einem | |
| Seitental auf Papua-Neuguinea, gibt es fünf Adjektive: „groß“, „klein�… | |
| „gut“, „schlecht“ und „fremd“. | |
| Auch die Yimas haben ein Sozialleben. Auch sie haben Liebesbeziehungen, | |
| Familienkräche, hitzige Beziehungsgespräche, auch sie lieben und hassen | |
| sich, haben eine Zeitung und eine jahrtausende alte, reiche Poesie. Mit | |
| ihren fünf Adjektiven kommen sie wunderbar aus. | |
| Stellen Sie sich das erste Rendezvous pubertierender Yimas am Strand vor, | |
| unterm prachtvollen pazifischen Sternenhimmel. Nur er und sie und das | |
| Korallenriff, das in der Ferne glitzert. Noch ist alles in der Schwebe. Die | |
| Luft ist bis zum Platzen mit Spannung gefüllt. Jetzt beugt er sich ein | |
| wenig vor, seine Lippen öffnen sich, in seiner Stimme ein Zittern: „Wie | |
| findest du mich?“ – „Gut.“ Alles ist gesagt. Keine langwierigen | |
| Liebestiraden, und beide versinken in einen leidenschaftlichen Kuss. | |
| Betrachten Sie vor Ihrem inneren Auge einen papua-neuguineischen | |
| Staubsaugervertreter, der von Hütte zu Hütte zieht. Wie er mit geübtem | |
| Lächeln den Fuß in jede Tür schiebt, die Stimme abdimmt und raunt: „Dieser | |
| Staubsauger ist gut. Die Fremden sind schlecht. Der Nutzen ist groß – der | |
| Preis jedoch klein“, und die Hausfrau greift bewegt in die Haushaltskasse. | |
| ## Keine brutalstmögliche Aufklärung mehr | |
| Könnte man nicht verfügen, dass es auch im Deutschen weniger Adjektive | |
| gibt? Zwanzig, maximal dreißig, und das Leben in der Bundesrepublik wäre | |
| nicht mehr so, wie es bislang war. | |
| Firmenphilosophien würden über Nacht in sich zusammenbrechen. Werbetexter | |
| nutzlos herumstrolchen. Der ganze Kontaktanzeigen-Markt würde kollabieren: | |
| Tierheim-Tiere und gut situierte, vorzeigbare, vielseitig interessierte | |
| Herren blieben unvermittelbar. | |
| Auf den leer gefegten Seiten der Neuerscheinungen von Ildikó von Kürthy | |
| oder Akif Pirinçci würden einsame Kommata baumeln. | |
| Und alle Berliner Bundestagsabgeordneten hätten täglich zwei Stunden früher | |
| frei. Keine brutalstmögliche Aufklärung mehr, keine bedingungslose | |
| Solidarität und nie mehr notleidende Banken. | |
| „Gut. Groß. Gabriel!“, würde auf dem nächsten Wahlplakat der SPD prangen. | |
| Und Angela Merkels Neujahrsansprachen wären ein wenig entschlackt: „Dann | |
| bleibt Deutschland auch in Zukunft menschlich und erfolgreich“, ließe sich | |
| durch: „Dann bleibt Deutschland auch in Zukunft gut und groß“, reibungslos | |
| ersetzen. Gut so. | |
| 18 Feb 2015 | |
| ## AUTOREN | |
| Ella Carina Werner | |
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